Fluch der Götter

Lepra in Indien heute

Lepra-Situation in Indien, Dezember 2011
Lepra-Erkrankte in Indien werden oft wie Aussätzige behandelt. © picture alliance / dpa / Farooq Khan
Von Margarethe Blümel  · 02.10.2014
Auch heute noch sehen Hindus die Lepra-Krankheit als "Fluch der Götter" an. Betroffene hätten es nicht besser verdient, meinen sie. So leiden die Erkrankten vor allem auch an gesellschaftlicher Stigmatisierung.
Wie an einer Schnur aufgereiht sitzen die Bettler rechts und links vor dem Eingang zum Hanuman-Tempel im Zentrum Delhis. Die meisten der in Lumpen gehüllten Kinder, Alten und Mütter mit ihren lethargisch vor sich hinschauenden Babys haben die Köpfe in einer Geste der Demut gesenkt.
Die Erwachsenen halten den Gläubigen, die in den Tempel schreiten, ihre Bettelschalen hin. Die Kinder pressen ihre Hände immer wieder auf den Bauch, um auf ihren knurrenden Magen hinzuweisen.
Nur der Mann, der abseits von der Menge an einem Pfeiler kauert, tut nichts von alldem. Sein Kopf pendelt in einer unsteten Bewegung hin und her. Seine Hände sind zu Klauen erstarrt, rechts sind ihm zwei, links sind ihm drei Finger geblieben. Gliedmaßen, die von einer Art Pilz überzogen sind und die keine Kuppen mehr besitzen.
Das Gesicht dieses Bettlers entbehrt jeglicher Mimik. Haare, Augenbrauen und Wimpern fehlen, die Augenhöhlen sind ausgetrocknet. Der an Lepra erkrankte Mann ist blind.
Krishna Puri, Bettler: "Das ist ein elendes Dasein. Mit Dutzenden anderer Bettler sitze ich tagaus, tagein vor diesem Tempel. Wenn es hochkommt, kann ich mir am Abend vielleicht ein Fladenbrot kaufen. Ein neues Hüfttuch statt des Lumpens, den ich umgeschlungen habe? Zur Abwechslung mal ein Bad nehmen - die Ratten, Affen und die Hunde, die hier umherlaufen, haben ein besseres Leben!"
"Wer die Kuh eines Brahmanen tötet, kommt nach seinem Tod in die Hölle, wo er Hunger und Durst leidet und dann zum Fraß der Schlangen wird. Nach Tausenden von Jahren entsetzlicher Leiden kehrt er zur Erde zurück, um den Körper einer Kuh zu beseelen. Schließlich wird er als Unberührbarer wiedergeboren. Und als solcher wird er zehntausend Jahre lang mit Lepra geschlagen sein."
Dieses Zitat stammt aus der Bhagavatapurana, einer der wichtigsten Schriften der Hindu-Religionen. Die meisten Hindus haben die Passage auch heute noch verinnerlicht. Die im Fernsehen gezeigten Wiederholungen der mythischen Epen und die im Internet kursierenden Götter-Comics sorgen dafür, dass die Merksätze aus den alten Texten nicht in Vergessenheit geraten.
Auf dem Land tritt die Furcht vor der Macht der Gram Devata hinzu - die als Hüterinnen der Dorfbevölkerung angesehenen Gottheiten können ausgesprochen positive, aber auch sehr negative Aspekte in sich bergen. Die Gram Devata gelten als unberechenbar. Sie können Krankheiten auslösen, die in den Augen mancher Dorfbewohner ansonsten unerklärlich sind.
Hierzu werden vor allem Epilepsie und Lepra gerechnet. Sunil Anand von der Lepra-Stiftung "Leprosy Mission Trust India" in Neu-Delhi:
"Schon in der Bibel wird die Lepra erwähnt. Die Krankheit ist sehr alt, und man vergisst gern, dass sie - wie andere Infektionskrankheiten auch - durch ein Bakterium hervorgerufen wird. Viele Leute betrachten die Lepra als Fluch, als einen Beweis dafür, dass man einen schwerwiegenden Fehler begangen hat."
"Selbst Vater und Mutter verstoßen den erkrankten Sohn"
Solche Überzeugungen und die Angst, sich bei den Leprakranken anstecken zu können, katapultieren die Betroffenen ins soziale Abseits, sagt der Aktivist Brahma Dutt.
Brahma Dutt: //"Selbst Vater und Mutter verstoßen den erkrankten Sohn. Während dieser seinerseits seine Eltern darum bitten wird, das Haus zu verlassen, wenn sie Lepra haben. Um das zu verhindern, verbergen die Menschen die ersten Symptome, so lange es irgend geht.
Mit dem Ergebnis, dass die Erkrankung unbehandelt fortschreitet, bis die ersten Nervenschädigungen da sind! Spätestens dann wird man die Betroffenen herausmanövrieren. Ein Sohn zum Beispiel muss so handeln, weil er sonst keine Frau finden wird."//
Die Gefahr der Ansteckung ist aber bei Weitem nicht so groß wie häufig angenommen wird. Bei der Übertragung spielen die hygienischen Verhältnisse, die Art und Nähe des Kontakts und das Immunsystem des Einzelnen eine Rolle. Und: Seit den 1980er-Jahren ist die Erkrankung heilbar, wenn sie frühzeitig behandelt wird.
Anand: "Je eher man die Lepra behandelt, desto besser. So lassen sich die Deformationen vermeiden, die sonst unweigerlich kommen. Die Behandlung sollte am besten einsetzen, wenn die ersten weißen Flecken auftreten, an denen die Betroffenen ein Taubheitsgefühl wahrnehmen.
Wenn die Patienten irgendwann darauf Hände und Füße überhaupt nicht mehr spüren, kann der Arzt oft nicht mehr viel für sie tun. Wir können die Leute dann nur noch warnen: 'Passt auf, dass ihr euch nicht verletzt. Tragt Schuhe, die eure Füße schützen.' Das sind Dinge, die solche Leprakranken ihr ganzes Leben lang beherzigen müssen."
Gleich ob sich die Betroffenen dann mit den ersten weißen Flecken auf der Haut oder mit entstellten Gesichtern und Deformationen an Händen und Füßen vorstellen - wenn der Arzt einen neu aufgenommenen Patienten erstmals untersucht, brechen viele der Leprakranken in Tränen aus.
Die meisten von ihnen haben noch nie erlebt, dass ein Mediziner sie bei der Untersuchung auch berührt. Manche berichten, dass die Ärzte im Krankenhaus bei der Verabreichung von Injektionen besonders lange Nadeln benutzt haben, um die Distanz zum Leprakranken so groß wie möglich zu halten.
Anand: "Des Stigmas wegen bekennen sich die Leute nicht zu ihrer Erkrankung. Tun sie es doch, müssen sie befürchten, unwillkommen zu sein, nicht mehr eingeladen zu werden und keinen Ehepartner zu finden. Wenn sie einen Job haben, kann es gut sein, dass sie entlassen werden. Kinder wiederum werden der Schule verwiesen.
Deshalb hatten wir eine Zeit lang eigene Lehrinstitute für an Lepra leidende Kinder. Es dauerte eine Weile, bis wir erkannten, dass wir die Schüler auf diese Weise ja wieder ausgrenzten! Also schlossen wir unsere Schuleinrichtungen. Seitdem setzen wir alles daran, den Kindern und Jugendlichen einen Platz an einer öffentlichen Schule zu verschaffen."
Deshalb ist Ravi hier - in einer Ganztagsschule von Neu-Delhi, nach deren Abschluss er die Universität besuchen kann.
Die Mitarbeiter der Leprastiftung haben erreicht, dass der zwölfjährige Junge aufgenommen wurde. Die Unterrichtssprachen sind hindi und englisch. Mit Letzterem tut sich der aus einem Dorf im Bundesstaat Bihar stammende Ravi noch ein bisschen schwer.
Aber er macht Fortschritte. Er sitzt auf der Bank für die Reservespieler, neben zwei Mitschülern. Nur wird Ravi, der das Spiel mit glänzenden Augen, mit Jubelrufen und aufmunterndem Schnalzen verfolgt, nicht nachrücken.
Durch die Lepra haben seine Muskeln sich versteift. Der rechte Fuß hat sich nach innen verkrümmt und ist von einem nässenden Geschwür überzogen, das täglich frisch versorgt und bandagiert wird. Weil die Nervenschädigungen seinen Tastsinn und das Schmerzempfinden sehr geschädigt hatten, war dem Jungen zunächst überhaupt nicht aufgefallen, dass sich im Wundbereich schon Maden eingenistet hatten.
Dass Ravi von seinen Mitschülern akzeptiert wird und mit dem Schulpensum zurecht kommt, hat ihm enormen Auftrieb gegeben. Er hat seine Behinderung in ein gut choreografiertes, rasantes Hinken überführt, das ihm, durchaus anerkennend, den Spitznamen "Djeldi-Wallah" - "Flotter Bursche" eingetragen hat.
Nun steht er auf, um sich zum Schulausgang zu begeben. Dort wartet schon der Rikschafahrer, der Ravi regelmäßig zum Leprakrankenhaus fährt.
"Als er die ersten weißen Flecken bemerkt habe", erzählt er, sei er mit seiner Mutter ins Bezirkskrankenhaus gegangen. Dort gab ihm der Arzt eine Medizin und er dachte: das kommt alles in ein paar Wochen wieder in Ordnung. Aber dann konnte Ravi auf einmal seine Hände nicht mehr richtig bewegen. Dann war der Fuß betroffen. Da, erzählt er, habe er viel geweint und große Angst bekommen, niemals wieder gesund werden zu können.
Im Dorf gehänselt und mit Steinen beworfen
Monate vergingen. Der Dorfvorsteher beschwor die Eltern, den kranken Sohn fortzuschaffen. Niemand wollte mehr die Milch ihrer Kühe kaufen.
Alle Gespräche verstummten, wenn der Vater zum Brunnen kam, um seinen Eimer mit Wasser zu füllen. Ravis Mutter fuhr mit dem Zug nach Delhi und schilderte den Ärzten des "Leprosy Mission Trust India", wie es um ihren Sohn bestellt war.
Ravi erzählt, wie er im Dorf gehänselt wurde und dass die Leute mit Steinen nach ihm geworfen haben.
Aber er wurde operiert und kann jetzt wieder laufen.
Krankenschwester: "Ravi ist sehr ehrgeizig. Wenn er erst mal die Schule beendet hat, sagt er, dann wird er schon einen Job bekommen und etwas aus seinem Leben machen."
Ergänzt die Krankenschwester, die Ravis Bein neu verbindet und dabei von seinem großen Traum erzählt.
Krankenschwester: "Er hat immer mit Begeisterung Cricket gespielt. Nur - wegen seiner Behinderung ist das inzwischen nicht mehr möglich. Aber er hat es sich nun mal in den Kopf gesetzt, ein großer Cricketspieler zu werden."
Auch Kumar, der vor fünf Jahren sein Dorf verließ, hat heute wieder Träume. Eines Tages, während der Regenzeit, machte sich der damals dreißigjährige Mann auf die zwei Tage und zwei Nächte währende Zugreise nach Delhi auf. Zuvor hatte der Sohn eines Farmers, der mit viel Kraft und Freude den familieneigenen Acker bestellte, mehrere weiße Flecken auf der Brust und auf den Armen entdeckt. An diesen Regionen seines Körpers verspürte Kumar weder Kälte noch Wärme, nicht einmal Schmerz. Außerdem fiel es ihm zunehmend schwerer, seine Finger zu bewegen.
Der junge Landwirt hatte zwar nur fünf Jahre lang die Schule besucht, aber dass dies sehr wohl die ersten Symptome von Lepra sein konnten, wusste er aus Gesprächen von Eltern und Verwandten. Kumar fuhr im Dritter-Klasse-Waggon nach Delhi, um Gewissheit zu erlangen. In dem kleinen Bündel, das er bei sich trug, waren ein zweites Hemd, Unterwäsche, ein Stück Seife, ein paar klein geschnittene Neembaum-Zweige zum Zähneputzen und eine sorgfältig verknotete Plastiktüte mit Rattengift.
In Neu-Delhi schlug zu der Zeit der Monsun mit aller Härte zu. Heimatlose Menschen wateten durch die überschwemmten Straßen und suchten nach einem Unterschlupf. Auf jeden Regenguss folgten quälende Stunden schwüler Hitze, die den Schweiß aus allen Poren trieb. Hohe Feuchtigkeit und schmutziges Wasser quälen Leprakranke besonders, weil sich dadurch deren Wunden infizieren und von Parasiten befallen werden.
Als Kumar in Neu Delhi ankam, glitt er auf der völlig überschwemmten Straße aus und schlug mit dem Kopf auf einem Pfeiler auf. Erst im Krankenhaus erwachte er wieder. Da war das Bündel mit seinen Habseligkeiten, das er sich um den Bauch gebunden hatte, schon verschwunden.
Kumar: "Ich litt unter starken Schmerzen und bekam auch gleich Medikamente. Als der Arzt mich fragte, was ich in Delhi wollte, sagte ich ihm, warum ich gekommen war und dass ich, für alle Fälle, einen Beutel mit Rattengift dabei hatte. Er antwortete nicht, ging einfach aus dem Zimmer.
Ich weiß bis heute nicht, ob er mich nur loswerden oder ob er mir helfen wollte. Jedenfalls brachte man mich hierher ins Leprakrankenhaus. Ich musste ein Jahr lang Medikamente nehmen. Und im März wurden meine Finger operiert. Nun geht es mir viel besser! Ich mache jeden Tag die Übungen, die der Physiotherapeut mir gezeigt hat."
Für den blinden Bettler vom Hanuman-Tempel mit den zu Klauen erstarrten Händen kommt dagegen jede Hilfe zu spät. Aber Ravis Aussichten sind gut, auch wenn er am Ende wohl kein großer Cricketspieler mehr werden wird. Und Kumar - Kumar könnte es auch schaffen.
Brahma Dutt: "Wir müssen dafür sorgen, dass die Kranken so schnell wie möglich in Behandlung kommen. Dann bringen wir die Lepra zum Stillstand, die Gefahr einer Ansteckung ist gebannt und es drohen auch keine weiteren physischen Entstellungen.
Schließlich muss man den Betroffenen helfen, eine Arbeit zu finden. Das größte Problem aber ist und bleibt die Entmystifizierung der Lepra. Die religiösen und sozialen Vorurteile sind es, die der Rehabilitation am meisten im Wege stehen."
Mehr zum Thema