Infamste Form der Heuchelei

Von Arno Orzessek · 04.04.2010
Wer bei dem Veranstalter mit dem patenten Namen "Christ-konkret" gebucht hatte, konnte die Ostermesse am Sonntag in Rom samt Hin- und Rückflug und Vier-Tages-Programm für 497 Euro miterleben ...
... und während der Feier auf dem Petersplatz, bei der Benedikt XVI. übrigens so verdrossen in den Regen starrte, als wäre noch Passionszeit, ins "Kyrie eleison" einstimmen.

Diese Anrufung hat in der Liturgie eine Lobpreis-Funktion im Sinne von "Herr, du erbarmst dich verlässlich". Sie ist aber auch ein Bittruf im Sinne von "Herr, erbarme dich unser ... wir haben's dringend nötig" – ein Ruf also, der angesichts des Zustands der katholischen Kirche als bitter-ironische Selbstreflexion durchgehen kann.

Nur ist die Frage, welcher Erbarmung diese Kirche derzeit überhaupt würdig ist.

Der Priester, der im Altarraum eine realitätsferne Sexualmoral predigt, aber in der Sakristei die ihm anvertrauten Knaben befingert, macht sich neben dem Machtmissbrauch der infamsten Form der Heuchelei schuldig – nämlich der Scheinheiligkeit. Auf Scheinheiligkeit aber reagieren viele Menschen angewidert und aggressiv.

Bizarr ist deshalb der von klerikaler Seite erhobene Vorwurf, die Medien betrieben antikirchliche Hetze, oder noch toller und kürzlich wieder von dem Papst-Prediger Pater Cantalamessa verlautbart: Es laufe eine Kampagne nach dem Vorbild antisemitischer Kampagnen der Nazis ab, nur eben jetzt gegen Papsttum und Kirche. In der Bedrängnis die abgegriffene NS-Karte spielen, das zeugt, wenn nicht von Dummheit, dann von blanken Nerven. Cantalamessa zog – wie viele andere – seinen Vorwurf nach Protesten zurück.

Eine Institution, die jahrzehntelang in vielen Ländern das seelische Elend misshandelter Kinder verschweigt, verleugnet oder schlicht übersieht, um das Ansehen päderastischer Priester und Lehrer zu retten, verspielt ihre innere Würde. Und damit ihre Glaub-Würdigkeit nach außen. Und letztlich sogar die Würde des Glaubens selbst, der im Katholizismus den Glauben an die Kirche ja einschließt.

Mochte die Affäre um die Pius-Bruderschaft noch knapp als kirchenpolitischer Skandal durchgehen, könnte die aktuelle Krise die Grundfesten der Kirche erschüttern – was vielleicht die beste Wendung wäre.

Denn in den letzten Wochen wurde ein antiquiertes männerbündisches Machtsystem bloßgestellt, das die höchste moralische Autorität – gerade in Fragen von Partnerschaft und Sexualität – bis zur kompletten Realitätsverleugnung beansprucht, Verstöße in den eigenen Reihen jedoch durch antiquierte Regeln provoziert und gedeckt hat.

"Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie", herrschte laut Johannes-Evangelium Jesus die Pharisäer an, als diese eine in flagranti erwischte Ehebrecherin steinigen wollten. Die Crux knabenliebender Priester: Sie sollten von Amts wegen eigentlich Jesus nacheifern, haben sich aber aufgeführt wie die Pharisäer und insgeheim ihrem Sexleben auf fragwürdigere Weise gefrönt als die besagte Ehebrecherin – ohne dabei zu vergessen, zwischendurch das olle Zölibatstheater weiterzuspielen.

Dass heute keine Steinigungen mehr drohen, wird man begrüßen. Dass sich die Kirche jedoch bemüht, die Missetäter vor weltlicher Justiz zu schützen und nur in der Binnenzone mit dem kanonischen Recht zu konfrontieren, deutet entgegen aller frommen Rhetorik auf minderes Aufklärungsinteresse hin. Denn die Aufklärung von Sexualdelikten ist kein klerikales Projekt, sondern ein weltlich-juristisches.

Wie zerbrechlich Autorität und Integrität sind, das hat jüngst die relativ kleine Sünderin Margot Käßmann begriffen. Sie scheute den Anschein der Scheinheiligkeit und trat nach ihrer Trunkenheitsfahrt von exponierten Ämtern zurück. Derart konsequentes Verantwortungsbewusstsein ist in der katholischen Kirche auf Täterseite indessen spärlich. –

"Ich heiße das Christentum den einen großen Fluch, die Eine große innerlichste Verdorbenheit, [ ... ], - ich heiße es den Einen unsterblichen Schandfleck der Menschheit."

So Friedrich Nietzsche in "Der Antichrist", geschrieben am Rande des Wahnsinns, erschienen 1895. Es war der heftigste derartige Wutausbruch in deutscher Sprache. Es war, bitte schön, eine unhaltbare Übertreibung, so wie die mehr als 5000-seitige "Kriminalgeschichte des Christentums" von Karlheinz Deschner, die sich gerade erklärlicher Aufmerksamkeit erfreut, unhaltbar parteiisch ist.

Doch wenn die Kirche, hier die katholische, nicht jeglicher Überzeugungskraft verlustig gehen und im Sektiererischen, Obskuranten enden will, stehen Modernisierungsprozesse an, gerade betreffs der Sexuallehre, die noch kaum in der Neuzeit angekommen ist.

Rein gar nichts nutzt der Kirche der Umstand, dass sich Kindesmissbrauch in allen gesellschaftlichen Segmenten nachweisen lässt. Auch mit der sonderbaren Schuldverschiebung – nach dem päpstlichen Ansinnen, dass die Säkularisierung der Gesellschaft irgendwie der Kirche schlecht tut – ist nichts gewonnen.

Vielmehr gilt in Umkehrung des Missionsbefehls: Es muss nicht mehr Kirche in die Welt dringen, sondern mehr Welt in die Kirche. Keiner redet von Selbstaufgabe. Auch Ungläubige werden zugestehen, dass die Kirche im Verhältnis zur säkularen Gesellschaft die Funktion ausüben könnte, die das Gewissen im Verhältnis zum Individuum hat.

Augenblicklich aber kann die Kirche nur ihr eigenes – und schlechtes – Gewissen sein. Gesegnete Ostern fallen 2010 insofern aus. Und Christsein konkret? Was für eine mühselige Aufgabe für alle, die sich ihr noch stellen!