Industriearchäologie

Was hinter den Fabriktoren geschah

Das Kunstmuseum Dieselkraftwerk Cottbus, aufgenommen am 05.05.2008. Das in den späten 1920-er Jahren vom Berliner Architekten Werner Issel entworfene Industriedenkmal ist zum neuen Domizil zeitgenössicher Kunst umgebaut worden. Rund acht Millionen Euro gaben EU, Bund, Land und Stadt für die Bauarbeiten.
Das Kunstmuseum Dieselkraftwerk Cottbus. Das Industriedenkmal aus den späten 1920er Jahren ist zum Domizil für zeitgenössicher Kunst umgebaut worden © dpa / picture alliance / Bernd Settnik
Von Jochen Stöckmann · 31.08.2016
Die Industriearchäologie ist eine junge Wissenschaft. Die Hinterlassenschaften des Industriezeitalters sind erklärungsbedürftig, müssen freigelegt und gerettet werden. Denn sie erzählen genauso wie alte Kunst- und Kulturgegenstände die Geschichte von Menschen.
Archäologie: Das ist die Wissenschaft, die sich mit den materiellen Hinterlassenschaften der Menschheit befasst – mit Bauwerken, Werkzeugen, Kunst- und Kultgegenständen. Das ist eine möglichst knappe und einfache Charakterisierung.
Die meisten werden an Antike und Altertum, Tempel und Gräber denken. Troja, Pompej, Pyramiden - Kulturen die längst vergangen sind und daher für uns erklärungsbedürftig. Deren Existenz erst Schicht um Schicht wieder freigelegt werden muss. An Ton, Steine, Scherben.

Ton, Steine, Maschinen statt Ton, Steine, Scherben

Allerdings: Auch Ton, Steine und Maschinen sind erklärungsbedürftig, auch die Hinterlassenschaften des Industriezeitalters müssen teils mühsam freigelegt und auch gerettet werden. Das ist das Arbeitsfeld der Industriearchäologie. Eine junge Disziplin. Eine Disziplin, die von unten kam, nicht aus dem Elfenbeinturm, eine Diszplin, die um Anerkennung ringt, eine Diszplin, die auch mit Spekulanten und Grundstücksbörsen konfrontiert ist, wie Jochen Stöckmann herausgefunden hat:
"Das Problem, was wir da ein bisschen haben: Dass von der klassischen Archäologie die Industriearchäologie immer nicht so richtig für voll genommen worden ist. Ein Schloss, eine Kirche – selbstverständlich. Aber jetzt ein bedeutendes Industriedenkmal, das ist für viele Leute dreckig, ein Schrotthaufen. Aber auch bei uns kann es vorkommen, dass Sie ein Werkstück finden oder ein Werkzeug und anhand dieses Werkzeuges versuchen müssen, die Geschichte dahinter zu erzählen."
Helmuth Albrecht ist Professor an einer Technischen Universität, der Bergakademie Freiberg. Wer vermutet da einen "Geschichtenerzähler"? Aber genau darum geht es dem Inhaber des deutschlandweit einzigen Lehrstuhls für Industriearchäologie bei seiner Art der Technikgeschichte.

Mehr als bloße Daten und Fakten

Das von der Idee kontinuierlichen Fortschritts dominierte Industriezeitalter deutet Albrecht mit einer "Erzählung", die über bloße Daten und Fakten hinausreicht, die auch brachiale Struktur-Brüche, Arbeitskämpfe und gesellschaftliche Umwälzungen berücksichtigt. Und zwar anhand von archäologischen Relikten, von Industrie-Denkmalen, die zuvor nur unter ästhetischem, kunstgeschichtlichem Aspekt betrachtet und bewertet wurden.
"Gut, wenn es ein berühmter Architekt ist, wenn’s schön aussieht – dann: ja! Aber wenn es einen bedeutenden Schritt der technologischen Entwicklung darstellt oder auch von Produktions- und Arbeitsprozessen, aber hässlich aussieht – warum sollte man das dann trotzdem erhalten?"
An dieser Streitfrage entzündeten sich in den späten 1960er-Jahren nicht nur öffentliche Debatten. Es kam zu heftigen Demonstrationen für den Erhalt von Zechensiedlungen, Fördertürmen oder Werftanlagen, zuerst in England, dann auch im Ruhrgebiet oder den norddeutschen Hafenstädten. Die politischen Aktivisten bereiteten überhaupt erst die Grundlagen für eine wissenschaftliche Disziplin der "Industrie-Archäologie".
"Es gab dann plötzlich Leute, die gemeint haben, jetzt verschwinden die Sachzeugen einer Industrieepoche sang- und klanglos, wir müssen etwas dagegen unternehmen. Insofern ist es eine Protestbewegung, auch eine ganz breite: Journalisten haben sich darum gekümmert, Lehrer, also gewissermaßen eine bottom-up-Bewegung. Die dann akademisiert wird, und zwar von der Archäologie in England."

"Zeugen" sind die ehemaligen Arbeiter

Archäologische Funde, die "Ausgrabungen" der akademischen Forscher zum Sprechen bringen, dafür braucht es die ehemaligen Arbeiter und Angestellten. Sie wissen, was sich einst hinter dem Fabriktor tat, in den für Forscher wie Öffentlichkeit unzugänglichen Industrieanlagen. Aber diese Erfahrungen lassen sich nicht auf Knopfdruck abrufen, wie Bruno De Corte weiß. Als freier Historiker, ohne akademische Verpflichtungen, hat der Industriearchäologe das große Zechensterben in Belgien begleitet:
"Sehr viele Bergleute sagen: 'Ach wissen Sie, tabula rasa, die Geschichte ist vorbei.' Was ich aber bei uns in Belgien merke: Es sind die Kinder, die Kinder von Migranten, die das sehr wichtig finden, das ist ja eigentlich deren Identität. Weil die Familie dorthin gekommen ist, um diese Arbeit zu machen."
Fabrikgebäude und Industrieanlagen prägen und verändern Identität oder Geschichtsbewusstsein ganzer Gesellschaftsgruppen. Aber eben nicht unvermittelt. Und das muss Helmuth Albrecht als Industriearchäologe immer bedenken:
"Wenn die Arbeiter vor ihrer Fabrik, die gerade geschlossen worden ist, ihre Arbeitsplätze verloren haben, dann wollen sie, dass das Ding abgerissen wird. Aus den Augen, aus dem Sinn. Zehn Jahre später kann sich die Situation völlig verändert haben. Technikdenkmale und Industriedenkmale bedürfen einer umfangreicheren Erklärung für den Laien als das bei anderen Denkmalen der Fall ist. Häufig, das ist meine Erfahrung."
Die sogenannte "kreative Klasse" allerdings ist lange schon auf den Geschmack gekommen. Sei es nun die freie Theaterszene auf dem Gelände der Maschinenfabrik Kampnagel in Hamburg oder private Kunstgalerien im Areal der Seidenspinnerei in Leipzig.

Kulturelle Umnutzung der Industriearchitektur

Bei dieser kulturellen Umnutzung reduziert sich Industriearchitektur meist auf Flair und Fassade. Dabei gehen viele Spuren verloren von dem, was sich im Innern der Fabrikhallen tagtäglich abspielte. Und vor allem beschränkt sich diese Art der meist sehr lukrativen "Rettung" von Industriedenkmalen auf urbane Ballungsräume:
"Bei uns in Sachsen ist es so, dass eine Vielzahl von Objekten einfach leer stehen, zu Spekulationsobjekten geworden sind, internationalen Spekulationsobjekten, die auf Börsen gehandelt werden. Und wenn Investoren kommen, die versprechen, neue Arbeitsplätze zu schaffen, dann tritt die Denkmalpflege ganz schnell ... dann muss sie ganz schnell zurücktreten. Das ist schwierig, dafür zu kämpfen. Es geht darum, Bewusstsein zu schaffen für den Wert dieser Objekte. Das ist nicht einfach, aber es geht."
Durch die fortwährende Zerstörung von Industrie-Denkmalen, also ihrer materiellen Grundlagen, wird die Industriearchäologie zum Handeln gezwungen. Aber eine Wissenschaft, die permanent reagieren muss, kann kaum noch reflektieren. Und sucht ihr Heil in der Expansion, in der Ausdehnung über einzelne Artefakte, über die "Leitfossilien" der klassischen Archäologie hinaus. Ganze "Strukturen" und "Landschaften" werden zum Gegenstand der Forschung, riesige Areale, gar ganze Regionen: Bruno De Corte:
"Jetzt geht es um Großobjekte, das wird sehr schwierig. Was macht man dann mit einer Autofabrik? Jetzt haben wir viel diskutiert über die Industrielandschaften. Aber erstens: Was ist eine Industrielandschaft? Und zweitens: Wie muss man das erhalten? Man kann doch nicht einfach eine ganze Region einfrieren."
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