"In Peking hab ich noch überhaupt nichts notiert"

Moderation: Frank Meyer · 05.09.2013
Von überwältigenden Eindrücken beim Schriftstellerforum in Peking erzählt Marcel Beyer, die man in einer Nacht Schlaf auch nicht verarbeiten könne. Was er vermisst, ist produktive Konfrontation: "Das ist hier einfach in der Geistestradition nicht vorhanden."
Frank Meyer: Wenn deutsche und chinesische Schriftsteller aufeinander treffen, Autoren, die in so ganz verschiedenen Gesellschaften leben – was haben sie sich eigentlich zu sagen? Was interessiert sie aneinander? Gerade gab es so ein Treffen, ein Deutsch-Chinesisches Schriftstellerforum in Peking unter der großen Überschrift: "Die Verantwortung des Schriftstellers in der Ära der Globalisierung". Einer der zehn deutschen Teilnehmer an diesem Treffen war Marcel Beyer, bekannt durch seine Romane "Flughunde" und "Kaltenburg" und seinen jüngsten Erzählungsband "Putins Briefkasten". Marcel Beyer ist jetzt in Peking für uns am Telefon. Herr Beyer, guten Tag nach Peking!

Marcel Beyer: Guten Tag!

Meyer: Das Treffen fand nun statt in der chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften, also in einem staatlichen Institut, in einer großen Aula, wie ich gehört habe. In einem solchen offiziellen Rahmen, was für eine Art Austausch gibt es da? Kann es da einen offenen Austausch geben?

Beyer: Gut, dass Sie das so fragen. Also, eigentlich hat ja Ihre Frage schon fast gar kein Fragezeichen mehr. Wir wussten natürlich selber nicht so richtig, was auf uns zukommt, wir zehn deutschsprachigen Autoren. Tatsächlich war es ein so hochoffizieller Anlass, dass eigentlich wir und unsere chinesische Kollegen dann, jeder nacheinander, unsere Statements zum Thema vorgelesen haben, dann wurden wir in kleinen Gruppen hingesetzt, und dann hieß es, jetzt beginnt die Diskussion. Es war aber eigentlich auch ganz klar, dass man natürlich gar nicht zu tiefgreifenden Diskussion kommt, sondern nur weiter Statements abgibt. Solche offiziellen, auch sehr förmlichen Begegnungen sind ja aber immer nur so der Anlass, damit man Gespräche am Rande führen kann.

Meyer: Das heißt, man bringt den offiziellen Teil hinter sich und wartet darauf, dass man endlich in kleinerem Kreis zueinander kommt?

Beyer: Ganz genau. Ganz genau. Also, ich sitze jetzt, während wir sprechen, hier in der Fremdsprachenuniversität in einem Büro und komme gerade aus einem Seminar, dass mein Übersetzer, Professor Han, geleitet hat. Und da gab es eine kurze Lesung, und dann haben wir zwei Stunden diskutiert und hätten auch noch eine Stunde länger diskutieren können. Das sind dann die Termine, auf die ich mich freue, weil ich weiß, dass sie produktiv sind.

Meyer: Und was, was Sie erlebt haben, eben nicht im offiziellen Teil, sondern am Rande, zum Beispiel in diesem Seminar –was davon hat Sie besonders bewegt, berührt, vielleicht auch überrascht?

Beyer: Es gibt ein sehr, sehr großes Interesse hier an Deutschland unter sehr jungen Menschen. Das merkt man hier an der Universität, das merkt man auch an den Fragen, die gestellt werden. Die Fragen sind sehr präzise, man merkt, da gibt es viel Vorbereitung vorher. Und diese Neugier ist einfach etwas sehr Schönes, und ich versuche dann immer so ein bisschen, auch so zu erzählen oder ein bisschen zu fragen in die Richtung hin auf nicht nur einen Generationenunterschied – also die Studenten sind mindestens eine Generation jünger als ich –, sondern versuche immer mitzudenken, wie ist das eigentlich mit dem Kulturunterschied, der ja noch zusätzlich zu dem Generationenunterschied dazu kommt.

Ich habe gestern mit einer 26-Jährigen gesprochen und habe gefragt: Wie ist das eigentlich? Sie sind jetzt 26 Jahre alt. Haben Sie das Gefühl, dass Sie schon eigentlich ein historisches Wesen sind? Weil sich hier das Leben jedes Jahr ändert. Also, blicken Sie schon auf Ihre Kindheit als auf ein anderes Zeitalter zurück? Und sie meinte, sie habe einen Cousin, der ist 23, also drei Jahre jünger als sie, und sie hat den Eindruck, er lebt in einer völlig anderen Welt als sie. Sie kann ihn schon gar nicht mehr verstehen.

Meyer: War das jetzt Ihre Grunderfahrung, was Sie gerade schildern? In dieser Begegnung mit der chinesischen Gesellschaft, dass das so eine viel, viel dynamischere Gesellschaft ist als die unsere? Zumindest, wenn man auf den Wandel der Wirtschaft und der damit verbundenen Lebensweisen schaut und nicht auf das politische System?

Beyer: Ja, ich glaube, jeder hat die Bilder vor Augen, dass hier natürlich, wo vorletztes Jahr noch ein kleines, schönes Geschäftsviertel war, heute eine riesige Shopping Mall steht. Ich glaube aber, dass diese enorme Dynamik natürlich auch von den Menschen eine Beweglichkeit fordert. Und diese enorme Wandlungsfähigkeit, die in den Menschen steckt, und die Fähigkeit, sich ständig auch auf neue Situationen einzustellen, das ist für mich etwas ganz Faszinierendes.

Meyer: Ich würde aber gern doch noch mal, Herr Beyer, auf den offiziellen Teil zurückkommen Ihres Forums. Unsere Korrespondentin Ruth Kirchner hat uns berichtet, dass es auch einen Auftritt des chinesischen Literaturnobelpreisträgers Mo Yan gab, der einerseits darüber gesprochen hat, dass er in seinem Schreiben seinen eigenen moralischen Ansprüchen treu bleiben will, andererseits habe er aber auch den Staat in Schutz genommen, den chinesischen Staat, und die Zensur verteidigt. Wie wurde denn darauf reagiert in diesem Forum?

Beyer: Ach, in so einem großen Forum wird erst mal natürlich gar nicht reagiert. Man spricht dann am Rande in der Kaffeepause oder eigentlich auch noch bis in den Abend hinein darüber. Es ist so schwierig zu beurteilen. Also zum einen habe ich das Gefühl, ich verstehe diese Kommunikationsstrategien überhaupt nicht. Viele unsere Kollegen haben in den Vordergrund gestellt, dass sie sich in ihrer Literatur um Einzelschicksale bemühen, dass es immer um das Individuum geht, dass es nicht um Politik gehe.

Dann weiß ich aber nicht, ist dies schon wieder eine versteckte Aussage über politische Verhältnisse oder ist das nicht auch etwas wie eine Schutzbehauptung – man weiß ja auch nicht, wer immer jeweils im Saal anwesend ist –, eigentlich hab ich auch das Gefühl, dass wir das nie richtig begreifen werden, wie man eigentlich tickt. Auch in einer Gesellschaft, und das hat ja gar nichts mit dem Sozialismus zu tun, in einer Gesellschaft, die immer auf Ausgleich ausgerichtet ist. Also so eine Form der Konfrontation, der produktiven Konfrontation, wie wir das kennen in Europa, das ist hier einfach in der Geistestradition nicht vorhanden.

Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir sprechen mit dem Autor Marcel Beyer, einer der deutschen Teilnehmer beim Deutsch-chinesischen Schriftstellerforum in Peking, das heute zu Ende geht. Unsere Korrespondentin Ruth Kirchner hat uns auch berichtet, in eine ähnliche Richtung ging ein Artikel in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", dass die deutschen Autoren, also auch Sie, sich sehr zurückgehalten hätten in China, was Kommentare, Stellungnahmen zur Situation von Autoren dort zu den Themen Zensur, Meinungsfreiheit und so weiter angeht. Warum diese Zurückhaltung?

Beyer: Sie stehen in einem großen Saal am Mikrofon und sprechen auf Deutsch und wissen, es gibt eine Simultandolmetscherin, und Sie sprechen und merken, dass viele junge Menschen, die hinten sitzen, keinerlei Reaktionen zeigen auf das, was Sie sagen. Und dann schauen Sie genauer und dann stellen Sie fest, die haben keine Head Sets, um der Dolmetscherin überhaupt zu folgen. Da ist man erbost, darauf kann man hinweisen dann in der Pause. Dann gibt es – es gibt immer eine Erklärung.

Und man fragt sich dann mit der Zeit, ob es überhaupt eine Reaktion gäbe. Also man fragt sich nicht, welche Reaktion gäbe es, sondern man fragt sich, gäbe es überhaupt eine Reaktion, wenn man in irgendeiner Weise deutlicher würde. Also ich glaube, es gäbe wahrscheinlich keine Reaktionen, sondern es gäbe einfach eine Verhärtung. Die entscheidenden Gespräche finden dann tatsächlich am Rande statt. Da spricht man darüber, welche Folgen diese enorme ökonomische Dynamik hier hat. Man ist sehr schnell beim Thema Umweltschutz, und ich fühle mich erinnert an die 70er-Jahre oder, wenn Sie denken, in den 80er-Jahren ist in der DDR aus der Umweltbewegung eine große politische Kraft entstanden.

Ich bin eigentlich erst mal hier, um zuzuhören, nicht offizielle Verlautbarungen über mich ergehen zu lassen, sondern um am Rand in Gesprächen zu versuchen, herauszufinden, ach, wo gibt es die Momente, wo wir eine Gesprächsbasis finden, und wo werden bestimmte Begleiterscheinungen oder nicht hinnehmbare Situationen angesprochen.

Meyer: Man steht ja immer, das zieht sich schon lange durch die Diskussion darüber, was bedeuten Reisen in totalitär regierte Staaten. Wenn ich dorthin fahre, trage ich etwas bei für einen Dialog auch auf einer Ebene unterhalb der offiziellen oder bestätige ich eigentlich ein System. Ein System eben wie in China, wo ein Friedensnobelpreisträger im Gefängnis sitzt, Liu Xiaobo, seine Familie drangsaliert wird und so weiter. Der Schriftsteller Burkhard Spinn, also einer Ihrer Begleiter, hat gesagt, schon das Auftreten deutscher Autoren bei einem solchen Forum wäre eine Form des Protestes, weil ja klar sei, dass Sie als aus dem Westen kommend eine andere Haltung hätten zum Beispiel zur Meinungsfreiheit in China. Wie sehen Sie das, wenn Sie dort hinfahren? Ist das eine Form des Protestes?

Beyer: Nein. Schon als Protest würde ich das reine Auftreten nicht betrachten. Wie funktioniert es, eine hochoffizielle Konferenz? Das ist ja nun bei uns in Deutschland auch nicht viel anders. Es geht einfach darum, das Gespräch zu suchen. Ich glaube, das ist einfach ganz wichtig, man sucht das Gespräch und man hört zu. Und man lebt vielleicht so ganz ausschnitthaft, wie so ein kleines Mauseloch, man lebt etwas vor. Und das kann Menschen bestärken, kann Menschen auf Ideen bringen.

Meyer: Und könnte diese chinesische Reise nun Auswirkungen haben auf Ihr Schreiben? Könnten wir einem chinesischen Thema begegnen, womöglich in einem künftigen Marcel-Beyer-Buch?

Beyer: Man sagt hier, nach einer Woche China schreibt man ein Buch, nach, ich weiß nicht, zwei Wochen schreibt man einen Aufsatz und nach drei Wochen schreibt man erst mal gar nichts mehr. Wenn man hier morgens um sieben aufsteht und dann abends um null Uhr ins Bett geht, braucht man die paar Stunden Schlaf eigentlich nicht einmal dazu, die Eindrücke zu verarbeiten, sondern sie nur erst mal irgendwo im Kopf beiseite zu schieben, um Platz zu machen für die Eindrücke des nächsten Tages. Ich habe immer auf Reisen ein Notizbuch bei mir und notiere mir auch immer gerne – nur hier in Peking hab ich eigentlich noch überhaupt nichts notiert. Das heißt, man geht eigentlich mit mehr Fragen nach Hause, als man hergekommen ist, und ob sich ein solcher Aufenthalt im Schreiben niederschlagen wird – ja, vielleicht in fünf oder in zehn Jahren.

Meyer: Wir werden es abwarten, Herr Beyer. Heute geht in China erst einmal das Deutsch-Chinesische Schriftstellerforum zu Ende. Mit dabei war Marcel Beyer. Herzlichen Dank nach Peking für dieses Gespräch!

Beyer: Ich danke Ihnen!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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