"In fünf Jahren wird dieses Europa anders aussehen"

Karl Lamers im Gespräch mit Ute Welty · 06.10.2012
Auch Deutschland habe "kräftig" gesündigt, sagt der CDU-Politiker Karl Lamers selbstkritisch: Die Wiedervereinigung sei über Schulden finanziert worden und zusammen mit Frankreich habe es den Stabilitätspakt aufgeweicht. Doch nun gelte für Europa: "Entweder haben wir alle gemeinsam eine Zukunft oder gemeinsam keine Zukunft."
Ute Welty: Mehr Zeit für Portugal, das wollen die Euro-Finanzminister am Montag beschließen, und weil die Sache eilt, kam in Berlin der Haushaltsausschuss des Bundestages zusammen. Es geht um ein 78-Milliarden-Hilfspaket für Portugal. Es geht um die Frage, ob und wann Spanien ganz unter den Rettungsschirm schlüpft und ob dann das Ende der Fahnenstange erreicht ist. Wie viel Europa können wir uns überhaupt noch leisten?

Der CDU-Politiker Karl Lamers war bis 2002 und mehr als 20 Jahre lang außenpolitischer Sprecher seiner Fraktion. Er und der heutige Finanzminister Wolfgang Schäuble entwickelten lange vor der Krise das System Kerneuropa, wo vor allen Dingen Deutschland und Frankreich an einem Strang ziehen. Guten Morgen, Herr Lamers!

Karl Lamers: Guten Morgen, Frau Welty!

Welty: Es heißt immer wieder, Deutschland und Frankreich treiben Europa an, sind der europäische Motor. Aber wo soll das Benzin für diesen Motor herkommen, und wer soll es bezahlen?

Lamers: Ja, wir alle müssen es bezahlen. Und wir bezahlen ja nicht nur, wir profitieren ja auch von Europa. Sehen Sie, was jetzt heute von der Haftungsunion und von der Transferunion gesprochen wird, dann muss man doch sagen, erstens haben wir eine De-facto-Haftung und es geht jetzt darum, mit EFS, Fiskalpakt, Bankenunion diese Situation zu institutionalisieren, damit wir einen geordneten Ausweg nach vorne daraus finden. Und Transferunion – ja, es hat vorher ein richtiger Transfer stattgefunden, von Süd nach Nord in Gestalt von Importen dieser Länder und Exporten Deutschlands. Wir sind eine De-facto-Gemeinschaft weit über das hinaus, was jetzt in der Diskussion gesagt wird, die ja von viel Unverständnis zeugt. Und Unverständnis erzeugt immer Angst, und das ist vielleicht das, was mir am meisten Sorge macht, die Angst und die Enge …

Welty: Ja, wie empfinden Sie denn vor diesem Hintergrund die Europakritik vor allem die aus den Reihen der Union?

Lamers: … der Diskussion hier in unserem Lande. Es gibt nur immer einen Ausweg nach vorne. Wenn wir zurückziehen, wenn die Währungsunion zerbräche, das wäre wirklich – ja, ich bin vorsichtig mit solchen großen Worten, aber es wäre eine Katastrophe …

Welty: Nichtsdestotrotz die Frage ... Entschuldigung, Herr Lamers, nichtsdestotrotz die Frage: Wie empfinden Sie denn vor diesem Hintergrund, den Sie gerade intensiv beschrieben haben, die Europakritik, die vor allem aus den Reihen der Union kommt?

Lamers: Also, vor allem kommt sie ja nicht daher, aber es gibt solche – ich verstehe das, aber ich verstehe leider auch, dass dahinter also natürlich einmal diese Angst steckt, von der ich gesprochen habe, ich füge natürlich gleich hinzu: Sorge ist berechtigt, notwendig, und Sorgfalt bei den Schritten, die wir jetzt unternehmen, aber Angst ist der schlechteste Ratgeber im Leben, vor allen Dingen in der Politik. Und ich erwarte schon, dass man sich mehr Mühe gibt, wirklich tiefer nachdenkt über die Situation, ihre Ursachen und die Wege, die nach außen führen können und die Folgen, wenn es zu einem Zusammenbruch käme.

Und ich erwarte im Übrigen, und das will ich einmal deutlich sagen, dass sich die große Anzahl der Kollegen auch meiner eigenen früheren Fraktion, die den Kurs der Regierung stützen, auch einmal melden und artikulieren. Das geschieht mir zu wenig. Und im Übrigen, was ich auch vermisse, ist, dass einmal in verständlicher, aber vereinfachender, aber nicht verfälschender Form und mit Nachdruck und, wenn Sie so wollen, auch mit Leidenschaft die Notwendigkeit dieser Politik dargestellt wird. Übrigens in Deutschland nicht nur, sondern auch bei unseren Nachbarn und nicht zuletzt in Griechenland. Frau Merkel reist ja jetzt am Dienstag dorthin, und ich hoffe, dass sie unter anderem in dieser Weise mal mit den Griechen redet und zu ihnen redet.

Welty: Sie haben damals auch schon favorisiert das Europa der zwei oder der mehreren Geschwindigkeiten. Ist die Krise, die wir jetzt haben, das Ergebnis davon, dass man diesen Mechanismus nicht ausreichend berücksichtigt hat?

Lamers: Ja. Insgesamt haben wir institutionell die Währungsunion, Wirtschafts- und Währungsunion nicht so ausgebaut in Richtung einer politischen Union, wie das notwendig gewesen wäre. Wir haben ja gehofft, dass der sogenannte Stabilitätspakt, die Vorschriften zur Haushaltskonsolidierung und zur Begrenzung der Schulden dazu führen würde, gewissermaßen automatisch. Wir haben damals auch einmal gesagt, die Wirtschafts- und Währungsunion ist ein großes Modernisierungs- und Gesundungsprogramm der europäischen Volkswirtschaften und Gesellschaften.

Das ist ja genau das, was jetzt versucht wird, es ist in der Vergangenheit zu wenig versucht worden. Das muss man selbstkritisch sagen. Auch wir haben im Übrigen ja gesündigt, nicht wahr, und zwar ganz kräftig in den 90er-Jahren. Wir haben im Wesentlichen die Wiedervereinigung über die Verschuldung finanziert. Und wir haben zusammen mit Frankreich sogar formal den Stabilitätspakt aufgeweicht. Also, es ist ja nicht so, als wenn das alles ohne uns oder gar gegen uns geschehen wäre und wir frei von jedweder Schuld sind. So ist es einfach nicht.

Und wie auch immer, wir sitzen, es ist ein abgedroschenes Bild, ich weiß es, aber es ist auch eine Tatsache, dass wir in einem Boot sitzen. Entweder haben wir alle gemeinsam eine Zukunft oder gemeinsam keine Zukunft. Und natürlich, die Wirtschafts- und Währungsunion, nun haben wir gesagt, das muss ein fester, nicht ein harter, ein fester Kern sein. Damals ist dann gesagt worden auch von unserem Koalitionspartner, das sei kein Kern, sondern das sei eine Kernspaltung. Das ist natürlich Unsinn. Der ganze europäische Einigungsprozess hat sich so entwickelt von sechs Mitgliedern, die es zunächst waren, zu heute 27, und die Eurozone ist auch eben ein Kern. Und sie muss hier wie ein fester Kern werden, indem sie sich weiter institutionalisiert. Und wissen Sie, bei aller Kritik und allen Sorgen, die sind auf dem Weg. Ich sage mit Bestimmtheit, schon in fünf Jahren wird dieses Europa anders aussehen, als es heute aussieht, und in zehn Jahren sind wir wieder spitze.

Welty: Christdemokrat, Europäer und wortreicher Vordenker – Karl Lamers im Interview der Ortszeit. Ich danke herzlich und wünsche ein schönes Wochenende!

Lamers: Danke, wünsche ich Ihnen auch.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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