In einem Wendlanddorf

Landleben auf Probe

Von Maike Strietholt · 30.03.2015
In Kamerun, gut 100 Kilometer südlich von Hamburg, leben bisher 20 Menschen und 70 Pferde. Das soll sich demnächst ändern: Die Gemeinde lädt Stadtmenschen ein, das Landleben eine Woche lang kostenfrei in einem komplett eingerichteten Apartment auszuprobieren - mit der Option auf späteren Zuzug oder Neubau.
Gut eineinhalb Stunden dauert die Bahnfahrt von Hamburg zum gemütlichen Elbstädtchen Hitzacker, von dort aus sind es noch gut drei Kilometer durch hügelige Felder und kleine Waldgebiete. Auf einer weiten Lichtung dann: Weiße Koppelzäune, soweit das Auge reicht, dahinter verstreut stehende Gebäude – das Reiterdorf Kamerun.
Im Empfangsgebäude herrscht an diesem Samstagvormittag quirliges Treiben. Trixi Schnettler, Miteigentümerin der Anlage, war eben noch mit der Beratung einiger Feriengäste beschäftigt und führt nun über den Hof:
"Kamerun ist ein gewachsenes Reiterdorf, das vor 42 Jahren entstanden ist. Es gibt hier eine Massagepraxis, eine Wellnessfarm, ein Restaurant, eine Fußballschule, einen ansässigen Reitverein…"
Zur Zeit leben 30 Personen fest im Dorf – die rund 70 Pferde sind also deutlich in der Überzahl. Das könnte sich jedoch ändern: Trixi Schnettler wurde vor einigen Jahren auf das Problem der Landflucht in der Region aufmerksam – und…
"Da haben wir gesagt, dass wir auch unseren Teil beitragen wollen, der Landflucht entgegen zu wirken – und das dann auch etwas schmackhaft zu machen, indem wir diese kostenlose Probewohnwoche zur Verfügung gestellt haben – dass man das auch mal probiert.“
Probewohn-Apartment in Sichtweite zu Ställen und Koppeln
Schnettler führt zu dem voll ausgestatteten, 70 Quadratmeter großen Probewohn-Apartment, das in Sichtweite zu Ställen und Koppeln liegt. Das eigene Pferd darf auch gleich mitgebracht werden – für die meisten Interessenten der entscheidende Anreiz, aus den umliegenden Großstädten wie Berlin, Hamburg oder Hannover anzureisen. Das Fazit der bisherigen Besucher fiel mehr als einmal eindeutig aus:
"Nie wieder weg! Zuletzt war eine Familie aus Hamburg in dem Apartment – mit einem Kind und einem Pferd. Und die haben auch ganz fest vor, sich hier nieder zu lassen. Die haben auch vor, dass das Kind dann hier in Hitzacker zur Schule geht und dann noch zwei weitere Pferde angeschafft werden... Ich denke, das wird dann auch ein langfristiges Projekt werden."

Es ist also auch ein endgültiger Umzug ins Dorf möglich – nachdem vor drei Jahren die zuständige Gemeinde Göhrde eine Änderung des Bebauungsplans für Kamerun genehmigte. Trixi Schnettler deutet auf eine Reihe Blockhäuser:
"Wir haben verschiedene Varianten, sich hier niederzulassen – vom rustikalen Holzbungalow bis hin zur Wohnung ist eigentlich alles möglich. Und es wird auch in einigen Einzelfällen daran gedacht, sich etwas Eigenes zu bauen."
Platz gibt es auf dem rund 500.000 Quadratmeter großen Gelände genügend. Das größte Hindernis beim Umzug aufs Land ist allerdings bei den meisten Interessenten die Arbeitssituation – so auch bei der Hamburger Familie. Beispiele, wie es funktionieren kann, gibt es im Dorf dennoch reichlich: Einige Bewohner arbeiten im Homeoffice, andere in Teilzeit, so dass sie das Pendeln – zum Beispiel ins gut 100 Kilometer entfernte Hamburg – in Kauf nehmen.
Ralf Weber ist einer von ihnen. Der bei einem Hamburger IT-Unternehmen tätige Endvierziger hat vor einiger Zeit einen Holzbungalow fest angemietet, ein Pferd gekauft und ist seither Wochenendbewohner in Kamerun. Er zeigt sein Zweitheim:
"Das sind 45 Quadratmeter, da ist eine Küchenzeile, da hinter der Wand ist das Bad, vorne und hinten ist eine wunderschöne Veranda. Und ich habe dort ein flexibles Zaunsystem, das kann ich hier aufbauen. Und das macht so einen Spaß, die Pferde hier im Sommer grasen zu lassen..."
Das Pferd direkt vor der Haustür – wie im Bilderbuch. Wenn es beruflich möglich wäre, würde er sofort hier her ziehen, sagt Ralf Weber – spätestens aber im Rentenalter.
Auf dem Rückweg zur Rezeption begrüßt Trixi Schnettler zwei andere, gerade ankommende Wochenendbewohner – auch sie haben ihren Erstwohnsitz in Hamburg. Ein Modell der Zukunft, davon ist Schnettler überzeugt:
"Aus Gesprächserfahrungen mit potenziellen Interessenten hier für das Landleben kann ich das Fazit ziehen, dass es auch viele gestresste Stadtbewohner betrifft. Viele Menschen, die sagen, der Alltag in der Stadt ist hektisch und vielleicht haben auch die ein oder anderen Menschen schon von irgendwelchen Ermüdungserkrankungen wie Burnout etc. gehört oder ist selbst betroffen. Und es gibt doch immer wieder Menschen, die aufgrund dessen einen Zufluchtsort der Ruhe und des Krafttankens suchen. Aber eben auch nicht ganz den angenehmen Seiten des Stadtlebens abschwören wollen und deswegen auch etwas suchen, wo eine gewisse Infrastruktur gegeben ist."
Ortswechsel. Diahren, 20 Kilometer südlich von Kamerun, 10 Kilometer westlich von Lüchow. 60 Einwohner verteilen sich auf ein Dutzend großzügige Hallenhäuser, die überwiegend um einen Dorfplatz angesiedelt sind: Diahren ist eines von insgesamt 100 erhaltenen so genannten Rundlingsdörfern' im Wendland, die im Mittelalter von slawischen Völkern – auch 'Wenden genannt' – erbaut wurden.
Gemeinsamer Mittagstisch am Donnerstag
Nach Infrastruktur sucht man in Diahren vergebens, still und verschlafen liegt der kleine Ort in der Frühlingssonne. Vor einem der Häuser aber parken mehrere Autos, Schulranzen und Fahrräder liegen bunt durcheinander.
Rund ein Dutzend Personen, darunter etliche Kinder, sitzen an zwei großen Tischen, mehrere Hunde wuseln durcheinander. An der Seite ist ein großzügiges Buffet aufgebaut.
Gero Wachholz ist eigentlich Schauspieler und Regisseur, jeden Donnerstag widmet er sich aber seiner Kochleidenschaft und lädt im Dorf zum gemeinsamen Mittagstisch ein. Zumindest dann, wenn er gerade keinen Job an irgendeinem deutschen Theater hat. Da geht es ihm wie Uwe Serafin, frei schaffender Schauspieler, der zur Zeit täglich mit Auto und Bahn nach Hamburg pendelt:
"Im Altonaer Theater spiele ich im Moment 'Fräulein Smillas Gespür für Schnee', für zwei Monate. Jeden Tag nach Uelzen, und dann mit Monatskarte weiter... Und dann muss ich nach der Vorstellung flitzen, und bin um halb eins wieder zu Hause."
Uwe Serafin ist auch Mitglied der 'Freien Bühne Wendland', die rund ums Jahr im Landkreis Inszenierungen anbietet – davon allein leben kann er aber nicht. Es sei schon ein wenig mühsam, Engagements zu bekommen, erzählt er:
"Aber, ich meine: Es geht. Wir haben es geschafft, unser Haus nach 13 Jahren abzubezahlen. Wir haben zwar weite Wege, aber wir zahlen nicht 1000 Euro Miete im Monat – oder 1.500, oder was man zur Zeit so zahlt in Frankfurt oder Hamburg. Das heißt wir müssen auch weniger Geld verdienen, um überleben zu können.“
Vermutlich ein Grund dafür, dass so viele kreativ Tätige im Wendland leben. Uwe Serafin kennt aber noch einen Weiteren:
"Das hat mit den Leuten hier zu tun, die hier wohnen. Und die Leute sind hier wegen Gorleben. Oder sind hier gelandet wegen der Leute, die wegen Gorleben hier gelandet sind. So dass du hier politisierte Leute hast. Und dann ist es einfach leichter zu leben."
Zumindest für diejenigen, die mit Schützenverein und Landfrauenbewegung weniger anfangen können. Das kulturelle Angebot der Großstadt vermisst Uwe Serafin schon gelegentlich, schätzt aber auch die vielfältigen gemeinsamen Aktivitäten im Dorf – von Holzsammeln für den Ofen, mit dem hier viele heizen, über Müllsammelaktionen und Grillabende auf dem Dorfplatz. Und da ist nicht nur Jung und Alt aus dem Dorf anwesend.
"Wenn Anfang Januar hier Charly seinen Grill herausholt, dann weiß es das halbe Wendland.“
Das fügt Jeannette Arndt, ebenfalls Schauspielerin, grinsend hinzu. Ihr Sitznachbar Gisi Kühn – einer der wenigen Anwesenden, die im Wendland aufgewachsen sind – betont aber, dass es in Diahren nicht immer so lebendig zu ging:
"Ich bin 1990 hier hergezogen, da war dieses Dorf bewohnt mit alten einheimischen Menschen. Die sind nach und nach mehr oder weniger weggestorben. Dann stand das Dorf halb leer, jeder zweite Hof war zum Verkauf angeboten – und das hat sich dann wieder bevölkert.“
Katrin Karmann war stadtmüde
Eine der ersten, die kam, war Katrin Karmann. Vor 14 Jahren entschied sich die heute 49-Jährige aus purer Stadtmüdigkeit gegen das Leben in Hamburg und machte sich auf die Suche nach Alternativen auf dem Land:
"Wir haben dieses und jenes angeguckt und sind hier im Wendland hängengeblieben. Ich fand das unglaublich, was hier los ist – und was hier für eine Atmosphäre herrscht."
Katrin Karmann und ihr damaliger Lebensgefährte fuhren über die Dörfer und machten den Winktest. Und da im Wendland – ganz im Gegensatz zu anderen Regionen, die meisten Anwohner zurück winkten – kaufte Katrin Karmann mithilfe einer Erbschaft ihr Haus in Diahren.
Heute betätigt sich die ehemalige Journalistin unter anderem als Fotografin und Schulmediatorin und hält eine kleine Mutterkuhherde. Es sei hier durchaus üblich, dies und das zu machen, sagt sie. Außerdem betreibt sie gemeinsam mit einigen Nachbarn im Sommer ein Sonntagskaffee auf dem Hof, das in den vergangenen Jahren etliche weitere Leute in den Ort und die Region brachte – vor allem während der 'Kulturellen Landpartie', bei der jährlich zwischen Himmelfahrt und Pfingsten im gesamten Wendland Kunst und Kultur dargeboten wird.
"Darüber lief eine Menge! Wieder hatten immer wieder Gäste von außen, die guckten und bei uns ein bisschen andockten, denen wir auch Kontakte vermitteln konnten... Diahren ist ein beliebtes Dorf."
Und zwar nicht nur bei Künstlern: Erst vor zwei Jahren zog ein junges Ärztepaar aus Leipzig mit zwei kleinen Kindern nach Diahren. Problemlos fanden sie Arbeit im knapp 20 Kilometer nördlich gelegenen Dannenberg und dem etwas weiter entfernten Uelzen.
Das Zusammenleben der jungen Familien mit den wenigen verbliebenen Alteingesessenen des Ortes, meist ehemalige Bauern beschreibt Katrin Karmann als grundsätzlich harmonisch – gelegentliche Meinungsverschiedenheiten blieben aber natürlich nicht aus:
"Ob ein Baum stehen bleiben soll oder weg soll, oder ob eine Hecke weg soll... Da haben dann neu Zugezogene wie wir manchmal eine andere Sicht auf die Dinge."
Es gibt nur zwei Busverbindungen zur Schule
Ein Problem, das Alt und Jung im Wendland gleichermaßen betrifft, ist der schlecht ausgebaute öffentliche Nahverkehr. Auch in Diahren gibt es lediglich morgens und mittags eine Busverbindung zur nächst gelegenen Schule.
Der 'Fahrgastrat' in Lüchow ist eine ehrenamtliche Initiative, die in Kommunikation mit dem Landkreis und den zuständigen Verkehrsbetrieben den Ausbau des Bus- und Bahnverkehrs in der Region voranbringen möchte.

"Sehr wenige Menschen und viele kleine Dörfer, das ist eben unser Hauptproblem",
bringt es Torsten Hensel vom Fahrgastrat es auf den Punkt. Lüchow-Dannenberg ist einer der am dünnsten besiedelten Landkreise in Deutschland, rund 48.000 Einwohner leben hier zur Zeit. Und auch wenn es in florierenden Ortschaften wie Kamerun und Diahren nicht so scheint: Die Region ist von Abwanderung und Überalterung ebenso betroffen wie viele andere ländliche Gegenden in Deutschland. Für das Jahr 2030 wird ein weiteres Absinken der Einwohnerzahl um rund 10.000 Personen erwartet – und 40 Prozent der Verbleibenden werden dann über 65 Jahre alt sein. Für Torsten Hensel muss daher eine Veränderung im Verkehrssektor her:

"Weil wir das Problem hier haben, dass auf den Hauptstraßen die Anbindung noch relativ gut ist. Wir haben es so, dass fast jedes zweite Dorf in unserem Landkreis in den Ferien kein Busangebot hat. Und deswegen wollen wir zukünftig verstärkt auf Rufbusse setzen."

Das einzige bezahlbare Modell bei den gegebenen Entfernungen und geringen Fahrgastzahlen, erklärt Torsten Hensel. Es gehe jedoch nicht nur um die Mobilität innerhalb des Wendlands, sondern auch um die Anbindung an die umliegenden Städte:
"Das ist wie eine kleine Lebensversicherung – dass man eben die Möglichkeit hat, nach Hamburg zu fahren. Oder nach Berlin, von Salzwedel aus, das ist ja quasi unser Südbahnhof, wo man dann in eineinhalb bis zwei Stunden da ist."
Diese 'Lebensversicherung' sei vor allem für Zugezogene wichtig.
"Gerade in der Großstadt ist es ja so, dass viele Leute gar kein Auto haben. Wir müssen schon eine Voraussetzung schaffen, dass auch jüngere Leute hier hin ziehen können, ohne ständig mit dem Auto fahren zu müssen.“
Nach Hamburg gibt es bislang jedoch nur wenige Male täglich eine Verbindung, und die Bahn fährt auf der unbeschrankten Strecke recht langsam. Vor allem hier bestünde dringender Ausbaubedarf, sagt Torsten Hensel – der aber bislang an der mangelnden Investitionsbereitschaft der Deutschen Bahn scheitere.

An Vernetzung hapert es im Wendland aber auch noch an anderer Stelle: Die Internetverbindungen sind in vielen Ecken Deutschlands vier- bis fünfmal so schnell wie im Wendland – ein Standortnachteil, vor allem wenn es darum geht, Firmen und Freiberufler in die Region zu locken. Renate Ortmanns-Möller, zuständig für Regionale Entwicklungsprozesse im Landkreis Lüchow-Dannenberg:

"Wenn wir es nicht schaffen, da eine vernünftige Anbindung darzustellen, werden wir verlieren. Das macht sich ja jetzt schon bemerkbar bei den Grundstückspreisen, dass hier sehr günstig Land und Grundbesitz zu erwerben ist. Das ist nicht nur, dass sie dann nur Probleme mit dem Breitband haben, sie haben dann auch telefonische Probleme."
Landkreis kündigt Breitband-Ausbau an
Diese Probleme sollen aber bald der Vergangenheit angehören: Jüngst kündigte der Landkreis einen nahezu flächendeckenden Breitband-Ausbau innerhalb der kommenden drei Jahre an.
Und vielleicht kann ein schnelleres Internet auch dabei helfen, mehr junge Leute in der Region zu halten – die wandern nämlich zur Zeit nach der Schulausbildung größtenteils ab. Dabei gibt es vor Ort reichlich Möglichkeiten zur Berufsausbildung – weiß Sigrun Kreuser von der Initiative für Ausbildung des Landkreises:
"Es werden über 100 Berufsbilder im Landkreis angeboten. Der Klassiker sind Groß- und Außenhandelskaufleute, also die kaufmännischen Berufe, der metallverarbeitende Bereich, der KFZ-Mechatroniker... Wir haben zwar keine Universität hier, aber ganz viele Angebote zum Dualen Studium."

Und so organisiert die Bildungsinitiative eine jährliche Berufsbildermesse, bietet ein Planspiel zur Jobfindung mit Regionalbezug für Schulen an und erarbeitet zur Zeit – als neuestes Projekt – Infomaterialien über die lokalen Ausbildungsbereiche und -betriebe.
Die Betriebe wiederum freut das – suchen sie doch seit Jahren händeringend nach Azubis. So auch das Autohaus Stoedter in Dannenberg:

"Also, wir haben einmal das Berufsbild Mechatroniker, also den Techniker im Werkstattbereich. Und wir haben den Kaufmann oder Kauffrau, also Kundenkontakte, Aufträge erstellen, Termine machen... Gerade im technischen Bereich haben wir eben das Problem, dass uns der Nachwuchs fehlt."

Hier wäre die starke Frau oder der starke Mann gefragt, sagt Stodeter – wo auch immer die dann herkommen: Der Autohauschef war begeistert, als Gerhard Harder, pensionierter Hochschullehrer für Interkulturelle Pädagogik, mit seiner Idee an ihn herantrat: Ausländische Azubis in die Region holen.
"Wir haben gedacht – gehe wir mal weiter weg: Wenn wir hier im Umfeld kein Nachwuchs finden, könnten doch in EU-Länder in Frage kommen – und wir wissen, da ist ja eine hohe Jugendarbeitslosigkeit. Dann haben wir mitgekriegt, dass die Unternehmer sagen: Es gibt ein Hauptproblem, das sind die Deutschkenntnisse. Und wenn man die Leute selber fragt, warum sie abbrechen, dann sind das Sachen wie: Isolation, Alleinsein. Das reine Zur-Verfügung-Stellen von Wohnraum und Arbeitsplatz scheint nicht zu funktionieren.“
Auf dieser Wissensgrundlage entwickelteGerhard Harder ein alternatives Konzept:
"Es gibt einen großen Hof im Marlin, das ist ein 13-Zimmer-Haus, hat Scheunen und Freizeitmöglichkeiten aller Art, wo die Auszubildenden ein Wohnumfeld vorfinden, wo sie sich wohlfühlen, wo man auf sie eingeht. Also eine interkulturelle Wohngemeinschaft.00“

Gemeinsam mit den jetzigen Bewohnern des Hofes, die dort eine kleine Landwirtschaft plus Reiterhof betreiben. Eine Kooperation mit einer Berufsschule zwecks Sprachkurs besteht bereits, der Transport zu den Ausbildungsstätten soll ebenfalls geregelt werden. Und das Autohaus Stoedter ist nicht der einzige interessierte Ausbildungsbetrieb – Gerhard Harder zählt auf:

"In den Branchen Sanitär, Elektro, Mechatronik, Floristin, Zahnarzthelferin, Altenpflege, Zimmermann, Tischler.“
Überall dort wäre eine Ausbildungsstelle auch für ausländische Bewerber frei – fehlen also nur noch die Bewerber. Über persönliche Kontakte, Wohlfahrtsverbände, Kirchen und Handwerkskammern sollen sie bis zum Beginn des neuen Ausbildungsjahres gefunden werden.
Sven Stoedter vom Autohaus hat bereits mit ausländischen Fachkräften Erfahrungen gesammelt – mit seinem aktuellen Betriebsleiter beispielsweise. Der stammt nämlich...

„...aus Kasachstan. Wir haben – egal vorher der Mensch kommt – gute Erfahrungen damit gemacht und die Leute auch größtenteils übernommen.“

Stoedter kennt etliche Betriebe im Umkreis, die aufgrund von Nachwuchsmangel aufgeben mussten. Seinen 50 Jahre alten Familienbetrieb soll dieses Schicksal nicht ereilen.
Beim 'Kreativlabor' der 'Grünen Werkstatt Wendland' wirkt das Wendland wiederum so gar nicht wie eine von Abwanderung betroffene Region: Überwiegend freiberuflich Tätige sind an diesem Abend zusammen gekommen, um sich auszutauschen und zu vernetzen. Moderatorin Meike Koopmann erklärt, wofür die 'Grüne Werkstatt' steht:
"Die Grüne Werkstatt ist seit vier Jahren dabei, junge Leute und Fachkräfte für die Region Wendland zu begeistern. Und dabei aus dem eigentlichen Nachteil – nämlich eine Region ohne Hochschule zu sein – einen Vorteil zu machen, indem wir eine Region mit vielen Partnerhochschulen entwickeln."
Die Freiberufler haben Gesprächsbedarf
Heute soll es aber um die bereits ausgebildeten und überwiegend auch studierten Freiberufler gehen – und deren Gesprächsbedarf ist offensichtlich groß: Der kleine Raum im alten Postgebäude in Lüchow ist prall gefüllt. Unter anderem aus den Bereichen Handwerk und Metallbau sowie der Design – und IT-Branche sind Aktive vor Ort. Zum Beispiel Maznu, der vor drei Jahren mit seiner Frau aus Köln herzog und folgendes sucht:

"Erst einmal eine Bürogemeinschaft, aber nicht nur – auch Austausch. Ich bin Informatiker und meine Frau ist Grafikerin. Ich arbeite für einen Kunden in München, alles über Internet."
Viele der Anwesenden produzieren und arbeiten für das Umland, in der Diskussion wird aber schnell klar, dass sie sich mehr wünschen als gemeinsame Büroräume.
"Was mich thematisch interessiert, ist, Schnittstellen zu finden zwischen Design und Handwerk." – "Ich wäre für Programme/Software. Ein großes Paket von den aktuellsten Programmen, und dann kann man sich da eine Lizenz für 100 Euro kaufen, anstatt allein 2000 Euro für das neue Photoshop auszugeben."
Gerade für junge Neuankömmlinge ist so etwas interessant – so wie die 27-jährige Julia, die Industriedesign studiert hat und zur Zeit noch halb in Hamburg wohnt. Eigentlich möchte sie aber ins Wendland:
"Ich muss noch ein bisschen schauen, wo ich im kreativen Bereich hin möchte. Ich kann mir eine Selbständigkeit in einem gut vernetzten Umfeld vorstellen, mit vielen Leuten arbeiten - auch interdisziplinär."

Die junge Hamburgerin ist im gleichen Alter wie Martje Mehlert, eine weitere Moderatorin des Abends, die ebenfalls ganz frisch hergezogen ist: Als bei ihr vor zwei Monaten ein Ortswechsel anstand, fragte sie sich in letzter Minute: Muss man eigentlich nach Berlin? Und entschied sich fürs Wendland – wo dann doch einiges anders läuft als in der Stadt.
"Das ganze Technische ist ein Punkt, über schnelles Internet bis zum Drucker. Überhaupt Internet, wieso findet man gar nichts? Wo ist meine Plattform, auf der ich mich einlogge? Hier im Wendland läuft noch viel über Knotenpunkte: Irgendwann gerät man zu der Person, die das halbe Wendland kennt. Für Leute, die ankommen, das deutlich zu machen: Wo sind Anknüpfpunkte.“
Auch wenn es lange Zeit anders funktioniert hat, sei es im Internetzeitalter einfach sinnvoll, die gegebenen Vernetzungsmöglichkeiten auch zu nutzen, findet Martje Mehlert. Vielleicht ein entscheidender Faktor, um der Region eine lebendige Zukunft zu sichern – ein älterer Teilnehmer regt die abendliche Runde ebenfalls dazu an, Altes abzustreifen und den Blick nach vorn zu richten:
"Wir alle müssen darüber nachdenken, für wen produzieren wir eigentlich? Werden wir ein Global Player, der versucht mitzuhalten, oder haben wir hier einen eigenen Kreativmarkt, der sich trägt oder hält? Ich verstehe, dass ganz viele von euch nun auch ökonomisch denken müssen und sagen: Ich will davon leben! Das war früher nicht so, vor 30 oder 40 Jahren, man konnte hier anders leben. Das ist heute nicht mehr machbar, die Verhältnisse haben sich radikal gedreht. Deshalb, denke ich, wäre es wichtig, dass wir den Kopf mal aus der Sandgrube rausstrecken und fragen: Was soll daraus werden?“
Mehr zum Thema