"In dieser Geste von Brandt haben sich viele wiedererkannt"

Karl Schlögel im Gespräch mit Dieter Kassel · 25.11.2010
"So etwas kann man nicht fabrizieren, nicht künstlich machen, sondern so etwas findet statt", so die Einschätzung des Historikers Karl Schlögel. Willy Brandts Kniefall am 7. Dezember 1970 sei von einer "Wahrhaftigkeit, die unüberbietbar ist".
Dieter Kassel: Zunächst hatte niemand etwas Außergewöhnliches erwartet, als Bundeskanzler Willy Brandt am 7. Dezember 1970 kurz vor der Unterzeichnung des Warschauer Vertrags – wegen dieser Unterzeichnung war er schließlich nach Polen gereist – als er kurz vorher das Ehrenmal für die Helden des Warschauer Gettos besuchte. Was Brandt dann tat allerdings, war so außergewöhnlich, dass jetzt, 40 Jahre später, nicht nur in Polen und Deutschland noch immer daran gedacht wird. Ein historischer Moment, der damals kurze Zeit danach ungefähr so in einer Radioreportage beschrieben wurde.

Der Kniefall von Warschau, beschrieben kurz nachdem das Ganze stattgefunden hatte, in einer Radioreportage, damals im Dezember 1970. Am 7. Dezember dieses Jahres feiern wir den 40. Jahrestag, das wird ja inzwischen wirklich so groß angehängt, dieses Ereignisses, schon jetzt aber, ein paar Tage vorher, findet zu diesem Thema ein Symposion in Berlin statt, und aus diesem Grund ist zu mir ins Studio vor diesem Symposion gekommen Karl Schlögel. Er ist Professor für osteuropäische Geschichte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Schönen guten Tag!

Karl Schlögel: Guten Tag!

Kassel: Sie waren damals, wenn ich mich nicht verrechnet habe, 22 Jahre alt, als das passiert ist. Haben Sie eine Erinnerung daran, wie Sie das selber damals auch ganz privat mitbekommen haben, dieses Ereignis, den Kniefall?

Schlögel: In meiner Erinnerung ist es eigentlich absent im Vergleich zu dem monumentalen Bild, das man heute von dieser Szene hat. Ich habe eine sehr genaue Erinnerung an das Bild, das aus ich glaube Dallas kam von der Erschießung von Kennedy, daran kann ich mich sehr gut erinnern, während die Szene in Warschau sich eigentlich ich glaube erst viel später aufgebaut hat in der Erinnerung an das, was die neue Ostpolitik war, was Brandt war, was der Brückenschlag nach Osteuropa bedeutet hat.

Kassel: Haben Sie das Gefühl, dass der eigentliche Anlass dieser Reise von Willy Brandt, die Unterzeichnung des Warschauer Vertrags nämlich, deshalb ist er nach Polen gefahren natürlich damals, fast ein bisschen in den Hintergrund getreten ist in der Rückbetrachtung im Vergleich zu dieser enormen Geste?

Schlögel: Ich glaube, damals war es so, dass die ganzen Leidenschaften, die um dieses Ereignis herum aufkamen und ausgetragen wurden, die gingen natürlich um den Vertrag, also es ging um die Ungeheuerlichkeit eigentlich, die Anerkennung des Verlustes eines großen Teils des staatlichen Territoriums. Ich bin ja noch in einer Schule aufwachsen, wo an der Wand diese Landkarte hing, unter polnischer und unter sowjetischer Verwaltung, also Deutschland in Grenzen von 1937. Und ich glaube, die ganze Nachkriegsgeneration ist noch mit diesem Bild aufgewachsen. Und ich glaube, dass die Vertragsunterzeichnung wirklich ein ganz bedeutender Akt war.

Sie können das noch ablesen an dem Brief, den glaube ich Marion Gräfin Dönhoff an Brandt geschrieben hat. Sie hat geschrieben: Ich aus Ostpreußen kommend, ich bringe es nicht über mich, obwohl ich Ihre Politik und die neue Ostpolitik unterstütze, ich bringe es nicht über mich, dabei zu sein. Daran kann man eigentlich ermessen, dass das kein Spaziergang, dass das nicht einfach ein formeller Akt war, sondern ein sehr gravierender Vorgang.

Kassel: Aber dieses Bild, dieser damalige Bundeskanzler kniend vor diesem Ehrenmal für die Helden des Warschauer Gettos, was macht bis heute diese Prägnanz aus?

Schlögel: Ich glaube, dass zwei Dinge da wichtig sind. Einmal, es gibt Situationen, die weder konstruierbar noch planbar sind, die sich jeder Regie entziehen, sondern die es einfach gibt. Und ich bin absolut der Auffassung, dass es keine geplante Demonstration war, die Demonstration einer Demutsgeste oder so etwas, sondern ich glaube, dass das wahr ist, was Brandt gesagt hat: Es gibt Situationen, in denen das Wort versagt, in denen man sozusagen eines anderen Ausdrucksmittels bedarf, sozusagen er ist in die Knie gegangen vor dieser Situation. Und das gibt dem eine absolute, wie soll ich sagen, Wahrhaftigkeit, die unüberbietbar ist.

Aber zum prägnanten Bild, das wissen wir ja aus sozusagen den Bildforschungen, die Ikonografie inzwischen, gehört ja noch mehr, nämlich dass sich in einem Bild auf Dauer hin nicht nur der Moment findet. Und ich glaube, dass in diesem Bild konzentriert zusammengefasst ist die Empfindung von, ich würde sagen von sehr vielen Deutschen und darüber hinaus auch Polen, die sich in diesem Bild in gewisser Weise wiedererkennen, nämlich dass doch 30 Jahre nach dem Krieg ungefähr angekommen ist, was sich eigentlich abgespielt hat in Warschau.

Dieses Deutschland, das schwer getroffen war, war ja in den ersten Nachkriegsjahrzehnten sehr mit sich selbst beschäftigt, und was dort im Osten passiert ist, das wusste man eigentlich nicht oder wollte es nicht wissen oder man war überfordert, das zur Kenntnis zu nehmen. Und so allmählich kam an, dass da etwas Ungeheuerliches passiert ist. Und ich glaube, in dieser Geste von Brandt haben sich viele wiedererkannt, die sich dem zugewandt hatten.

Und was die polnische Seite angeht, ich glaube, sie war nicht minder überrascht, das war in ihrem Programm nicht vorgesehen, in ihrer Wahrnehmung dessen, was deutsch oder deutsche Politik ist. Das war ein absolutes, wie soll man sagen, ein Überraschungsmoment, ein Skandalon. Und Cyrankiewicz, der damalige Ministerpräsident, hat Brandt ja am nächsten Tag das auch gesagt, wie erschüttert und bewegt er von diesem Moment war oder seine Frau, dass sie am Telefon geweint hat. So etwas kann man nicht fabrizieren, nicht künstlich machen, sondern so etwas findet statt oder es findet nicht statt.

Kassel: Wir reden im Deutschlandradio Kultur mit dem Historiker Karl Schlögel über den Kniefall Willy Brandts am 7. Dezember 1970 am Ehrenmal für die Helden des Warschauer Gettos. Man kann so was nicht reproduzieren, man kann – und deshalb glaube ich, können wir uns beide drauf einigen, wie die meisten, auch Feinde Brandts – man kann ihm glauben. Es war eine Idee des Moments und des Überwältigtseins von diesem Moment. Aber gibt es trotzdem, was Symbolik in der Politik angeht und was die Wirkung solcher Gesten angeht, Vergleichbares?

Schlögel: Ich habe mich das auch gefragt, ob es noch andere Bilder gibt, und ich kann mich eigentlich nicht an solche glücklichen Momente erinnern. Also selbst, wenn man die Begegnung von Mitterand und Kohl, wo sie sich an den Händen fassen, das hat auch etwas Rührendes – ich glaube in Verdun oder in Reims war das –, oder die Umarmung von Mazowiecki und Kohl, das war alles schon irgendwie eingebettet, man war vielleicht darauf vorbereitet. Das sind auch schöne und bewegende Gesten, aber es kommt nicht an dieses Moment heran.

Also wenn ich in meinem Bilderhaushalt nachsehe, würde ich eher auf andere Momente kommen, beispielsweise in der Zeit des Umbruchs um '89 herum, wo für mich Gesten interessant geworden sind, wo man bemerkt hat, dass sozusagen die alte Gestik, die alten Rituale der alten Verhältnisse, der alten Macht nicht mehr funktionierten und wo man merkte, es gibt so eine neue Form des Lernens, wie man frei und offen spricht. Gesten der Verunsicherung, des Souveränwerdens der Sprache oder auch natürlich andere Szenen der Verzweiflung und des Verzweifelten, zum Beispiel wenn man sich erinnert an diese ungeheure Szene von Ceausescu oben auf dem Palast, auf der Balustrade, wo er völlig fassungslos auf diese tosende und protestierende Menge schaut, das ist sozusagen die Geste der Hilflosigkeit, der verzweifelten Macht, die merkt, dass die Macht ihr entgleitet.

Aber sozusagen glückliche und produktive Momente, wo sich etwas so zusammenfasst in dieser Stärke, kann ich mich nicht erinnern. Oder es gibt noch eine andere Szene: der Auftritt von Andrej Sacharow im obersten Sowjet, wo er völlig ungeschützt einfach seine Meinung sagt, in einem Auditorium, was nie daran gewöhnt war, dass jemand sozusagen seine Gedanken beim Sprechen verfertigt und wo man den ganzen Charme einer unsicheren, aber doch souveränen Sprache merkt. Und er hat sozusagen gegen diese Masse von Leuten angesprochen, gegen diese Mauer, die ihn des Unpatriotismus und des Verrats bezichtigt hat.

Kassel: Aber alle Beispiele, die Sie jetzt genannt haben, Professor Schlögel, unterschiedliche Menschen in unterschiedlichen Situationen mit unterschiedlichen Anliegen, wo sie welche hatten, haben eins gemeinsam: Es waren ungeplante, ehrliche, zum Teil, aber das ja schon nicht immer, auch nicht ganz ungefährliche Momente, aber Momente, wo Leute ungeschützt einfach das taten, was sie offenbar bewegt hat, das gilt natürlich auch für Brandt und diesen 7. Dezember 1970, aber leben wir vielleicht inzwischen in einer Zeit, wo so was allein schon aufgrund unserer Medien nicht mehr geht? Könnten Sie sich eine Geste mit dieser Wirkung überhaupt noch vorstellen im Jahr 2010?

Schlögel: Ich glaube doch, dass unvorhergesehene Momente und Konstellationen auch Reaktionen möglich machen, wo man einfach auf neue Situationen reagieren muss und wo auch Hightech überrumpelt wird. Das kann ich mir durchaus vorstellen. Und ich meine, ich brauche Sie nicht daran zu erinnern, es hat Bilder gegeben, die in unserem Vorstellungshorizont nicht vorgesehen waren. Sie kennen das Bild mit den Flugzeugen, die in die Türme rasten – wir waren nicht darauf vorbereitet, dass es solche Bilder geben könnte. Und ich glaube, in neuen Situationen, wenn Menschen sozusagen auf der Höhe der Zeit sind, die diesen neuen Situation gewachsen sind, dann können sie dem auch Ausdruck verleihen. Und Brandt war offensichtlich in dieser Situation, wo ihm die Sprache versagte, jemand, der dem Ausdruck geben konnte.

Kassel: Der Historiker Karl Schlögel über den historischen Kniefall Willy Brandts am 7. Dezember 1970.
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