In der Türkei "finden ja sehr wohl Reformen statt"

01.11.2012
Der Umgang der Türkei mit den Minderheiten im Land ist nach Ansicht der Bundesjustizministerin einer der Gründe dafür, dass sich die Beitrittsverhandlungen mit der EU hinziehen. Insgesamt bescheinigt sie dem Land aber "großen Reformschwung".
Hans Ostermann: Fortschritt sieht ganz sicher anders aus, auch wenn gestern Bundeskanzlerin Merkel beim Besuch des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan von einem sehr engen Verhältnis sprach. In mindestens einer Frage liegen beide Länder weit auseinander: im angestrebten Beitritt der Türkei zur Europäischen Union. Seit mehr als sieben Jahren laufen die Verhandlungen, und der letzte Fortschrittsbericht fiel verheerend aus. Während Erdogan in Deutschland war, hält sich die Bundesjustizministerin in der Türkei auf. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, FDP, ist jetzt am Telefon von Deutschlandradio Kultur. Guten Morgen, Frau Leutheusser-Schnarrenberger!

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger: Guten Morgen, Herr Ostermann!

Ostermann: Sie haben die fehlende Meinungsfreiheit in der Türkei kritisiert, auch andere rechtsstaatliche Defizite. Wie haben eigentlich Ihre Gesprächspartner darauf reagiert?

Leutheusser-Schnarrenberger: Wir haben hier in der Türkei – meine Delegation und ich – sehr offene Gespräche geführt, auch mit meinem türkischen Kollegen. Das ist ein gutes Gesprächsklima, aber es wird eben auch deutlich gesprochen über das, was sich aus meiner Sicht auch positiv entwickelt – hier finden ja sehr wohl Reformen statt, auch Justizreformen statt –, aber auch da, wo es Massenverfahren gibt gegen Anwälte, gegen Journalisten, habe ich das voll angesprochen, auch deutlich benannt, und natürlich versuchen unsere Gesprächspartner dann auch, Dinge darzustellen, zu erklären. Aber ich glaube, wenn man gute Beziehungen hat, wie Deutschland und die Türkei sie haben, dann gehört das einfach dazu.

Ostermann: Ihre Kollege Ergin beklagte sich umgekehrt über Urteile aus der EU, das spricht doch nicht unbedingt dafür, dass die Chemie so unbedingt stimmt und auch nicht die Überzeugungen.

Leutheusser-Schnarrenberger: Es gibt einmal hier in der Türkei natürlich auch eine kritische Wahrnehmung der Entscheidungen des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs. Seit vielen Jahren gibt es ja dort Entscheidungen, die sich befassen mit den hier lebenden Minderheiten, den Aleviten, den Christen, aber auch im Hinblick auf andere Menschenrechtssituationen, aber es ist – und das muss man auch akzeptieren – es ist in der Türkei jetzt mit der Einführung der Individualbeschwerde zum Verfassungsgericht eine Verbesserung eingetreten gerade im Hinblick auf die Verurteilung durch den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof. Und das wird man jetzt sehen, wie sich das entwickeln wird, aber da liegen jetzt schon 400 Beschwerden vor, und das Verfassungsgericht – ich hatte Gespräche gestern mit dem Präsidenten und mit Richtern –, die gehen da sehr unabhängig und offen heran. Also da sehe ich eine Chance, dass sich gerade auch diejenigen dahin wenden können, die jetzt ihre Rechte – eben gerade auch Pressefreiheit, Meinungsfreiheit – verletzt sehen.

Ostermann: Trotz dieser Chance, inwiefern trägt der Ministerpräsident Schuld daran, dass es so langsam vorangeht?

Leutheusser-Schnarrenberger: Dass der Beitrittsprozess langsam vorangeht, liegt natürlich an den Bewertungen, die die Fachleute der Europäischen Union abgeben, und ich glaube, dass gerade hier in der Türkei, seitdem die AKP regiert, jetzt seit über zehn Jahren, ein großer Reformschwung da war, aber jetzt natürlich das Problem des Umgangs mit den Kurden, mit den Armeniern, aber auch mit den christlichen Minderheiten die Identität der Türkei schon berührt und dass deshalb in dem Bereich es jetzt nicht zu großen Reformschritten kommt.

Ostermann: Die alevitische Gemeinde in Deutschland kritisierte Erdogan vor allem, weil seine Politik bei uns zum Aufbau einer Parallelgesellschaft beitrage. Wie berechtigt ist diese Kritik?

Leutheusser-Schnarrenberger: Die Aleviten haben nicht die Möglichkeit, nach ihrer Vorstellung ihre Religion, die ja im weitesten Sinn zum Islam gehört, aber ihre eigene Ausprägung hat, so zu leben, wie sie das wollen. Das geht bei denen auch mit Gebetshäusern los, die sie gerne natürlich nach ihren Vorstellungen errichten wollen. Und da gibt es eine wirklich unterschiedliche Bewertung, denn in der Türkei, auch von der zuständigen Behörde, dem Amt für religiöse Angelegenheit, werden die Besonderheiten der Aleviten nicht gesehen, sondern sie werden als zum Islam gehörig bewertet. Und das führt dazu – es leben ja hier 15 bis 20 Millionen Aleviten –, dass, glaube ich, sie sich auch gerade in andere Länder orientieren und in Deutschland, damit ihre eigenständigen Organisationen sehr viel bessere Bedingungen vorfinden.

Ostermann: Frau Leutheusser-Schnarrenberger, die Kanzlerin sprach gestern davon, die Europäische Union verhandle ergebnisoffen über einen Beitritt, aber stimmt das überhaupt? 2020 wäre die Türkei das bevölkerungsreichste Land, die Machtverhältnisse würden sich erheblich verschieben.

Leutheusser-Schnarrenberger: Es findet ein sehr breiter Dialog zu allen Themen statt, auch offen in der Richtung, dass natürlich gehofft wird, dass sich weitere Verbesserungen gerade in diesen sensiblen und schwierigen Menschenrechtsfragen ergeben, aber ich glaube, dass man jetzt hier nicht – und das ist auch nicht die Politik der Bundesregierung – sagen kann, ganz egal, wie sich die Türkei entwickelt, aus rein machtstrategischen Gründen wird der EU-Beitrittsprozess beschleunigt und auch schon mit einem Zieldatum verabschiedet. Ich glaube, es ist ganz, ganz entscheidend, dass zwar auch mit dieser notwendigen Offenheit, das halte ich für absolut richtig, sehr auch auf die Verbesserungen in der Sache, gerade was die universellen Menschenrechte angeht, geachtet wird.

Ostermann: Na ja, aber trotzdem noch mal, wird da offen miteinander umgegangen, denn die Sorge, jedenfalls in vielen Ländern der Europäischen Union, ist doch da. Die Außengrenzen würden sich verschieben, Sie selbst werden heute ein Flüchtlingslager nach Syrien besuchen, das heißt, die außenpolitischen Probleme würden doch dann um ein Erhebliches größer?

Leutheusser-Schnarrenberger: Man muss aber genau bei diesem Blickwinkel auch sehen, dass die Türkei als ein wichtiger Partner in der NATO ja damit auch in einer engen Beziehung zu den Vereinigten Staaten von Amerika eine bedeutende Rolle wahrnimmt, auch jetzt gerade im Umgang mit den ja wohl über 100.000 Flüchtlingen, die bisher aus Syrien hier in die Türkei gekommen sind, wirklich sehr, sehr große Anstrengungen vollzieht und sich einbringt. Also strategisch ist doch die Türkei dank auch ihrer NATO-Mitgliedschaft und ihrer wichtigen Rolle, die sie wahrnimmt, schon auch sehr nahe bei Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika.

Ostermann: Die Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, FDP, die sich derzeit in der Türkei aufhält. Ich danke Ihnen sehr für das Gespräch heute früh!

Leutheusser-Schnarrenberger: Ich bedanke mich, Herr Ostermann!
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