In der Sympathie-Falle

Von Michael Laages · 09.10.2009
Das jüngste Projekt von "Rimini Protoll” erinnert an ein paar Mitbürger, die gern vergessen werden im aktuelle Erinnerungstrubel nach 20 Jahren neuer deutscher Einheit: die DDR-Vertragsarbeiter aus Vietnam.
Einmal mehr setzen die Erfinder des Projekt-Kollektivs "Rimini Protokoll” auf Authentizität pur - am Dresdner Staatsschauspiel bitten sie eine Handvoll jener Mitmenschen auf die Bühne, deren Schicksal bislang niemanden ernstlich interessierte im allgegenwärtigen Erinnerungstrubel nach zwanzig Jahren neuer deutscher Einheit. Und auch damals haben sie immer wieder zu spüren bekommen, wie herzlich unwillkommen sie waren.

Oft waren sie noch aus den Wirren des Krieges und danach aus den Mühen des Wiederaufbaus in Vietnam nach Deutschland geflüchtet - und in der DDR gelandet. "Vertragsarbeiter” wurden sie genannt, auf einem staatlichen Abkommen zwischen Heimat- und Gastland beruhte ihr Alltag im anderen deutschen Staat.

Als der sich quasi in Luft auflöste, standen sie vor dem Nichts - genauer: vor dem Angebot des Vereinigungslandes, entweder mit 3000 Deutschmark auf der Hand die Heimreise anzutreten oder ohne Unterstützung den Kampf ums Überleben aufzunehmen. Und wie viele der Demonstranten meinten auch die Vietnamesen damals: "Wir bleiben hier!” Der Satz hat auch bei ihnen schönes Pathos.

"Vung bien gio'i”, der Dresdner Abend von Helgard Haug und Daniel Wetzel (der auf deutsch "Grenzgebiet” heißt), ist darüber hinaus aber als deutsch-tschechisches Nachbarschaftsprojekt für das Deutsche Theaterfestival in Prag konzipiert; und darum stehen den heimischen Vietnamesen nun drei junge Mädchen gegenüber, die an der deutsch-, genauer: bayerisch-tschechischen Grenze, in Rozvadov (Rosshaupt), das Überleben üben. Dort sind sie im Imbiss der Eltern tätig, und sie verkaufen auch im SAPA, einem großen Prager Billig-Markt. Das ist die Szenerie - zwei Kisten mit Military- oder Camouflage-Klamotten, zum Verkaufsstand umgebaut. Overhead-Projektionen vom europäischen Alltag und Papp-Kulissen von "zu Hause” kommen später hinzu.

Selten sind Haug und Wetzel ja "Autoren” im engeren Sinn, meist arrangieren sie Wirklichkeit - und auch hier erzählen die deutschen und tschechischen Vietnamesen vor allem die jeweils eigenen, fast immer komplikationsreichen Geschichten von der mitteleuropäischen neuen Heimat. Sie antworten auch auf standardisierte Fragen wie aus dem Einbürgerungskatalog. Fast immer erwächst daraus eine sehr anrührende Begegnung.

Wir entdecken erst so recht die Nachbarn, die wir im tieferen Grunde unseres Mördergrubenherzens ja doch immer nur für illegale Zigaretten-Dealer hielten. Jetzt leiten sie Restaurants, Kleiderläden und Nagelstudios, in Dresden wie in Prag; und viele haben die Regeln des Kapitalismus flotter und fixer verinnerlicht als ihre Gastgeber von früher. Für die steht ein ehemaliger NVA- und Grenztruppen-Oberst, der einst für die Rückführung nach Vietnam zuständig war. Er ist heute kommunalpolitisch tätig für "Die Linke”; und seine Biographie bleibt ungeschickterweise weithin unbefragt.

Wie dieser Abend generell zu den schwächsten in jüngerer "Rimini”-Zeit zählt - weil es in diesem Fall weder beabsichtigt war noch gelungen ist, der Begegnung mit lauter sympathischen Fremden eine zweite Ebene einzuziehen, einen Reflektionsrahmen, der über oberflächliche Sympathie-Bekundungen hinaus weisen könnte.

Stattdessen suggeriert und kreiert der Dresdner Abend Freundlichkeit pur: Ach wie nett sie doch sind, die Fremden, ach wie putzig klingt doch ihr Theater-Ton! Da hilft auch die Elendsstory des gefangenen und festgekettet an einem Zaun fast vergessenen Tabak-Dealers am Schluss nicht mehr - diesmal hält uns "Rimini Protokoll” fest gefangen in der Sympathiefalle. Trotz NVA-Oberst.

In den Beifall grüßt der Alte militärisch. Und beim Karaoke-Singen zur Premierenfeier bleiben die Fremden lange allein und unter sich.