"In der Realität ist Heimat immer etwas Verlorenes"

Edgar Reitz im Gespräch mit Ulrike Timm · 02.09.2013
In seinem Kinoepos "Die andere Heimat - Chronik einer Sehnsucht" erzählt Edgar Reitz die Geschichte von Menschen, die im 19. Jahrhundert aus dem Hunsrück ausgewandert sind. Er hoffe, dass er damit auch den Blick für die heutigen Immigranten öffnen könne, sagte der Filmemacher.
Ulrike Timm: Ich freue mich sehr, dass Edgar Reitz uns jetzt zugeschaltet ist, schönen guten Tag!

Edgar Reitz: Ja, guten Tag, Frau Timm!

Timm: Herr Reitz, Sie haben in Ihrer Chronik "Heimat" die Geschichte des Hunsrück-Dorfes durchs 20. Jahrhundert gesponnen. Warum das Bedürfnis, jetzt noch mal ganz zurückzugehen ins 19. Jahrhundert und die Vorfahren Ihrer Figuren zu suchen?

Reitz: Das ist nicht direkt als Konsequenz der Arbeit vorher entstanden. Ich hatte mich mit diesem Thema schon von Anfang an herumgeschlagen, denn schon während der Dreharbeiten von "Heimat 1" Anfang der 80er-Jahre stieß ich immer wieder auf diese Geschichte, auf diesen Teil der deutschen Geschichte, dieser Auswanderungswelle. Und das war den Menschen in dem Hunsrück noch lebhaft im Gedächtnis, und in einem Dokumentarfilm, den ich damals drehte, zitierte ich auch einen Auswandererbrief, also den Brief eines Hunsrückers, der voller Heimweh und Sehnsucht nach der Heimat sich an seine Lieben gewendet hat aus Brasilien. Das Thema verfolgte mich im Grunde, und jetzt hat es mich erreicht. Es ist also nicht ein Prequel zur "Heimat", wie man das so nennt, sondern ein ganz eigenständiger Film, der sich mit dieser Zeit beschäftigt.

Timm: Hunsrück 1842, das ist so was wie das Anatolien des 19. Jahrhunderts. Menschen, eine bitterarme Region, die ihren Bewohnern keine Zukunft bietet, Deutschland als Auswanderungsland. Wie wichtig ist Ihnen diese Perspektive?

Reitz: Das liegt natürlich auf der Hand heutzutage. Wir sind inzwischen Einwanderungsland und fast alle europäischen Länder sind das geworden. Wenn wir auf die Straßen gehen, blicken wir in die Gesichter unendlich vieler Menschen, die aus solchen Motiven wie unsere eigenen Vorfahren ihre Heimat verlassen haben und nun auf unseren Straßen erscheinen. Das ganze Problem kann sich nur durch Verständigung und Verständnis lösen. Wenn ich diese Geschichte unserer eigenen Auswanderung erzähle, hoffe ich ein wenig, den Blick auch für die Menschen zu öffnen, die uns täglich begegnen.

Timm: Dann heißt das, dieser Blick nach 1842 in den Hunsrück hat auch eine politische Intention für Sie?

Reitz: Das ist eine Umkehrung des Blicks, die ich eigentlich damit erreichen wollte. Und das geht eigentlich weit über das Politische hinaus, das ist eine wirklich zutiefst menschliche Frage. Und uns ist es auch so ergangen, nachdem wir fast zwei Jahre lang im 19. Jahrhundert wieder gelebt haben, um diesen Film zu drehen, war auch unser eigener Blick völlig verändert.

Als wir nach Beendigung der Dreharbeiten wieder in die Städte kamen und sahen, wie wir heute leben und welche Freiheiten wir erreicht haben und wie wir mit diesen Freiheiten umgehen, da, ja, überfällt einen eine Gänsehaut. Weil wir spüren auf einmal, dass mit dieser unglaublichen Errungenschaft dieser Freiheit so sehr beliebig umgegangen wird. Also, dieses Gefühl, das uns da selbst gepackt hat nach Beendigung der Dreharbeiten, wollen wir natürlich weitertragen.

Timm: Herr Reitz, der Dialekt, den wir im Film hören, der wird im Hunsrück heute gar nicht mehr gesprochen, aber in Brasilien! Wie erklärt sich das?

"Ich glaube, dass das Verlangen nach Innehalten immer größer wird"
Reitz: Das ist ja etwas, was man immer wieder beobachten kann, dass die Menschen, wenn sie ausgewandert sind, in einer Erinnerungsblase leben. Sie konservieren einen Zustand auch ihrer Umgehensweise, ihrer Gebräuche, natürlich auch der Sprache, die so eine Art Überlebensstrategie enthält. Man kennt das hauptsächlich von anderen Völkern, die Italiener tun das sehr gern, die Chinesen tun das sehr gern, indem sie Little Italy und Chinatown und so weiter pflegen in der Fremde.

Die Deutschen machen es mit ihrer Sprache. Wer nach Südbrasilien fährt, in die Gegend um Porto Alegre, wird sehr erstaunt sein, dass auch Menschen, die gar nicht deutscher Abstammung sind, die sich aber nach wie vor fremd fühlen im Lande, Hunsrück sprechen, also eine Sprache, die man dort Hunsrückisch nennt – die ein heutiger Hunsrücker sehr merkwürdig empfindet, weil das ist fast die Sprache seiner Ureltern.

Timm: Wir sprechen mit Edgar Reitz, der bei den Filmfestspielen in Venedig unter großem Beifall seinen neuen Film "Die andere Heimat. Chronik einer Sehnsucht" gezeigt hat. Herr Reitz, Sie haben ein Motto, das heißt: Eile dem Dasein nicht voraus, zugleich aber bleibe wach und munter, damit du nicht hinter ihm zurückbleibst. Ein wunderbar gelassenes Motto. Filmisch umgesetzt ist das auch ein mutiges, Ihre "Chronik" eilt nämlich nie, der neue Film dauert rund vier Stunden und soll gleich ins Kino und nicht erst scheibchenweise ins Fernsehen. Woher das große Vertrauen in die eiligen Zuschauer von heute?

Reitz: Ich glaube, dass das Verlangen nach Innehalten, nach Momenten der Ruhe sehr, sehr groß ist. Und es wird immer größer. Das liegt daran, dass wir uns selbst davoneilen. Wir werden angetrieben dazu durch den Konsumzwang, durch den Rhythmus der Medien, durch den Verkehr und alle diese Dinge. Und da bleibt etwas in den Seelen der Menschen unberührt, da ist ein Verlangen. Ich bin mir sicher, dass das Kino eine neue Aufgabe gewinnt in unserer Zeit, die Aufgabe, einen solchen Ort des Verweilens und des Blickens nach innen zu bieten.

Timm: Einen Teil des Films möchte ich noch verraten, am Ende wird Schabbach vom großen Forschungsreisenden Alexander von Humboldt besucht, und den spielt ein anderer Großer des Films, nämlich Werner Herzog. Wie kam das, wie haben Sie den Kollegen herumgekriegt?

Reitz: Na ja, das ist natürlich eine augenzwinkernde Anspielung auf unsere eigenen Biografien. Also, wir sprechen in diesem Film vom Weggehen und vom Bleiben, Werner Herzog ist der Weggeher, ich bin der Hiergebliebene. Wir begegnen uns an einem Feldrand und wir senden uns ein kleines Signal, nämlich das Signal, dass wir beide auf der Suche nach dem Gleichen sind. Der eine in der Ferne, der andere in der Nähe.

Timm: Wo ist denn Ihre Heimat, im Film, in Schabbach, im Hunsrück?

Reitz: Ich denke, dass das, was wir Heimat nennen, eine Empfindung ist, die man eigentlich nur in den Künsten oder in der künstlerischen Darstellung zu etwas Bleibendem machen kann. In der Realität ist Heimat immer etwas Verlorenes.

Timm: Herr Reitz, ich danke Ihnen sehr! Der Filmautor Edgar Reitz zu seinem neusten Film "Die andere Heimat. Chronik einer Sehnsucht", der mit vier Stunden in die Kinos kommen soll und jetzt beim Filmfest in Venedig gezeigt wurde. Herzlichen Dank!

Reitz: Danke auch!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema