"In der Öffentlichkeit musste geweint werden"

Jörg Baberowski im Gespräch mit Joachim Scholl · 05.03.2013
Stalins Tod war für viele Menschen eine Zeit großer Verunsicherung, sagt der Historiker Jörg Baberowski: Es war, als sei ein Gott gestorben. Und natürlich wisse man heute nicht mehr, wie viel davon Inszenierung war.
Joachim Scholl: Von 1922 bis zu seinem Tod hat er die Sowjetunion regiert, und in diesen 30 Jahren mussten Millionen sterben, weil er es einfach befahl: Josef Stalin. Doch ungeachtet des beispiellosen Terrors, den dieser Diktator gegenüber der eigenen Bevölkerung entfachte, nannten viele ihn Väterchen Stalin, und überall im Sowjetreich brachen Menschen am 5. März 1953 – heute vor 60 Jahren – in Tränen aus, als sie davon hörten, dass er tot war. Welches Bild hat man heute in Russland von ihm, wie erinnert man sich an diesen Josef Stalin, was war er für ein Mensch und Diktator. Jörg Baberowski ist Professor für europäische Geschichte an der Berliner Humboldt-Universität, jetzt bei uns im Studio, schönen guten Morgen!

Jörg Baberowski: Guten Morgen!

Scholl: Sie haben im vergangenen Jahr, Herr Baberowski, ein Buch über Stalins Gewaltherrschaft veröffentlicht, und dort schreiben Sie, dass es in der Sowjetunion vor 1945 so gut wie keine Familie gegeben habe, die nicht unter Stalins Terror gelitten habe oder mittelbar und unmittelbar davon betroffen. Millionen sind deportiert, liquidiert, in Lagern umgebracht worden, verhungerten – warum haben dennoch so viele geweint an diesem 5. März 1953?

Baberowski: Vielleicht muss man erst einmal mit dem Missverständnis aufräumen, dass die meisten Menschen geweint hätten, als Stalin starb. Es haben sicher sehr viele geweint, aber sehr viele Menschen waren auch glücklich, nur darüber ist wenig geschrieben worden, weil diese Menschen keine Stimme hatte. Die Lagerhäftlinge, für die war das ein Freudentag, das kann man bei Solschenizyn nachlesen, die Menschen im Baltikum, in der Ukraine, in den Dörfern waren sicherlich nicht traurig, als der Diktator starb.

Gleichwohl haben natürlich viele geweint. Man weiß nicht so recht, wie viel davon Inszenierung war, in der Öffentlichkeit musste natürlich auch geweint werden, auf der anderen Seite ist natürlich klar, dass diese Menschen gar keine Alternative kannten. Sie kannten nichts anderes als diese Stalinzeit, und der strenge Vater war gestorben, und für viele war das eine Zeit ganz großer Verunsicherung, sie wussten einfach nicht, was jetzt geschehen würde, ein Gott war gestorben. Und das hatte man ihnen eingeimpft, dass das ein Gott war, und der war nun tot. Und diese große Verunsicherung hat dazu geführt, dass viele Menschen einfach zusammenbrachen.

Scholl: Nun hat man in der Sowjetunion und allen kommunistischen Staaten über Stalins Tod hinaus die vielen Opfer immer damit begründet, dass nur so die Diktatur des Proletariats überhaupt errichtet werden konnte. Erstmals muss man die Feinde beseitigen – Ihren Recherchen zufolge, Herr Baberowski, stimmt das überhaupt nicht, Sie sagen, es ging nicht um Feinde, es ging nicht darum, hier eine Diktatur zu errichten, die ständig gefährdet war, sondern es war die reine Mordlust dieser frühen Sowjetfiguren, angefangen bei Lenin bis zu Stalin, der der Brutalste war, sie waren einfach bösartig, wie Sie es formulieren wörtlich. Warum war ein Stalin so?

Baberowski: Nein, die Legitimationen, die man für das Morden anführt, müssen sich ja in der Regeln in Friedenszeiten bewähren, und die Geschichten, die man davon hört, stammen vor allen Dingen von Chruschtschow, von Molotow und von anderen, die nach dem Ende des großen Terrors und des großen Mordens eine Erklärung finden mussten, eine Erklärung, die eine befriedete Gesellschaft nicht verunsicherte. Und natürlich war das beste Argument jenes, das lautete, ohne den großen Terror hätten wir den Krieg nicht gewonnen, ohne den großen Terror wäre es kein großes Imperium geworden.

Das Gegenteil war der Fall, der große Terror hat die Sowjetunion an den Abgrund gebracht, keine Zeit war so chaotisch, anarchisch und gewaltbereit wie die Stalinzeit, sie war das Gegenteil von einer effizienten Regierung, und man könnte sagen – das behaupte ich in meinem Buch –, dieser Terror war vor allen Dingen deshalb möglich, weil der Ausnahmezustand von diesem Diktator für seine bösartigen Zwecke genutzt wurde. Damit sage ich nicht, dass der Diktator die Ursache allen Übels war, aber er nutzte diese Situation, in der sich die Sowjetunion in den 20er- und 30er-Jahren befand, um die Gewalt sprechen zu lassen.

Scholl: Sie schildern die Absurdität der Entwicklung in einer Szene: Eine Parteiversammlung findet irgendwo in Russland statt, eine Note Stalins wird verlesen, alle klatschen, aber plötzlich sitzen alle merkwürdig in der Falle, denn wer als erster aufhört zu klatschen, der riskiert sein Leben. Und so klatschen sie alle wie die Besessenen, bis einer, der lokale Vorsitzende, förmlich zusammenbricht, sich hinsetzt, noch selbige Nacht wird er abgeholt und erschossen. Das ist so bizarr, dass man es eigentlich gar nicht glauben mag.

Baberowski: Ja, es ist bizarr, aber es hat natürlich eine Logik, in einem System, das nicht durch bürokratische Regelwerke strukturiert war. Und in den 20er- und frühen 30er-Jahren versuchte Stalin und seine Gefolgschaft, die Parteifürsten in den Provinzen und die Funktionäre in den Provinzen abzurichten, indem sie ihnen bestimmte Verhaltensmaßregeln beibrachten, um sie zu kontrollieren und zu disziplinieren. Und ein Mittel, um diese Elite zu disziplinieren, die man nicht unter Kontrolle hatte, war eben die Erzeugung von Angst. Und in diesem Kontext gehört diese Szene, und man kann gut verstehen, was das bedeutet hat, als Nikita Chruschtschow in den 50er-Jahren einfach damit aufhörte und das niemand mehr machen musste, was das bedeutet hat für die Menschen, die nicht aufhören konnten zu klatschen.

Scholl: Heute vor 60 Jahren starb Josef Stalin – Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Historiker Jörg Baberowski. Stichwort Chruschtschow, Herr Baberowski, der Terror Stalins endete prompt, kann man sagen, mit seinem Tod, und Nikita Chruschtschow, der Nachfolger, schlug sofort einen anderen Weg ein, aus der Gewalt heraus, indem er dann auch drei Jahre später Stalins Verbrechen sogar als solche öffentlich brandmarkte, auch das war eine Revolution. Warum ging die anscheinend so leicht? War das Gewaltsystem tatsächlich nur mit der Person Stalins verknüpft? Ich meine, Chruschtschow war auch kein Demokrat.

Baberowski: Ja, das ist ganz richtig, sie waren alle keine Demokraten. Interessant daran ist, dass an dem Tag, als Stalin starb, außer Molotow niemand traurig war. Das widerlegt schon einmal diesen weitverbreiteten Blick, alle hätten hysterisch geweint. Nein, seine engsten Gefolgsleute waren froh, dass der Mann endlich tot war. Natürlich waren sie keine Demokraten, sie hatten alle Schlimmes getan, aber sie wussten, dass das, was Stalin getan hatte, dass das kontraproduktiv war, dass das die Herrschaft nicht stabilisierte, und dass sie das nicht brauchten. Und sie erkannten sehr schnell, dass das auch für sie besser war, auf die Gewalt zu verzichten. Und weil sie das erkannt hatten, konnten sie sich sehr schnell von diesem System von Furcht und Schrecken trennen. Und das taten sie dann auch, und sie hatten sehr schnell Erfolg damit.

Scholl: Was folgte, war ab 1956 eine staatlich angeordnete Entstalinisierung – Stalin war jetzt der Verbrecher, Straßen und Plätze wurden umbenannt, die Geschichtsbücher umgeschrieben –, hat das in der Bevölkerung eigentlich funktioniert in dem Sinne, dass man jetzt den wahren Stalin kannte? Wie ging man in den 70er-, 80er-Jahren unter Breschnew, unter Andropow, mit Stalin um?

Baberowski: Na ja, als Chruschtschow gestürzt wurde, 1964, hat man sofort wieder den Mantel des Schweigens über die Person gelegt. In den 60er- und in den 70er-Jahren wurde Stalin nicht mehr kritisiert. Er tauchte dann aber – und das ist das Verhängnisvolle, woran heute die Stalin-Renaissance anknüpft – er tauchte dann in den 60er-, 70er-Jahren nicht mehr als Verbrecher, sondern nur noch als großer Kriegsherr auf. Er funktionierte also in der Erinnerung nur noch als jemand, der den großen vaterländischen Krieg zu einem siegreichen Ende gebracht hat, und das ist das Fatale, dass das heute noch im Gedächtnis geblieben ist. Und dafür sind diese Breschnew-Jahre verantwortlich. In den 50er-Jahren gab es sehr wohl ein Bild von Stalin als einem üblen Verbrecher.

Scholl: Seit dem Ende der Sowjetunion hat man immer wieder kleinere Renaissance-Wellen beobachten können: Die alten Kommunisten begannen wieder den Genossen Stalin öffentlich zu feiern, in Georgien, Stalins Heimat, sah man neue Statuen und Büsten. Wie ist das zu bewerten, Herr Baberowski? Sind das so versprengte Einzelfälle, so partieller Geschichtsrevisionismus, oder ist das ein Trend, der vielleicht doch repräsentativer wird?

Baberowski: Ich glaube, man muss unterscheiden zwischen dem, was die Historiker über Stalin schreiben und wissen, die durchaus eine Vorstellung davon haben, was für ein Mann das war und was er in der Sowjetunion angerichtet hatte, und der öffentlichen Inszenierung. Wenn man sieht, dass auch Russland und seine Nachfolgestaaten Vielvölkerstaaten sind, die nach Stabilität rufen, dann versteht man auch, dass sie so eine Identifikationsfigur benötigen. Nun verbinden die meisten damit überhaupt nicht den Massenterror und die Gewalt, sondern sie verbinden mit Stalin die Erinnerung an den Sieg im großen vaterländischen Krieg, also einer der ganz wenigen positiven Identifikationsgeschichten, die die Sowjetbürger überhaupt hatten.

Daran knüpfen sie an, man könnte so sagen, die Historiker und die Öffentlichkeit sprechen von zwei ganz verschiedenen Personen, wenn sie von Stalin sprechen. Und wenn von Stalin die Rede ist, dann ist eigentlich vom Imperium die Rede, und von untergegangener Größe, und weniger von der Person als solcher. Das ist traurig, man mag das bedauern, dass das so ist, aber ich verurteile es nicht, weil es einen Grund hat, den man vielleicht verstehen kann, auch wenn man ihn nicht billigt.

Scholl: Ist diese Erinnerung an den großen vaterländischen Krieg aber so ungebrochen? Sie schildern in Ihrem Buch auch, wie rücksichtslos, brutal, terroristisch Stalin im Zweiten Weltkrieg gegen die eigene Armee, gegen die Soldaten, gegen die Generäle vorging und später die Kriegsgefangenen, die Millionen Kriegsgefangenen, die nach Russland zurückkehrten, die wurden teilweise umgebracht und in Lager gesteckt. Wird so auch erinnert in Russland an diesen großen vaterländischen Krieg?

Baberowski: Ja, diese Erinnerung gibt es auch, die konnten bis in die 80er-Jahre nicht zu Wort kommen, jetzt gibt es sie, nur kommt immer hinzu, dass die meisten Veteranen eben tot sind und sie gar nicht mehr sprechen können. Die gibt es, aber man muss vielleicht verstehen, dass die Menschen in den 50er-, 60er- und 70er-Jahren ein großes Angebot bekamen von diesem Regime, nämlich das Angebot, Sieger gewesen zu sein, und nicht Opfer.

Und Menschen, die keine Alternative hatten und die nichts anderes kannten als diese Diktatur, die sie jetzt als etwas besseres wahrnahmen, als sie es in den 30er-, 40er-Jahren gewesen war, nahmen dieses Angebot dankbar auf. Und so kann man verstehen, dass selbst jene, die in Strafbataillonen waren, die Schlimmstes erlebt haben, dass sie trotzdem am Ende sagen, nun gut, wir gehören zu den Siegern, und niemand möchte sich gerne dran erinnern, Opfer gewesen zu sein. Ich glaube, das ist menschlich, und so kann man es verstehen, diese für uns paradox erscheinende Situation.

Scholl: Zum Tod von Josef Stalin vor 60 Jahren – das war der Osteuropa-Historiker Jörg Baberowski, ich danke Ihnen für Ihren Besuch!

Baberowski: Vielen Dank!


Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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