Immobilie des Geistes

Von Michael Marek · 14.06.2006
Noch heute begeistert die einzigartige Sammlung von Büchern in London, die der Privatgelehrte Aby Warburg einst zur berühmten Kulturwissenschaftlichen Bibliothek fügte. Sie war einmal in Deutschland zu Hause und sie war das Vermächtnis des vor 140 Jahren geborenen jüdischen Bankierssohn. Heute gilt Aby Warburg mit seiner Bibliothek als Begründer einer modernen Kunstgeschichte und zugleich als einer der anregendsten Gelehrten des 20. Jahrhunderts.
"Das russische Tief hat sich an Energie nur wenig abnehmend, weiter südwärts verlagert, und über dem nördlichen Eismeer ist kein neuer Zyklon erschienen. Bei Durchbruch einer einheitlichen Ost-Strömung wird die strenge Kälte eine erneute Verschärfung erfahren."

Deutscher Wetterdienst, Seewetteramt Hamburg. 12. Dezember 1933:

Ein Frachter der Hamburg-Amerika-Linie verlässt den Hafen der Freien und Hansestadt Hamburg. An Bord der "Hermia" befindet sich eine ungewöhnliche Ladung. Unter Deck lagern Zehntausende von Büchern und eine umfangreiche fotographische Sammlung. Später werden noch Möbel und Regale folgen, Kataloge und andere Bibliotheksgerätschaften. Ihr Ziel: Großbritannien.

Was Ende 1933 sorgfältig verstaut in 531 Kisten über die Nordsee nach London verschifft wurde, war die bewegliche Habe einer einzigartigen europäischen Institution: die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg, kurz: KBW genannt.

Charles Hope: "Warburgian in an English context means a certain approach to iconography, a certain approach to the ancient ..."
Karin Michels: "Grundtenor ist, dass die ganze kulturwissenschaftliche Bibliothek und Arbeit Warburgs vor allem einem Thema gewidmet war. Und das war: dem Kampf gegen den Antisemitismus ..."
Martin Warnke: "... oder dass die Antike in der Geschichte immer angerufen worden sei, wenn die Menschheit in Not war."

Aufgebaut hatte die Kulturwissenschaftliche Bibliothek der in Hamburg geborene jüdische Bankiers- und Kaufmannssohn Aby Warburg. Am 1. Mai 1926 wurde sie in der Hansestadt eröffnet. In einem architektonisch einzigartigen Neubau, wie die Zeitungen damals übereinstimmend berichteten.

"Die Bibliothek ist auf dem neuesten Stand der Technik und bestens ausgerüstet, um die Bücher in den Lesesaal bringen zu lassen. Es gibt extra Förderbänder, 26 Telephonanschlüsse, Rohrpost, einen Aufzug für Bücher und einen für Menschen."

Schon bald galten Büchersammlung und Bibliothek als intellektuelles Zentrum der Weimarer Republik. Und sie blieben es auch nach Warburgs Tod im Jahre 1929. Bis die Machtergreifung der Nationalsozialisten und damit - wie es im Sprachgebrauch des NS-Regimes hieß - die Arisierung der Hamburger Universität den Fortbestand gefährdete.

Anfang 1933 beschließen Warburgs langjährige Mitarbeiter Gertrud Bing und Fritz Saxl, sich selbst und die Bibliothek zu retten. Kontakte ins Ausland werden geknüpft. Als neuer Standort sind Basel, Leyden und Rom im Gespräch. Doch man entscheidet sich, nach London zu gehen. Das Lebenswerk Aby Warburgs residiert zunächst im "Thames House" der Themse-Metropole.

"Im Jahre 1932 wurden bereits viele Zeitschriften abbestellt ..."

Dorothea McEwan ist Archivarin am renommierten Londoner "Warburg Institute":

"Es lag völlig in der Luft klar, dass eine Veränderung bevorsteht. Es war dann im Sommer 1933 die Suche nach einem Finanzgeber, nach einem entsprechenden Finanzpaket. Das wurde alles erledigt, so dass wirklich im November das Mobiliar eingepackt werden konnte, mit allem Büchern, Maschinen, Geräten, und verfrachtet wurde. Es muss eine unheimliche Arbeit gewesen sein, 55.000 Bücher zu verpacken. Und zwar so zu verpacken, dass man sie nach Auspacken in London schnell wieder finden kann, also, in ihrer Reihenfolge, in ihrer Zugehörigkeit. Wir haben Listen, von welchem Regal Nummer 27 in Deutschland auf welches Regal 48 in London kommt. Das wurde sehr, sehr genau vorbereitet. Und die KBW blieb nicht unbesetzt. Der Privatgelehrte Dr. Paul Ruben war beauftragt, die Post zu sichten und Korrespondenz weiter zu pflegen für die, die nach London gegangen."

Die Emigration der KBW war keineswegs eine Nacht-und-Nebel-Aktion. Sie wurde intensiv vorbereitet - mit Wissen und Duldung der Hamburger NS-Behörden.

Zum einen gilt der Büchertransfer offiziell als eine auf drei Jahre befristete Leihgabe. Als Gegenleistung bleibt eine umfangreiche Sammlung von Zeitungsausschnitten in Hamburg, die Warburg im Ersten Weltkrieg erstellt hat. Zum anderen ist die KBW offiziell US-amerikanisches Eigentum der Familie Warburg.

Dass die Bibliothek überhaupt vor dem NS-Regime gerettet und nach London verschifft werden konnte, hatte sie vor allem einen Zufall zu verdanken, sagt Dorothea McEwan:

"Eine Behörde besteht aus Menschen, wobei einige mehr systemtreu sind und einige weniger. Und der federführende Beamte, der das bearbeitet hat, war sicherlich der Meinung, dass das eine gute Sache ist und das man das unterstützen muss, auch wenn er in Anstellung der Stadt war. Ich würde das nicht so schwarz-weiß sehen, er war Nazi oder er war kein Nazi, er hat länger, weiter in die Zukunft gedacht."

Der "federführende Beamte" war Regierungsdirektor Wilhelm Kleinschmit von Lengefeld, ein NSDAP-Mitglied, aber nach Angaben seiner Familie alles andere als ein überzeugter Nationalsozialist:

Von Hamburgs Bürgermeister Krogmann persönlich eingesetzt, soll Kleinschmit dafür Sorge tragen, dass die so genannte entartete Kunst in Hamburg nicht in die Hände der neuen, braunen Machthaber fällt. Der habilitierte Slawist und Anglist ist der KBW und ihren Mitarbeitern nicht nur wohl gesonnen, sein persönlicher Einsatz trägt mit dazu bei, dass die Bibliothek dem Zugriff des
NS-Regimes entzogen bleibt. Ein Verdienst, das nach 1945 bei den Verantwortlichen der Stadt Hamburg in Vergessenheit gerät.

Bis heute gehört die sich in London befindende KBW zu den bedeutendsten geisteswissenschaftlichen Buchsammlungen Europas. Aby Warburg hatte sie Anfang des 20. Jahrhunderts aufgebaut – finanziert durch das Bankhaus seiner Familie.

1933, vier Jahre nach dem Tode Aby Warburgs, als man die Bibliothek nach London verschifft, um sie so dem Zugriff der Nationalsozialisten und ihrer Scheiterhaufen zu entziehen, gibt es an die 60.000 Bücher, heute sind es etwa 350.000.

Bereits vor 1933 hatte die KBW einen legendären Ruf. Ernst Cassirer, Albert Einstein und Erwin Panofsky arbeiteten hier. Aber es war nicht die ungeheuere Masse der Bücher aus den unterschiedlichsten Wissenschaftsbereichen, der die Bibliothek ihr Renommee verdankte. Es war vielmehr das besondere und auf Warburg selbst zurückgehende Ordnungssystem, dessen Aufbau eine beeindruckende und zugleich aufopfernde Leistung darstellte:

"Warburg hat versucht, besonders als die Bibliothek in ein neues Gebäude in der Heilwigstraße gekommen ist, sein System der Kulturwissenschaft an der Aufstellung der Bibliothek sozusagen zu exerzieren."

Ernst Gombrich gilt als "der" intellektuelle Biograph Warburgs und zählt auch nach seinem Tod zu den anerkanntesten Kunsthistorikern Europas:
"Die Aufstellung wurde manchmal geändert, aber im Wesentlichen sollte es eine Kulturpsychologie werden, in der Ausdruck am Anfang steht, das menschliche Ausdrucksbedürfnis, Bücher wie Darwins, Ausdruck der Gemütsbewegungen, die Warburg sehr früh kennen gelernt hat und andere, so dass es von der Psychologie und dem Ausdruck zur Anthropologie führt in der Aufstellung der Bibliothek. Und von dort zum gesellschaftlichen Leben. Theater, Musik und Festwesen ... Dann, und das ist dann das eine Stockwerk, eine Abteilung der Bibliothek. Die nächste dann hat Warburg dann Orientierung genannt. Der Mensch will sich dann im Weltall orientieren. Das spielt an auf eine Schrift von Kant 'Was heißt, sich im Denken orientieren?' ... Er hat besonders in der Wissenschaft immer einen Übergang gesehen, einen Fortschritt von der magischen Einstellung zur rationalen Einstellung, von der Astrologie zur Astronomie, von der Alchemie zur Chemie, von der Zahlenmystik zur Mathematik. Und so ist die Bibliothek noch heute aufgestellt."
"Als der Philosoph Ernst Cassirer die Bibliothek zum ersten Mal benutzte, beschloss er, ihr entweder gänzlich fern zu bleiben, was er eine Zeitlang durchgehalten hat, oder sich dort für Jahre in Gefangenschaft zu begeben. Das hat er später öfter mit Freuden getan."

Fritz Saxl berichtet vom "kleinen Schrecken" - und von der Faszination all jener Besucher, die sich in der Bibliothek erst langsam zurecht finden müssen. Saxl ist seit 1913 Assistent Warburgs und ab 1921 stellvertretender Leiter der Bibliothek.

Aby Warburg hatte eine sehr genaue Vorstellung von der Funktion seiner Kulturwissenschaftlichen Bibliothek. Unverwechselbar ist dieses Laboratorium des Wissens allemal, zumal ihr Zweck nicht die bloße Büchersammlung als solche war. Vielmehr handelte es sich um eine "Problembibliothek". Warburg nannte sie 1920 aphoristisch verkürzt ...

"ein universalgenetisches Orientierungsinstitut vom abstrakten Problem bis zur praktischen Lebenshilfe."

Das meinte immer auch ein Nachdenken über die ethisch-moralischen Implikationen der Kunst. Ernst Gombrich:

"Warburg war ja ein komplexer Charakter. Aber Warburg war ein großer Gelehrter, mit dem Sinn für seine Sendung - etwas, was man heute sich kaum unter einem Kunsthistoriker vorstellt. Für ihn waren das, was die Aussage der alten Kunstwerke das eigentlich Wesentliche. Und darunter verstand er auch das Ethische sehr stark. Die Kunst der Renaissance war für ihn auch eine moralisch-ethisch Errungenschaft gegenüber der geistigen Versklavung…"

Warburgs kunst- und kulturgeschichtliches Generalthema war die Auseinandersetzung mit dem Erbe der Antike: mit Arbeiten über Botticelli und der Bildniskunst in der florentinischen Malerei, über Albrecht Dürer, aber auch über heidnisch-antike Weissagungen in Wort und Bild. Was Warburg nicht interessierte, war eine rein ästhetisierende Kunstgeschichte.

"Ich sitze eines Tages im Vorlesungsraum der Bibliothek allein und habe mir hervorgeholt aus der Bibliothek einen Band der Tageszeitung 'Hamburger Fremdenblatt' aus dem Jahre 1915."

René Drommert arbeitet in den zwanziger Jahren als studentischer Bibliothekar im Warburg-Haus und ist bis zu seinem Tode im Jahre 2002 als Film- und Theaterkritiker bei der Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit" tätig:

"Plötzlich erscheint Aby Warburg: 'Na, Herr Drommert, was machen Sie denn da?' Sag ich: 'Herr Professor, ich interessiere mich für die Zeit des Weltkrieges. Ich lese zunächst einmal den politischen Leiter, aber nachher lese ich im Wesentlichen das Feuilleton, Kritiken über Theater und die bildende Kunst und dergleichen.' Er, Warburg, nicht groß von Wuchs, beugt sich über den Tisch, zieht den Band 'Fremdenblatt' zu sich heran, blättert, blättert, blättert und plötzlich zeigt er auf eine Annonce: 'Teppich gegen Mehl und Kartoffeln zu tauschen gesucht!' 'So', sagte Warburg, 'diese Dinge müssen Sie, um eine Vorstellung von einem Gesamtablauf geistigen, kulturellen, sozialen richtig zu begreifen, solche Dinge müssen Sie natürlich mit einbeziehen.'"

Die Aufmerksamkeit richtete sich also auf Wege und Medien der Überlieferung, durch die der geistige Schatz der Antike bis in die Neuzeit erhalten blieb. Für das moderne Bewusstsein nahm die Antike bei Warburg zunächst eine überraschende, einzigartige Stellung ein:

"Da hat Warburg ja, immer noch geglaubt, dass über die Antike ..."

Der Hamburger Kunsthistoriker und Warburg-Forscher Martin Warnke:

"oder dass die Antike in der Geschichte immer angerufen worden sei, wenn die Menschheit in Not war und die Antike sozusagen als Heil, als Droge gegen Überwältigung durch irrationale Ängste und Phobien, das da so eine heile Botschaft aufbewahrt sei in der Antike, die immer dann abgerufen wird, wenn es brennt. Dies hat er halt auch für seine Zeit noch für gültig gehalten, also nicht einfach als eine simple Schönheitslehre, sondern als eine aufklärerische Bewältigung."

Warburg verstand sich stets als Bildhistoriker. Sein Arbeitsfeld war das einer kunstgeschichtlichen Kulturwissenschaft, die dar- über aufklären sollte, wie die Menschheit im Bild Gefährdungen bewältigte. Im Sieg über die Angst sah Aby Warburg eines der Ziele westlicher Rationalität: den Triumph der menschlichen Kultur über die Dämonen der Vergangenheit. Auffällig sei dabei die Dominanz jüdischer Gelehrter im Umfeld der KBW gewesen, so Warnke:

"Das kann man nun so verstehen, als hätten die Juden sich halt gegenseitig protegiert, was man ihnen auch immer vorwirft, aber es ist doch offensichtlich so, dass die Juden an den Universitäten keinerlei Chancen hatten, wie gut sie immer waren. Und das war sicher ein Motiv, wie ja Aby Warburg selbst sagt, zu zeigen, dass der Kapitalismus auch Denkenergien entwickeln kann, und dass gerade aufgrund jüdischen Kapitals, so wie das Institut für Sozialforschung in Frankfurt auch. Das wird eine der Triebkräfte für Warburg gewesen sein. Auch mit dem Blick darauf: Wir stehen so in der Schusslinie des Antisemitismus, wenn wir hier eine geisteswissenschaftliche, auch der Universität nützliche, der Öffentlichkeit zugängliche Bibliothek machen, da können wir so etwas den Wind aus den Segeln nehmen."

"I would say possibly yes and he would say undoubtedly no."

Charles Hope, Kunsthistoriker und Direktor des "Warburg Institutes" in London, sieht das anders:

"Warburg hätte den jüdischen Hintergrund der Wissenschaftler sicher verneint, ich bin da anderer Meinung. Keines der maßgeblichen jüdischen Institutsmitglieder war praktizierender Jude. Die jüdische Identität hatte man ihnen aufgezwungen, so jedenfalls sah es Ernst Gombrich. Er pflegte auf die Frage, ob ein Wissenschaftler Jude war oder nicht, zu antworten: 'Ich würde es vorziehen, diese Entscheidung der Gestapo zu überlassen.' Ihr Milieu vermittelte ihnen bestimmte Werte, das würde sicher niemand leugnen. Meiner Meinung nach haben diesen Wissenschaftlern nicht geglaubt, dass ihr Judesein großen Einfluss auf ihre Gelehrsamkeit hatte. Ihr jüdischer Hintergrund hatte für sie nur eine begrenzte Bedeutung."

Weder als Gelehrter noch als Privatmann hatte sich Warburg mit seinen politischen Überzeugungen exponiert. Weder konnte noch wollte Warburg öffentlich für jüdische Angelegenheiten oder gegen antisemitische Aktivitäten eintreten. Sein Beitrag war die Kulturwissenschaftliche Bibliothek, mit der sich Warburg der europäischen Zivilisationsgeschichte stellte. Hier hatte die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus ihren Platz. Mit Hilfe der KBW sollten die Welt und ihre Abgründe anders begriffen werden. Darin aufgehoben waren Warburgs Zweifel an den "großen Erzählungen", an der systematischen Darstellung der Kultur – die Bibliothek als Abwehr- und Kampfunternehmen:

"Grundtenor ist, dass die ganze Kulturwissenschaftliche Bibliothek und Arbeit Warburgs vor allem einem Thema gewidmet war - und das war der Kampf gegen den Antisemitismus."

Karen Michels ist Kunsthistorikerin und langjährige Mitarbeiterin des Hamburger Warburg Archivs:

"Das glaubt man nicht, und er hat das natürlich auch nicht öffentlich geäußert, um sich nicht bloßzustellen politisch. Er hat ja immer das konservative Bild vor sich hergetragen, auch mit der Bibliothek ist ja auch dieses konservative Hamburger Patriziertum oder Stadtbild eingehalten, aber im Grunde war alles diesem einen Thema gewidmet."

Auslagerung, Übersiedelung oder Emigration, wie soll man die Flucht der Bibliothek charakterisieren? Heute sprechen die Verantwortlichen in Hamburg und London von einem "Transfer" der Bibliothek – mit dem Hinweis, Bücher könnten nicht "emigrieren". Subjektiv aber, aus Sicht der betroffenen Mitarbeiter, handelte es sich um eine Emigration. Zumal Fritz Saxl als Direktor der "KBW" im April 1933 alle seine Universitätsämter niederlegte. Kurz zuvor hatten organisierte antisemitische Ausschreitungen in ganz Deutschland begonnen.
In London kann die Bibliothek bereits im Mai 1934 ihre Katalog- und Lesesäle wieder öffnen. Bis die Familie Warburg eine weit reichende Entscheidung trifft: Sie übergibt am 28. November 1944 die Bibliothek als "Warburg Institute" der University of London – gegen Zusicherung des finanziellen Unterhalts von Bibliothek und Personal.

Rasch erlangte die Bibliothek eine ähnlich bedeutende Stellung wie in Deutschland. Gleichzeitig traten die Institutsmitglieder zunehmend als eigenständige Wissenschaftler hervor. Und hätten sich dabei nicht gescheut, Themen und Stil der angelsächsischen Gelehrtenwelt aufzugreifen, so Charles Hope, Kunsthistoriker und Direktor des "Warburg Institutes" in London:

"In den dreißiger Jahren gab es kaum eigene Aktivitäten des Instituts. Man war bemüht um Kontakte zu britischen Forschern. Und weil es sich ja nur um eine kleine Zahl von Mitarbeitern handelte, hatten diese alle Hände voll zu tun mit internen Problemen. Vor allem mussten sie das Institut in irgendeiner Form überhaupt erhalten. Schaut man sich aber die kurz nach ihrem Eintreffen in England veröffentlichten Publikationen an, so gab es jetzt mehr englische und angelsächsische Themen, die mit den Interessen jener britischen Forscher korrespondieren, die zu der Zeit mit dem Institut verbunden sind. In Deutschland hätte man diese Themen niemals aufgegriffen. Das Institut leistete in den dreißiger Jahren vor allem Service-Dienste. Erst in den vierziger Jahren ging es mit dem Institut voran – insbesondere durch eine große Zahl neuer Mitarbeiter, die 1929 noch gar nicht mit dem Institut verbunden waren. Überhaupt war die Zahl derer, die Warburg noch persönlich gekannt hatten, sehr klein – mit Ausnahme von Wind, Bing und Saxl. Aber die waren unterschiedlicher Meinung darüber, was genau sein Vermächtnis war."

Für den heutigen Leiter des Hauses gründet sich das Ansehen der Bibliothek weniger auf den eigenen Forschungen und kulturwissenschaftlichen Ansätzen Warburgs. Sie beurteilt der britische Tizian-Spezialist eher skeptisch. Dagegen stellt für Hope der welt-weit einmalige Bestand seltener Bücher und ihre thematische Zuordnung weiterhin ein einzigartiges Forschungsinstrument dar. Zukünftig soll sich die Bibliothek vermehrt dem Austausch zwischen den Kulturen widmen, meint Charles Hope. Und er setzt dabei eher auf die Stärken der Bibliothek und weniger auf die Intentionen ihres Gründers Aby Warburg. Dies hat zur Folge, dass die Orientierung auf das Bild deutlich in den Hintergrund tritt.

Warburg aber hatte vor allem in Bildern eine ernstzunehmende Quelle für kulturhistorische Fragestellungen gesehen. Zugleich untersuchte er nicht ausschließlich die Werke der Bildenden Kunst, sondern sämtliche Äußerungsformen der Gattung Bild – auch die neuen Medien wie die Photographie. Eine zukunftsweisende Perspektive, angesichts der Epoche des europäischen Faschismus, der wie keine andere Herrschaftsform erstmals die Neuen Medien für sich zu nutzen wusste.

Die Beschäftigung mit massenmedialen Bildformen, mit Fragen der politischen Bildpropaganda hätten nahe gelegen, zumal Warburg selbst diese in Italien sehr genau beobachtet hatte. Kritikern,
die dieser Lücken wegen den politischen Geist des Gründers im Londoner "Warburg Institute" vermissen, hält der heutige Direktor entgegen:

"Warburg hat sicherlich von niemand erwartet, dasselbe zu tun wie er selbst vor mehr als 70 Jahren. Die akademischen und intellektuellen Interessen unseres Instituts enden mit der Französischen Revolution. Was danach kommt wurde hier bisher nicht erforscht. Unser Institut ist nicht der Ort, wo man politische Geschichte betreibt oder die Entwicklung politischen Ideen studiert. Damit hat sich das Warburg Institute eigentlich niemals befasst. Was Warburg, Saxl oder Bing politisch dachten, ist die eine Seite. Wofür das Institut aber stehen sollte, ist die andere. Das Warburg Institute beschäftigt sich nicht mit zeitgenössischen politischen Ideen oder deren Ursprüngen."

An Warburgs aufklärerische Interessen anzuknüpfen - dies hätte nach dem militärischen Ende des Faschismus auch in Deutschland nahe gelegen. Stattdessen aber drohten Warburg und seine "Kulturwissenschaftliche Bibliothek" über Jahrzehnte hinweg in Vergessenheit zu geraten:

Nach 1933 steht der Bibliotheksbau am Hamburger Alsterufer eine zeitlang leer, bis er noch während der NS-Zeit einen Käufer findet. Mehrfach wechselt das Haus seinen Besitzer und wird aus- schließlich gewerblich genutzt. Damit bleibt das Gebäude für sechs Jahrzehnte seiner ursprünglichen Bestimmung als Bibliothek und Vortragssaal entzogen. Zuletzt arbeitet eine Werbe- und Filmagentur im Warburg-Haus, das 1982 unter Denkmalschutz gestellt wird. Schließlich bewilligt die Freie und Hansestadt Hamburg im Sommer 1993 die Summe von 3,8 Millionen Euro – mit dem Ziel, das Bibliotheksgebäude zu erwerben, zu renovieren und denkmalgerecht wiederherzustellen.

Heute kann der Nutzer des Warburg-Hauses auf eine umfangreiche Bibliothek zurückgreifen. Ihr Bestand ist in erster Linie auf die Bedürfnisse eines Arbeitsbereichs zugeschnitten, der methodisch und inhaltlich eng mit den Fragestellungen der alten Kulturwissenschaftlichen Bibliothek verbunden ist: die Forschungsstelle für Politische Ikonographie.

Seit 1991 sammeln ihre Mitarbeiter bildliche Hinweise auf politische Prozesse, Begriffe, Ansprüche sowie Persönlichkeiten. Mit deren Hilfe soll untersucht werden, welche aktive Rolle die Bildende Kunst in der politischen Kommunikation spielt.

Hier entsteht eine visuelle Enzyklopädie des politischen Raumes, die Auskunft geben soll, mit welchen bildlichen Mitteln sich politische Systeme darstellen: seien es Demokratien oder totalitäre Regime, absolutistische Herrscher und Ständegesellschaften.

Politisches Wirken hat sich in dieser Sichtweise nicht nur in schriftlicher Form niedergeschlagen - in Verträgen, Pamphleten oder Büchern beispielsweise -, sondern auch in Zeremonien und Festivitäten, in Theatern, Gärten, Denkmälern und Bildern. Und genau das ist für Martin Warnke, dem Leiter der Forschungsstelle, und seine Mitarbeiter das Feld der politischen Ikonographie. Neben der Spezialbibliothek nutzt das Projekt einen umfangreichen Bildindex, der auf eine Privatinitiative Warnkes zurückgeht:

"Das sind rein faktisch etwa 300.000 kleine Fotos, die nach politischen Schlagworten geordnet werden. Da können Sie also sehen, wie sich die Menschheit etwa Anarchie bildlich vorgestellt, wie, wenn Sie Anarchie verbildlichen oder personifizieren wollten, wie sieht die aus. Dann kommt im Laufe der Jahre ‚ne ganze Masse von Bildern zusammen, wo man dieses Schreckgespenst Anarchie dann ins Bild gebannt rekonstruieren kann oder wie man Demokratie bekämpft oder verteidigt hat oder wie man Sozialismus bekämpft oder verteidigt hat mit Hilfe von Bildern."

Dieser Bildindex wurde bereits 1991 in eine Forschungsstelle umgewandelt – unter anderem durch Mittel, die Warnke aus dem mit 1,5 Millionen Euro dotierten Leibnizpreis erhielt. Heute bedient man sich im vollständig glasfaserverkabelten Warburg-Haus modernster Computertechnologie, um die Fülle des Bild- und Textbestandes datengestützt und online bearbeiten zu können. Dass sie ihre institutionelle Heimat gerade im Hamburger Warburg-Haus angesiedelt hat, darf man durchaus symbolisch verstehen. Denn ihre Arbeit knüpft programmatisch an Forschungsinteressen Warburgs an – politische Themen, die durch den Umzug der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek nach London in den Hintergrund getreten sind. Schließlich will man auch die aufklärerische Intention Warburgs fortsetzen, indem man auf die distanzierende Kraft kritischer Rationalität setzt:

"Die Hoffnung ist natürlich, dass man dem Zeitalter visueller Totalisierung, wo eigentlich alles nur noch über das Auge läuft, dass man dem wenigstens einige Momente der kritischen Distanz einschreiben kann, oder zumindest noch versucht, sie zu denken."