"Immer die Suche nach dem Vater"

Jean-Pierre und Luc Dardenne im Gespräch mit Susanne Burg · 05.02.2012
Die Fiktion sei eine Möglichkeit, hinter das Geheimnis von Dingen zu dringen, meinen Jean-Pierre und Luc Dardenne, die seit mehr als 30 Jahren gemeinsam Filme machen. In ihrem neuen Werk <a class="link_audio_beitrag" href="http://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2012/02/05/drk_20120205_0908_dd43fd77.mp3"title="Beitrag in Radiofeuilleton, Deutschlandradio Kultur (MP3-Audio)">Der Junge mit dem Fahrrad"</a> interessiert sie besonders das Verhältnis von Vätern und Söhnen.
Susanne Burg: Ich freue mich, die beiden Regisseure des Films begrüßen zu dürfen, Jean-Pierre und Luc Dardenne. Bonjour!

Jean-Pierre und Luc Dardenne: Bonjour!

Frage: Ihre Filme stehen in der neorealistischen Tradition der Nachkriegszeit, könnte man sagen. Der Film, über den wir jetzt sprechen, der heißt "Der Junge mit dem Fahrrad". Ist es eine bewusste Anspielung auf den ja auch neorealistischen Klassiker "Die Fahrraddiebe" von de Sica aus dem Jahr 1948?

Antwort: Also beim italienischen Titel ist das noch ein bisschen stärker, weil in Italien heißt unser Film "Il Ragazzo con la Bicicletta", da ist es wirklich ganz stark. Aber ich würde mal sagen, abgesehen davon, dass in unserem Film zweimal das Fahrrad gestohlen wird, und dass in "Fahrraddiebe" das Fahrrad gestohlen wird, da hört das dann auch schon auf letztendlich mit dem Vergleich. Weil die Geschichte, die Vittorio de Sica erzählt über den Vater, der das Fahrrad braucht, ist doch letztendlich eine ganz andere, als die, die wir erzählen von diesem Jungen mit seinem Fahrrad.

Frage: Kommen wir zu Ihrem Film: Es herrscht eine unglaubliche Körperlichkeit in dem Film. Dieser Junge, der klettert ständig über Mauern, er rennt, er fährt wirklich ja auch wie wild mit dem Fahrrad. Kämpft er mit seinem Körper, weil er sonst keine anderen Waffen hat?

Antwort: Ja, der Junge bewegt sich viel, er fährt viel, er rennt viel, aber man sieht ihn auch, wie er schläft, man sieht ihn auch im Auto mit Samantha, man sieht auch mal, wie er weint, als sie ihn dann auch versucht zu trösten. Und dieses Rennen, das ist eigentlich immer nur die Suche nach dem Vater, das ist die Suche nach der Liebe, weil er glaubt, die Liebe kann er nur vom Vater erfahren. Und er hat ja nicht unrecht, weil der Vater ja der einzige ist, den er noch hat. Er hat aber auch diese Momente, wo er Ruhe will und sich auch nach Ruhe sehnt, das gibt es auch. Also wenn er rennt, wenn er in Bewegung ist, dann ist es immer die Suche nach dem Vater. Und dass er da gegen seinen Körper ankämpft, sehe ich eher nicht so, weil dieses Rennen wirklich immer nur darum geht, den Vater zu finden.

Frage: Es ist nicht der erste Film, bei dem es um eine Vater-Sohn-Beziehung geht. Bei "Das Kind" verkauft ein Kleinkrimineller sein neugeborenes Kind, in "der Sohn" geht es um die Begegnung eines Vaters mit dem jugendlichen Mörder seines Sohnes. Was interessiert Sie an Vater-Sohn-Beziehungen

Antwort: Ja, also da ist sicher eine gewisse Obsession, aber die tieferen Gründe, die kennen wir, glaube ich, nicht so. Also jedenfalls nicht so, dass wir sie wirklich in Worte fassen können. Was uns interessiert, ist die beiden Generationen, was die Vatergeneration weitergibt an die jüngere Generation, oder gerade auch nicht weitergibt, wie die Söhne sich danach sehnen, etwas von den Vätern zu bekommen, wie sie ihr Erbe von der älteren Generation annehmen oder nicht. Aber letztendlich ist das so ein bisschen auch die Geschichte der Menschheit, das gibt es schon in der Bibel, diese Geschichte zwischen Vätern und Söhnen, und das, was die Väter den Söhnen mitgeben und eben auch nicht. Damit will ich eigentlich nur sagen, dass wir uns in sehr viele Traditionen mit eingliedern, die schon vor uns da waren.

Frage: Sie haben ja als Dokumentarfilmer angefangen, sind aber dann bald zum Spielfilm gekommen. Ist die Fiktion für Sie ein Weg der Wirklichkeit, eigentlich noch tiefer ins Herz zu schauen?

Antwort: Die Fiktion ist auch eine Möglichkeit, um sozusagen hinter das Geheimnis von Dingen zu dringen, obwohl immer die Frage ist, ob wir wirklich zu diesem Geheimnis vordringen. Aber die Fiktion war für uns einfach auch ein Versuch, Geschichten zu erzählen, nach denen wir uns doch einige Jahre lang mit der Wirklichkeit imprägniert hatten durch unsere Filme. Und ich will jetzt auch gar nicht so großartig Dokumentarfilm und Fiktion gegenüberstellen. Wichtig war einfach nur für uns, dass wir unsere Geschichten erzählen können, dass wir unsere Interpretation filmisch darstellen konnten. Und auch in unseren Filmen gehen wir ja meistens von irgendeinem Fakt aus, der in der Realität teilweise zumindest so stattgefunden hat.

Und hier ist es einfach so, dass uns interessiert hat, wie dieser Junge, der verlassen worden ist, mit diesem Verlassensein umgeht, mit diesem Leiden umgeht, ob er beispielsweise asozial wird dadurch, ob er vielleicht doch ein Gangster wird, oder ob er nicht doch Dinge findet, die es ihm erlauben, auch so eine menschliche Beziehung eben aufzubauen, das Leben dann doch auf eine gewisse Art und Weise wieder anzunehmen. Das sind letztendlich die Fragen, die uns interessieren, und hier ist es einfach so, normalerweise in der Kindheit muss man sich als Kind keine Sorgen machen, ob man geliebt wird oder nicht. Man wird von den Eltern geliebt, entweder vom Vater oder von der Mutter. Dieser Junge hier muss sich permanent die Frage stellen, ob er geliebt wird, und wer ihn rettet. Und das ist so beängstigend, dass das auch wieder ein Grund dafür ist, dass der permanent in Bewegung ist und so viel rennt.

Frage: Ich spreche hier im Deutschlandradio Kultur mit den Brüdern Dardenne über ihren neuen Film "Der Junge mit dem Fahrrad". Es gibt bei Ihnen selten eigentlich eine Erlösung. Diesmal aber gibt es die Frau, die den Jungen aufnimmt. Man erfährt gar nicht, warum sie das eigentlich tut, sie schneit ein bisschen wie eine Glücksfee im Märchen in das Leben des Jungen. Warum haben Sie diesmal diese Form des Märchens gewählt?

Antwort: In gewisser Weise haben wir die Frage ja schon beantwortet. Ich werde mal versuchen, sie noch mal anders zu formulieren. Was uns interessiert hat, war eigentlich: Kann Liebe diesen Jungen retten? Und dann ist uns diese Figur eingefallen, eine Friseuse, Samantha, die den Jungen plötzlich kennenlernt, ganz direkt ihm begegnet und erst mal ihm nur sein Fahrrad wiederbringt und sich gar nichts weiter dabei denkt. Und dann geht plötzlich für sie so ein Abenteuer los, auf das sie sich einlässt. Sie lässt sich auf diese Herausforderung ein, mit diesem Jungen irgendwie umzugehen. Und sehr viel komplizierter ist es eigentlich gar nicht, das ist eigentlich schon alles, das ist die ganze Aufgabe, die diese Figur hat, ein bisschen Wärme hier mit hineinzubringen, und das ist schon menschlich – das hat vielleicht auch so ein bisschen was Feenhaftes. Vielleicht sind Menschen streckenweise auch komplizierter, was nicht heißt, dass sie dadurch interessanter werden, aber sie hilft einfach diesem Jungen. Und das Interessante ist, dass jetzt alle sagen, sie sei eine Fee, weil sie sich letztendlich menschlich verhält, man assoziiert das dann gleich damit, dass sie deshalb schon eine Fee sein muss, nur weil sie etwas Selbstloses tut. Sie mag diesen Charakter eben haben, aber andererseits würde man ja, wenn sie das Gegenteil tun würde, auch wieder sagen, sie verhält sich überhaupt nicht wie ein Mensch. Also deswegen ist das mit dieser Fee, das hat so was Ambivalentes.

Frage: Sie sticht vielleicht auch so ein bisschen raus, weil die anderen Figuren ja auch nicht immer nur gut sind. Also das trifft auch auf Ihre anderen Filme zu, Sie zeigen häufig Menschen, die man eigentlich, wenn man es so hart formulieren kann, verachten müsste. Die Menschen lügen, betrügen, stehlen, töten, beuten andere aus, aber trotzdem, die Filme verurteilen nicht. Warum haben Sie so viel Sympathie für die Abgründe der Menschen?

Antwort: Wir schauen ja erst mal nur in diese Abgründe hinein, weil dann plötzlich den Personen doch klar wird, wenn sie ganz nahe an diesem Abgrund stehen, dass sie doch nicht das Recht haben zu töten. Und das hat es bei uns in unseren Filmen ja öfter gegeben. In "Lorna" war es ja zum Beispiel so, "Das Schweigen der Lorna", dass diese Hauptfigur eigentlich mit einem Mann zusammenlebte, der drogenabhängig war, und sie wusste, der wird an dieser Drogenabhängigkeit zugrunde gehen, und hat das auch bis zu einem gewissen Punkt akzeptiert, und an Ende versucht sie, den Mann dann doch zu retten. Also man könnte sagen, am Anfang ist das eine Schlampe, die mit irgendwelchen Gaunern unter einer Decke steckt, aber sie entscheidet sich dann letztendlich dann doch dafür, den zu retten. Und bei "Rosetta" gibt es auch diese Szene, wo Rosetta diesen einen jungen Mann fast ertrinken lässt, weil sie ihn für einen Konkurrenten hält und nicht sehen will, dass das eigentlich ein Freund ist, und sie braucht eine Weile, bis sie akzeptiert, dass das auch ein Freund eigentlich von ihr werden kann. Das heißt, diese Abgründe sind für uns eigentlich nur dazu da, um letztendlich den Leuten zu zeigen, dass man einen Mord letztendlich dann doch nicht verübt. Bei Samantha ist es was anderes: Die braucht nicht lange dazu, um den Jungen anzunehmen, der sie einfach so umarmt und der sie so fest drückt, dass er ihr zwar weh tut, aber sie hat keine Angst vor diesem Jungen und entwickelt eine gewisse Nähe zu ihm und reagiert eben sehr viel schneller.

Frage: In Ihrem letzten Film, den Sie auch erwähnt haben, "Lornas Schweigen", war Belgien Transitland der unkontrollierten Menschen, Geld und Warenströme – diesmal ein Belgien der Sozialbauten. Die Filme sind immer in Seraing bei Liège entstanden. Wie hat sich da die Sozialstruktur in den letzten Jahrzehnten verändert, und inwieweit ist dieser Mikrokosmos auch ein Symbol fürs Ganze?

Antwort: Man muss natürlich immer ein bisschen aufpassen, dass man das nicht zu sehr in Formeln presst, weil es die Sache dann auch wieder zu einfach macht, aber Seraing ist schon die Stadt unserer Kindheit, unserer Jugend. Das ist wirklich eine kleine Stadt, aber da haben wir sozusagen das Leben entdeckt, da sind wir auch ein bisschen autonomer geworden, da haben wir unsere ersten Entdeckungen gemacht als junge Menschen. Und das war eben auch eine Stadt mit einer gewissen Arbeiterkultur, und das ist irgendwo natürlich alles zusammengebrochen durch die Wirtschaftskrise. Und es fällt einfach auf, dass heute Viele einfach alleine sind, gerade auch junge Menschen sehr alleine sind – natürlich gab es auch Leute, die vorher schon alleine waren, aber vielleicht aus anderen Gründen.

Und heute ist es einfach so, dass viele Jugendliche keine Arbeit haben. Die meisten suchen vielleicht auch gar nicht mehr wirklich nach Arbeit, weil sie auch den eigenen Vater nie haben arbeiten sehen, und es ist einfach eine ganz andere Welt, die man heutzutage da vorfindet. Und früher konnte man sagen, dass auch in so einer Kleinstadt wie Seraing die Demokratie sich sozusagen selbst geschaffen hat, weil es solche Werte wie Solidarität gab, wie all diese Kooperativen, die da funktioniert haben. Und heute sind eben Viele einfach auch alleine, das sind Figuren wie Bruno, aber sogar Samantha ist letztendlich jemand, der alleine ist. Es ist nicht nur Bruno, es ist auch Samantha.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Der Junge mit dem Fahrrad