Immer der Nase nach

Von Susanne Billig und Petra Geist · 19.06.2011
Was haben Kaffee, Rosen, Tankstellen und Kohlsuppe gemeinsam? Sie alle verströmen einen intensiven Geruch. Seit einigen Jahren sind Forscher den Geheimnissen der Düfte und des Riechens auf der Spur.
Neue molekulare Methoden machen es heute möglich, die Riechzellen des Menschen zu isolieren und genau zu untersuchen, was da genau passiert, wenn wir die Nase tief in einen Rosenstrauß senken oder unsere Tasse Lieblingskaffee genießen. Die neuen Erkenntnisse der Geruchsforschung werden sich eines Tages vielleicht sogar in der Medizin einsetzen lassen.

Ein Mensch atmet am Tag mehr als 20.000 Mal aus und ein - und jeder Atemzug trägt Millionen von Duftmolekülen in seine Nase. Zwanzig Millionen Riechrezeptoren - winzige Sinnesfühler - sitzen in unserer Nasenschleimhaut. Damit können wir fast ebenso viele Gerüche wahrnehmen wie ein Bluthund - nur höher dosiert müssen die Duftstoffe sein.

Im prüden 19. Jahrhunderts hatte das Riechen einen schweren Stand. Zu sehr erinnerte es an die animalische Seite des Menschen. "Riechen" - das taten die Mietskasernen der Unterschicht, der Schweiß der Arbeiter, der Kohleintopf, die Latrinen. Entsprechend fristete auch die Erforschung des Riechsinns ein Schattendasein. Erst vor einigen Jahrzehnten hat sich das geändert - und heute erlebt die Olfaktorik einen richtigen Boom.

"Also um die Düfte zu testen, haben wir natürlich, ja, ich glaube, bis zu 3.000 Duftproben im Labor und die sind alle in so kleinen Fläschchen drin, die müssen alle erstmal aufgeschraubt werden, und dann kann man mal dran riechen."

Der Mediziner und Biologe Hanns Hatt ist Professor für Zellphysiologie an der Ruhr-Universität Bochum und hat die Nase vorn in der deutschen Geruchsforschung. Der Gewinner des Communicator-Preises der Deutschen Forschungsgesellschaft 2010 baute seinen Lehrstuhl zu einem weltweit anerkannten Forschungszentrum aus. 60 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter befassen sich hier ausschließlich mit dem Riechen:

"Hier im Dunkeln arbeiten die Leute dann an der Mikroskopie. Die versuchen also alle, entweder die Riechzellen zu charakterisieren und zu schauen, welchen Strom sie erzeugen, wenn ich einen Duft draufgebe, oder eben Zellen, in denen sie solche Riechrezeptoren eingeschleust haben."

Alles, was duftet, sendet kleinste Duft-Partikel aus. Die Moleküle werden über die Nasenhaupthöhle mit dem Luftstrom an die Riechspalte getragen, die sich im Nasendach befindet. Dort docken sie an "Riechrezeptoren" an, die das Gehirn über den Duft informieren. Das aber können sie nur, wenn Duftstoff und Rezeptor wie Schlüssel und Schloss genau zusammenpassen. 350 unterschiedliche Rezeptoren besitzt der Mensch. Wird solch ein Rezeptor aktiviert, sorgt er dafür, dass ein elektrischer Strom zum Gehirn fließt. "Vanille" oder "Rosenduft", können wir dann zum Beispiel interpretieren. Indem Wissenschaftler solche Ströme ableiten und messen, kommen sie den Geheimnissen des Riechens auf die Spur:

"Alle biologischen Düfte, die wir so kennen, sind eine Mischung aus hundert, zwei-, dreihundert verschiedenen Duftmolekülen, und die Nase hat nun die Aufgabe, diese Mischung zu erkennen, und da wir 350 verschiedene Sensoren, Rezeptoren dafür haben, bedeutet das, dass jede Mischung - also Kaffeeduft oder Rosenduft oder Veilchenduft - eben nicht einen, sondern eben eine ganz bestimmte Kombination aus diesen 350 Rezeptoren aktiviert, nämlich die, für die eben der Duft in dieser Mischung vorhanden war."

Keiner unserer Sinne regt die Gefühle stärker an als das Riechen. Was passiert, wenn wir die Nase in die Welt recken, ist ganz und gar individuell: Eine Frühjahrsblume kann die Kindheit wachwerden lassen - oder uns zurück katapultieren zum bösen Sturz der ersten Fahrradfahrt. Ein Weihnachtsplätzchen riecht nach Geborgenheit - oder nach schrecklichen Familienzwisten. Eine Pfütze Motoröl bedeutet glückliche Schraub-Stunden mit dem ersten Moped - oder der ungeliebte erste Job an der Tankstelle lebt wieder auf:

"Man kann sagen, dass der Geruchssinn, gemeinsam mit dem Geschmackssinn, einer der ältesten entwicklungsgeschichtlichen Nah- und Fernsinne ist und deshalb ohne viele Verschaltungen direkt alte Hirnareale aktiviert werden, welche vor allen Dingen Sitz von Emotionen und Erinnerungen sind, zum Beispiel der Mandelkern oder der so genannte Hippocampus, was vielleicht einigen ein Begriff sein dürfte."

Franca Fleiner ist Ärztin am Universitätsklinikum Charité in Berlin. Ihr Fachgebiet: die menschliche Nase. Die uralten Hirnstrukturen, von denen sie spricht, werden manchmal noch "Reptilien"- oder "Riechhirn" genannt. Sie entstanden schon sehr früh in der Evolution und sind immer beteiligt, wenn es um Erregung, Gefühle, Ängste, Lustempfinden und Erinnerungen geht. Optische und akustische Wahrnehmungen werden erst einmal durch verschiedene Gehirnregionen geleitet, bevor sie in den Gefühlszentren des Gehirns ankommen. Düfte erreichen das alte "Riechhirn" ohne jeden Umweg - und schlagartig überfluten uns Erinnerungen und Gefühle.

Umso schwerwiegender trifft es Menschen, wenn sich ihr Riechvermögen auf einmal verändert. Essen, Trinken, frische Blumen, die Nähe anderer Menschen - wo vorher tausend Gerüche ineinander flossen, bleibt nur noch Sterilität. Wer es selbst nicht erlebt hat, kann sich kaum vorstellen, wie arm die Welt wird, wenn sie nach nichts mehr duftet. Täglich begegnet die Ärztin Franca Fleiner in der Riechsprechstunde der Berliner Charité Patienten, die den Verlust kaum bewältigen können:

"Dass sie sich aus dem sozialen Leben zurückziehen, Rückzugstendenzen zeigen, was familiäre oder freundschaftliche Kontakte betrifft. Auch im Berufsleben: Patienten fühlen sich isoliert, haben keine Freude mehr an Essen und Trinken und dementsprechend an geselligem Zusammensein mit Familie und Freunden. Die Patienten haben oftmals Gefühl, vielleicht selbst schlecht zu riechen und halten deshalb körperlich Abstand. Sie vereinsamen."

Im Jahre 2002 ergab eine Studie an 280 Patienten, dass 70 Prozent aller Betroffenen Stimmungsschwankungen bis hin zu Depressionen erleiden, wenn sie vom Strom der Düfte und Gerüche abgeschnitten sind. Manchmal geht sogar die Intimität in Liebesbeziehungen verloren, wenn ein Mensch sich selbst oder den anderen nicht mehr "riechen" kann:

"Das, was sie früher angezogen hat und den Partner für sie attraktiv gemacht hat, fehlt einfach. Und somit wird es dann für viele Betroffene schwierig, noch körperliche Nähe auszutauschen - mit dem anderen Lust zu empfinden oder diesen Partner zu begehren. Das ist ein sehr häufig berichtetes Symptom."

Nicht nur die Nase kann Gerüche wahrnehmen. Vor einigen Jahren hatten Hanns Hatt und sein Team den richtigen Riecher bei der erstaunlichen Entdeckung vom "Maiglöckchen-Duft": Er geht von der Eizelle aus und lockt das menschliche Spermium an. Doch wie kann das Spermium riechen? Es besitzt Riechrezeptoren, genau wie unsere Nase:

"Ganz wichtig ist, dass diese Riechrezeptoren außerhalb der Nase eine so wesentliche Rolle spielen. Also, inzwischen finden wir sie nahezu in jedem Organ unseres Körpers, in jedem Gewebe finden wir einen kleinen Teil - manchmal zehn, manchmal 20, manchmal 30 dieser 350 Rezeptoren - in Leberzellen, in Hautzellen, in Magenzellen, in Gehirnzellen! Und wir haben keine Ahnung, was sie dort machen."

Etwas müssen sie tun, denn keine Zelle leistet sich eine überflüssige, komplizierte Eiweißstruktur. Etwas haben Professor Hatt und sein Team schon herausgefunden: Prostatazellen können Veilchenduft wahrnehmen:

"Wenn man auf Prostata-Krebszellen diesen Veilchenduft gibt, dann kann man - im Reagenzglas bisher - zeigen, dass tatsächlich das Zellwachstum nahezu vollständig eingestellt wird. Da sind natürlich noch Jahre der Forschung nötig, um zu schauen, ob das vielleicht in der Zukunft eine Möglichkeit der Therapie für Krebs sein könnte."

So könnte das einstige Nischenfach "Duftforschung" der Medizin neue Wege eröffnen. Sogar Tiere beziehen Forscher bereits ein, um Patienten zu helfen.

In Australien und Großbritannien können Epileptiker sich einen Hund zulegen, der zwei Jahre lang dazu ausgebildet wurde, drohende Anfälle zu erschnüffeln und seinen Besitzer rechtzeitig zu warnen. Auch Blasen-, Lungen-, Brust- und Hautkrebs können Hunde mit ihren hoch empfindlichen Nasen identifizieren, zeigen neueste Forschungen. Brustkrebs diagnostizieren die Tiere besser als die herkömmlichen Mammografien, Lungenkrebs erkennen sie selbst im Frühstadium sogar mit 99-prozentiger Sicherheit.

"Es ist sehr vielschichtig, dass Hunde so viel besser riechen. Sie haben bis zu zehnmal mehr Riechzellen, als wir haben. Wir haben zwanzig Millionen, die haben zwei-, dreihundert Millionen. Sie haben statt 350 Genen, die sie für Riechrezeptoren besitzen, tausend ungefähr, also dreimal so viel. Wir haben die auch noch im Übrigen, aber wir haben die zwei Drittel dieser Gene abgeschaltet - wir benutzen sie nicht mehr. Aber der Hund benutzt alle noch."

Forscher versuchen nun herauszufinden, auf welche Duftstoffe die Tiere genau reagieren. Wahrscheinlich produzieren die stoffwechselaktiven Krebszellen so genannte flüchtige Abbaustoffe, die über die Atemluft des Kranken entweichen. Kennt man das genaue Duftprofil der Krebsarten, könnte man eines Tages künstliche Krebs-Detektoren bauen, um Karzinome in frühesten Stadien zu erkennen.

So enorm der Aufschwung der Duftforschung ist - so viele Fragen sind noch immer ohne Antwort. Zum Beispiel diese: Was riechen die 350 verschiedenen Riechrezeptor-Typen des Menschen eigentlich? Nur von 20 Rezeptoren ist das bislang bekannt. Und selbst diese simple Frage treibt die Wissenschaftler noch um:

"Was passiert eigentlich, wenn ich diese ganzen Duftmoleküle einatme? Wir wissen, dass sie in das Blut kommen und sie werden durch das Blut im ganzen Körper verteilt."

Und dann? Um diesem Rätsel auf die Spur zu kommen, haben sich die Bochumer Forscher unter anderem mit Gardenien beschäftigt. Der jasminähnliche Duft ihrer weißen Blüten hat eine ganz erstaunliche Wirkung auf das menschliche Gehirn:

"Wir konnten zeigen, dass ein Duftmolekül beim Einatmen aus dieser Blume in das Gehirn gelangt und dort dieselben Wirkungen macht wie Valium oder Barbiturate, das heißt, es hat den gleichen Mechanismus auch, allerdings ist es ein Inhalationsschlafmittel durch das Einatmen, und da ist ein Beispiel, ah, da wissen wir - für die anderen Duftmoleküle eigentlich noch gar nichts."

Während die Wissenschaft das Geheimnis des Riechens immer genauer ergründet, kann jeder von uns auf persönliche Forschungsreise gehen und die eigene Nase trainieren. Denn in der modernen Welt verarmt das menschliche Riechvermögen. Schon heute halten viele Kinder künstliches Erdbeer-Aroma für erdbeeriger als das Original. Während eine echte Rose weit über tausend verschiedene Duftmoleküle aussendet, enthält künstlicher Rosenduft nur ein einziges. Traurig, aber wahr: Die meisten Menschen können den Duft einer echten Rose nicht mehr von der billigen Fälschung unterscheiden.

"Jede Atemluft bringt tausende, Millionen von Duftmolekülen in unsere Nase, und deswegen sag ich immer den Leuten, die sollen mit offener Nase durch die Welt gehen und nicht nur mit offenen Augen, dann werden sie das viel mehr üben und trainieren und auch sich eine völlig neue Welt erschließen."