Im Zweifel für den Angeklagten?

Von Lorenz Maroldt, Chefredakteur "Der Tagesspiegel" · 21.05.2011
Wir wissen nicht, was am vergangenen Samstagmittag in der Suite 2806 des feinen New Yorker Hotels Sofitel vorgefallen ist. Aber wir konnten zusehen, was danach geschah.
Dominique Strauss-Kahn, Chef des Internationalen Währungsfonds
und Kandidat der französischen Sozialisten für die nächste Präsidentschaftswahl, wurde vor der Weltöffentlichkeit in Handschellen gefesselt seiner Richterin vorgeführt. Und ganz egal, wie später das Urteil lautet, in diesem Moment war klar: Der Mann ist erledigt. Solche Bilder wird niemand mehr los.

Um den Fall Strauss-Kahn ist zwischen Frankreich und den USA ein bizarrer Medienkrieg entbrannt. So hält der Philosoph Bernard-Henri Lévy die Veröffentlichung der Bilder für "absolut widerlich". Den früheren Kulturminister Jack Lang erinnerte das Verfahren an einen "mittelalterlichen Schandpfahl". Und Robert Badinter, ehemaliger Präsident des Verfassungsrats, spricht von einer "bewussten medialen Hinrichtung". Der Publizist Jean Daniel schließlich empört sich im "Nouvel Observateur": "Das amerikanische Volk und wir gehören nicht mehr derselben Zivilisation an."

Tatsächlich verbietet das französische Presserecht die Verbreitung von Bildern gefesselter Personen, solange sie nicht rechtskräftig verurteilt sind. Aber das Rechtssystem der USA unterscheidet sich eben in etlichen Punkten eklatant von europäischen Vorstellungen. So hält es die "Washington Post" für eine zivilisatorische Errungenschaft, dass Reiche und Mächtige genau so der Öffentlichkeit ausgesetzt werden, wie andere Verdächtige auch. Seit dem Fall Clinton/Lewinsky weiß jeder: Das gilt auch für den amerikanischen Präsidenten. Das "Wall Street Journal" und die "New York Times" wiederum werfen den französischen Medien vor, diese würden vor den Sex-Affären von Politikern die Augen verschließen. Es herrsche ein "Code des Schweigens".

Das stimmt zwar, wie auch französische Medien durchaus bestätigen, nur: Das geht an der Sache völlig vorbei. Strauss-Kahn wird ja nicht eine Affäre vorgeworfen, sondern versuchte Vergewaltigung. Ein Unterschied, der auch prüden Amerikanern einleuchten sollte. Mag sein, dass Strauss-Kahn gemeint hat, im Hotelpreis von 3000 Dollar pro Nacht sei das Zimmermädchen inbegriffen. Vielleicht hielt er auch die Macht seines Amtes für so unwiderstehlich, dass ihm gar nicht erst in den Sinn kam, irgendjemand könnte Nein zu ihm sagen.

Gut möglich auch, dass der Code des Schweigens in Frankreich die klare Grenze zwischen einvernehmlichem Sex und erzwungenem Sex für ihn verwischt hat. Alles Spekulation. Vor Gericht aber geht es nur um Beweise für eine strafbare Handlung. Im Fall Strauss-Kahn müssen diese allerdings noch gefunden und bewertet werden.

Ja, es gibt Hinweise darauf, dass in Frankreich die Medien das Schweigen beim Thema Sex zu weit getrieben haben. Als bereits vor Jahren eine Frau im Fernsehen gegen Strauss-Kahn den Vorwurf der sexuellen Belästigung erhob, wurde sie im wahrsten Sinne des Wortes ausgeblendet. Aber das größere Problem ist die immer grellere Einblendung intimster Details aus dem Leben von Prominenten, seien sie nun einer rechtlich nicht verbotenen Affäre verdächtig oder eines strafbaren sexuellen Verhaltens.

Wer einmal in die Fänge der sensationslüsternen Öffentlichkeit gerät, dem wird buchstäblich die Hose vom Leib gerissen. Das hat zuletzt der Fall Kachelmann gezeigt. Selbst wer von einem Verdacht später freigesprochen wird, hat kaum eine Chance, in sein früheres Leben zurückzukehren.

Ja, es wirkt abstoßend, wie Dominique Strauss-Kahn in den USA vorgeführt wird. Einen Verdächtigen wie einen überführten Verbrecher darzustellen, verträgt sich nicht mit der Unschuldsvermutung, die bis zum rechtskräftigen Urteil gilt. Aber einen guten Grund, sich moralisch über die Amerikaner zu erheben, haben weder die Franzosen, noch die Deutschen. Der Eindruck einer Vorverurteilung ist schlimm. Aber auch, wer sexuelle Übergriffe von Mächtigen verschweigt, handelt unehrenhaft. Ebenso wie derjenige, der auf einen Verdacht hin das Sexualleben eines anderen in die Öffentlichkeit trägt.

Ja, viel zu oft hören und sehen wir mehr, als die Würde der beteiligten Menschen verträgt.
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