Im Verhältnis zu China hat "die Wirtschaft Priorität vor der Politik"

Tilman Spengler im Gespräch mit Susanne Führer · 29.08.2012
Wenn die Kanzlerin die Lage der Menschenrechte in China anspricht, ist das ein "mehr oder weniger rituelles Verfahren" mit vorgefertigten Antworten, meint Tilman Spengler. Der Sinologe spricht zudem von einer "doppelten Moral" des Westens.
Susanne Führer: Heute Abend will Kanzlerin Merkel mit einer prominent besetzten Delegation nach China reisen, und man kann auch damit rechnen, dass die Reise wie geplant stattfinden wird, anders als vor einem Jahr, als Außenminister Westerwelle ein Mitglied seiner Delegation zu Hause lassen musste, den Sinologen und Schriftsteller Tilman Spengler nämlich. Der bekam damals kein Visum mit der Begründung, er sei "kein Freund des chinesischen Volkes". Guten Morgen, Herr Spengler – nein, guten Tag sollten wir schon sagen um elf.

Tilman Spengler: Grüß' Sie, Frau Führer.

Führer: Diese aktuelle Reise der Bundeskanzlerin steht ja ganz klar im Zeichen der Wirtschaft. Neben dem halben Kabinett wird sie auch von mehreren Vorständen von Dax-Konzernen begleitet. Manche empören sich über diese Politik, manche, wie zum Beispiel der Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses des Deutschen Bundestages, Tom Koenigs, fordert von Frau Merkel, auch eindeutig über die Lage der Menschenrechte in China zu sprechen und also nicht diese Politik zu verfolgen, Moneten statt Menschenrechte. Empören Sie sich auch?

Spengler: Ich empöre mich, aber nicht so heftig, weil das nicht so viel anrichtet, wenn ich mich heftig empöre. Aber Herr Koenigs hat da natürlich sicherlich recht.

Führer: Das heißt, was würden Sie tun, wenn Sie Frau Merkel wären?

Spengler: Nun gut, ich meine, das ist eine Frage des Mandates. Die Bundesregierung hat ein Mandat, das zu tun, was sie tun soll. Und ich erkenne nicht in der Regierung oder ich kenne auch nicht im Parlament oder in irgendeiner der Parteien vom Parlament einen riesig großen Druck, die Wirtschaftsbeziehungen zu kippen, mit China zu kippen zugunsten eines Insistierens auf einem Katalog von Menschenrechten. Insofern tut Frau Merkel natürlich nur das, was die ganze Regierung tut. Das heißt, man kann sie da nicht ganz besonders schelten. Aber Sie haben sicherlich recht, dass das, was man heutzutage eine pragmatische Zugehensweise an das Problem nennt, dass dies viele Forderungen beiseite gedrängt hat, die man früher mit sehr viel, mit sehr großer Emphase vorgetragen hat.

Führer: Die Diskussion ist ja, wie Sie andeuteten, nicht neu. Also immer die Frage, Menschenrechte, Realpolitik, was tun wir? Die Frage ist ja vielleicht auch zum einen die eigene Glaubwürdigkeit: Man kann nicht einfach nur hinfahren, das hat ja auch Frau Merkel nicht vor, und nur über Wirtschaft sprechen. Es wird ein Treffen mit Vertretern der Zivilgesellschaft geben, also mit Umweltschützern zum Beispiel. Und man muss es also erwähnen. Die andere Frage ist natürlich: Was bringt es, wenn man das sehr demonstrativ tut? Sie hat sich ja zum Beispiel im Jahr 2007 mit dem Dalai Lama … den hat sie empfangen in Berlin, offiziell empfangen, da haben die Chinesen die Beziehungen erst mal abgebrochen.

Spengler: Das stimmt. Das ist natürlich so, dass das gerade ihrem Freund Wen Jiabao zugefügt wurde, der hat fast geweint, als er das erfahren hatte. Aber Sie sprechen damit einen anderen Komplex an, der natürlich ganz wichtig ist. Es waren natürlich vor zwei, drei oder vier Jahren, war sozusagen die Konjunktur von Menschenrechtsverletzungen in China, was die deutsche Presse angeht, hatte natürlich einen unglaublichen Boom. Da wollte man über China wenig mehr erfahren, als dass dort beständig Menschenrechte auf das Übelste verletzt würden. Das hat ziemlich nachgelassen in der Berichterstattung, das hat nicht mehr die Intensität, diesen Forderungscharakter, wie es früher mal der Fall war, sieht man von bestimmten Fällen mal ab wie, sagen wir jetzt, die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an einen chinesischen Künstler.

Führer: Ja, und was folgt daraus? Nur, weil es jetzt in den Medien nicht mehr so präsent ist?

Spengler: Dass sich sicherlich das Raum gebrochen hat, was sich immer Raum bricht, dass die Wirtschaft die Priorität vor der Politik hat. Also Sie sehen ja die Lage, das ist ja fast banal. Die chinesische Wirtschaft hat mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen, der Aktienmarkt liegt seit zwei, drei Jahren, also der chinesische Aktienmarkt liegt seit zwei, drei Jahren sehr, sehr im Argen, man sucht irgendwo Möglichkeiten für Investitionen. Gleichzeitig hat die deutsche Seite ihre Schwierigkeiten mit einer perhorreszierten Konjunktur oder einem Konjunktureinbruch, also findet man sich da zusammen und beschließt, alles toll zu finden.

Führer: Herr Spengler, ich wusste gar nicht, dass Sie so eloquent über Wirtschaftsdinge sprechen können. Lassen Sie uns aber noch mal ein bisschen mehr über die Menschenrechte und die chinesischen Verhältnisse sprechen. Es ist doch vielleicht auch wichtig, das anzusprechen, um auch denjenigen, die im Gefängnis sitzen, wie zum Beispiel der Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo, zu signalisieren, wir haben euch nicht vergessen. Und es gibt jetzt eine aktuelle Agentur, wonach der Künstler Ai Weiwei, der ja nicht mehr im Gefängnis sitzt, aber sein Land nicht verlassen darf und deswegen die Gastprofessur zum Beispiel hier in Berlin nicht antreten darf. Er sagt, er hofft, dass Frau Merkel über seinen Fall sprechen wird.

Spengler: Ja. Das ist richtig, das hoffen wir alle, dass sie das tut, nur die Frage, die Ausgangslage ist, wünschenswert, dieses soll gemacht werden, die Antworten, die Frau Merkel sich einfahren oder einfangen wird, sind auch schon bekannt und auch schon ausgedruckt. Also das ist mehr oder weniger ein rituelles Verfahren. Und die einzige positive Wirkung, die dabei hinterbleibt, ist, dass diese Nachricht, dass beide Seiten ihre Meinung zu diesem Thema ausgetauscht haben, irgendwann in die Öffentlichkeit dringen und über die Öffentlichkeit dann zu den Leuten weiterhin vordringt, die, sei es wie Liu Xiaobo eben noch im Gefängnis sitzen für weitere neun Jahre, oder sei es wie andere Namenlose, die eben aufgrund der Tatsache, dass das Licht der westlichen Öffentlichkeit auf sie nicht gefallen ist, genauso viele Schwierigkeiten haben. Man kann an die Fälle der vielen Rechtsanwälte denken und vieles andere mehr.

Führer: Tilman Spengler im Deutschlandradio Kultur, wir sprechen über die China-Reise der Bundeskanzlerin. Herr Spengler, es gibt ja auch noch
Klagen von deutschen China-Korrespondenten, die haben einen offenen Brief an die Kanzlerin geschrieben und über ihre Arbeitsbedingungen geklagt, darin heißt es, Einschüchterungen und Restriktionen hätten einen neuen Höhepunkt erreicht. Die Korrespondenten und ihre chinesischen Assistenten würden bespitzelt, bedroht, bedrängt, immer häufiger auch verprügelt. Nun hat der Sprecher der Kanzlerin gesagt, sie werde über dieses Thema auch sprechen in China, sie muss es also ansprechen. Wird das Folgen haben?

Spengler: Das chinesische Außenministerium hat ja bereits darauf geantwortet, also auf die noch nicht gestellte Frage von Frau Merkel, indem es gesagt hat: Solange die deutschen oder die internationalen Journalisten sich an Recht und Ordnung und chinesische Gesetze hielten, hätten sie auch nichts zu befürchten. Das ist sozusagen die Antwort, die sehr schallend zurückkam. Sie müssen sich dazu natürlich noch eine weitere Sache irgendwie in den … also sozusagen zum Verständnis, dass da zwei Kulturen wie Lokomotiven aufeinanderprallen, nennen wir es mal so dramatisch. Die chinesische Regierung, namentlich das Außen- oder das Propagandaministerium, denken über Journalisten eher, als wären das Firmensprecher. Also, was so bei uns ein Firmensprecher ist, soll da ein Journalist sein. Der Intendant des chinesischen Staatsfernsehens hat das vor ein paar Tagen sehr glücklich zum Ausdruck gebracht, als er sagte, die erste Aufgabe eines Journalisten ist es, ein gutes Mundstück zu sein. Das sieht man natürlich in Deutschland in manchen Redaktionen anders.

Führer: Herr Spengler, ich habe immer noch nicht so richtig verstanden, wie da eigentlich Ihre Haltung lautet. Also, demonstrative Gesten wie zum Beispiel Dalai Lama empfangen, bringt nichts, etwas hinter den Kulissen besprechen, bringt offenbar auch nichts – kann ich das richtig zusammenfassen, dass sich die chinesische Führung sowieso überhaupt gar nicht beeinflussen lässt?

Spengler: Nein, nein. Man muss das, man muss – selbstverständlich muss man da immer wieder bohren, bohren, bohren, kleine Schritte machen, Schritte in der Öffentlichkeit machen und Schritte im vertraulichen Gespräch machen. Es ist nur, wogegen ich mich bisweilen wende, ist sozusagen, da sich ein paar Schlagerfälle herauszugreifen wie etwa den Fall Ai Weiwei, dem natürlich alles Gute gegönnt sein soll, und den Rest im Schatten zu lassen. Und das zweite ist, sich sozusagen großmoralisch zu munitionieren gegenüber dem, was in China passiert und gleichzeitig dann nicht zu sagen, gut, unsere Legitimation bezieht sich, sagen wir im Falle dieser Menschenrechte oder der Gefängniszustände in China darauf, dass wir auch jederzeit beim Besuch von Präsident Obama auf Guantánamo hinweisen. Also, wir fahren da eine doppelte Moral.

Führer: Gut, aber nun kann das ja nun nicht heißen, sozusagen, wenn ich dem einen helfe und dann sagt man mir, du hilfst aber nicht dem anderen, also helfe ich jetzt keinem mehr.

Spengler: Nein. Nein, nein, es ist eine Frage der Legitimation. Also, man wird glaubwürdiger, wenn man sagt, das mache ich an allen Fronten.

Führer: Nun hat ja die westliche Welt zumindest in Kunst und Literatur in letzter Zeit einige deutliche Zeichen gesetzt, also Ai Weiwei, da gab es sehr viele internationale Künstler, die sich solidarisiert haben mit ihm, es gibt den Friedensnobelpreis für Liu Xiaobo und es gibt den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für Liao Yiwu, jetzt in diesem Oktober wird er in Frankfurt ihn erhalten. Ist das nicht das Mindeste, was man tun kann?

Spengler: Das ist ein Zeichen, das man setzen kann, um zu sagen, Kinder, das geht uns alle auf dieser Welt an. Das ist so ganz richtig. Es hat auch etwas Bedenkliches, um hier in der Rolle meines mäkelnden Wesens fortzufahren …

Führer: Ja bitte!

Spengler: … es hat natürlich auch etwas, ein klein wenig etwas Bedenkliches, weil wir sagen, gut, diese Preise haben ja alle eine gewisse Tradition und diese Preise haben eine gewisse Intention. Ich meine, Liao Yiwu hat schrecklich gelitten und es ist überhaupt nicht zu bezweifeln. Aber es ist nun der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, und der hat eigentlich ursprünglich eine andere Intention, nämlich die eben, Menschen auszuzeichnen, die sich um Verständigung zwischen anderen bemüht haben und so weiter.

Ich gratuliere Liao Yiwu zu diesem Preis. Ich frage mich nur bisweilen, ob wir nicht irgendwie ein bisschen strenger bei unseren Preisen auch mit den Grundintentionen, uns an diese Grundintentionen halten sollen. Aber das ist, wie Sie vorhin völlig richtig sagten, wir führen hier Fälle vor und wir sollen uns da auch nicht so wichtig nehmen bei der Wahl der Mittel. Wir führen hier bestimmte Fälle vor, um auf Zustände allgemein hinzuweisen, und da, sagen wir mal so, liegt die Kultur oder das, was in unserer Kultur stattfindet, doch meilenweit vor der Moral oder der Ehrlichkeit der Politik.

Führer: Wenn ich Sie recht verstehe, dann fordern Sie auch von den China-Kritikern ein bisschen Selbstkritik?

Spengler: Das würde ihnen gut anstehen.

Führer: Das sagt der Sinologe und Schriftsteller Tilman Spengler. Danke für das Gespräch, Herr Spengler!

Spengler: Danke Ihnen!

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Tilman Spengler
Tilman Spengler© dpa / picture alliance / Horst Galuschka
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