Im Schatten des großen Mannes

Von Evelyn Bartolmai · 30.04.2010
Während die politischen Aktivitäten des Zionisten Theodor Herzl bestens dokumentiert sind, weiß man so gut wie nichts über sein Privatleben und seine Ehefrau. Die israelische Schauspielerin Adi Etzion-Zak spürt dem "Geheimnis der Julie Herzl" nach.
Wem, wenn nicht einer Ehefrau, steht es zu, die Gestik ihres Mannes zu kopieren. Doch die Julie Herzl, der Adi Etzion-Zak im historischen Kostüm Kontur und Stimme verleiht, diese Julie, die in der berühmten Pose von Theodor Herzl an einer Balkonbrüstung lehnt, erblickt nicht in der Ferne ein Traum- und Wunschbild von historischer Dimension. Nein, diese Julie Herzl ist eine tieftraurige Person, die schlicht und einfach nach dem Mann Ausschau hält, den sie sich schon als 15-Jährige ausgesucht und dann auch geheiratet hat. Doch nicht in den glücklichen Jugendtagen, sondern am Ende beginnt Adi Etzion-Zak ihre Darstellung des tragischen Schicksals der Julie Herzl:

"Wien 1907: Hiermit geben wir den Tod von Frau Herzl in ihrem 39. Jahr bekannt, sie wurde ihrem letzten Willen gemäß eingeäschert. In den letzten Jahren nach dem Ableben von Herzl lebte sie im Sanatorium, für ihre drei Kinder wurden Vormunde bestellt. Ihre Briefe, Tagebücher und Fotografien sind verschwunden."

Worüber die Zeitung schweigt, ist die Tatsache, dass man sämtliche Briefe, die Tagebücher und auch fast alle Fotografien der Julie Herzl vernichtet hat, und die Fantasie lässt sie einen fast ungläubigen Blick auf den Abgang aus ihrem irdischen Sein werfen:

"Die Urne mit meiner Asche hat man Hansi in die Hand gedrückt, er war 16, so sensibel und melancholisch - und er hat die Urne im Eisenbahnabteil vergessen. Die Mutter in der Urne vergessen??? Und die Eisenbahn fuhr weiter - keine Beerdigung, kein Grab, kein Kantor mit tränenerstickter Stimme, keine trauernden Eltern, keine entsetzten Kinder. Ich bin einfach so verschwunden."

Wer war diese Julie Herzl? Und wie konnte es geschehen, dass die Ehefrau eines der größten Helden der jüdischen Moderne so völlig ins Vergessen geriet? Gab es möglicherweise Gründe, die Erinnerung an diese Frau zu verdrängen? Und wenn ja, wer konnte ein Interesse daran haben? Es gibt mehr Fragen als Antworten, räumt Adi Etzion-Zak ein. Ursprünglich wollte sie auch eine ganz andere Frau zur Heldin eines Monodramas zu den 100-Jahr-Feiern von Tel Aviv im vergangenen Jahr machen - nämlich die Geliebte des Nationaldichters Bialik. Aber bei der Suche nach Material stieß sie auf ein Buch mit dem Titel "Die verdrängte Ehefrau", und da stand für sie fest, dass genau dies die Heldin ihres neuen Stückes werden sollte. Was zunächst leichter gesagt als getan war.

"Jeder, der etwas über Herzl erfahren will, findet genügend Material, aber niemals über sein Privatleben. Man weiß, dass er seine Mutter sehr geliebt hat und auch seine Schwester, die noch in Budapest verstarb, dass er seinen Vater geliebt hat. Aber was in seinem eigenen Haus geschah, wissen wir nicht. Er liebte seine Kinder, das ja, aber er war kaum mit ihnen zusammen. Seine Frau, Julie Herzl, die Mutter seiner Kinder und Großmutter seines einzigen Enkels – keinen gibt es mehr, alle sind verschwunden, von keinem ist eine Familienerinnerung geblieben. Und so suchte ich mir Material. Es gibt einige Biografien auf Hebräisch, ich schöpfte auch aus dem schon erwähnten Buch, aber es ist ein Roman von Ida Zoritte, und sie hat Julie noch einige Lebensjahre in Amerika hinzugedichtet. Wir wissen, dass das Fiktion ist, aber wir erfahren doch etwas über ihre Persönlichkeit. Und ich habe sie zu einer lebendigen Gestalt erweckt, die sich dazu entschließt, uns ihre Wahrheit über das Leben bei Herzls zu Hause zu erzählen."

Zu dieser Wahrheit gehört, dass Julie Herzl aus einem sehr reichen Elternhaus stammte, ein recht kapriziöses Mädchen, und gewöhnt war, ihren Willen durchzusetzen. Und als sie Herzl kennen gelernt hatte, stand für sie fest - es sollte dieser elegante und kluge Mann sein und kein anderer! Auch wenn es von Theodor spätere Briefe gibt, in denen er von Liebe gegenüber seiner Frau schreibt, so dürfte den Ausschlag für die Heirat wohl eher die Tatsache einer etwas verfrühten Schwangerschaft gegeben haben. Doch schnell wurde offensichtlich, dass sich da zwei Menschen zusammengetan hatten, die gegensätzlicher nicht sein konnten. Der weltgewandte und scharfsinnige Journalist und Theaterautor Theodor, und die etwas oberflächliche Julie, deren Welt von Mode, Operetten und den Kindern bestimmt war, und die den politischen Entwicklungen, die ihren Ehemann so nachhaltig beeinflusst haben, nur mit Unverständnis gegenüberstand:

"Die Dreyfus-Affäre hat aus ihm einen Zionisten gemacht. Der Schrei 'Ich bin unschuldig!' hat sein Leben erschüttert. Seine Fantasie wurde zur Besessenheit - ein Staat für die Juden - er wurde süchtig danach! Er hetzte durch die ganze Welt: 'Gebt mir Land! Gebt mir ein Land - für die Juden!'"

Theodor Herzl hat nach dem Pariser Dreyfus-Prozess, den er als Journalist für die Wiener "Neue Freie Presse” verfolgt hat, sein Buch "Der Judenstaat” geschrieben, das als die Geburtsstunde des politischen Zionismus gilt und für den Herzl sich fortan rastlos eingesetzt hat. Er war kaum noch zuhause, die Enttäuschung und das Unverständnis seiner frustrierten und ohnehin zur Hysterie neigenden Ehefrau steigerte sich zu ohnmächtiger Eifersucht und Hass auf alles, was Herzl davon abhielt, für Frau und Kinder da zu sein:

"Ostjuden! Undankbare, bedrückend arme Pogromflüchtlinge - missgünstige, streitsüchtige, intrigante, ruhelos eifernde Idealisten! Um sie sorgst du dich, dafür verschwendest du das Geld meiner Mitgift! Wer finanziert denn deinen Zionismus? Reiche Wiener? Londoner Juden? Pariser Intellektuelle? Nein - mein Vater! Mein Vater hat Milliarden für deine Fantastereien verschleudert, was für ein Wahnsinn! Und dafür hast du mich und unsere Kinder arm gemacht."

Herzl selbst hat kurz nach seiner Eheschließung in einem Brief an einen Freund eingeräumt, dass die Heirat ein Fehler war. Warum er sich dennoch nicht scheiden ließ, bleibt sein Geheimnis und hatte ganz gewiss nicht nur mit den Konventionen der Zeit und dem Geld seines Schwiegervaters zu tun. Aber es bleibt die bittere Wahrheit, dass er das Glück seiner Familie und seiner Frau seiner großen Vision eines Staates für das jüdische Volk geopfert hat.

"Schon von daher müssten wir sagen: danke, Julie! Denn in all den Jahren, in denen er von zuhause wegblieb, hat er Ideen entwickelt, geschrieben, nachgedacht, sich die Welt angeschaut, um sich schließlich, achteinhalb Jahre später, seinem großen Ziel zu widmen: Er erkannte den Antisemitismus und verstand, was diesem Volk drohte, er sah die Shoah bereits vor seinem inneren Auge. Und er traf eine schicksalsschwere Entscheidung für unser Volk, wofür man ihm vielleicht den Fehler bei seiner Eheschließung verzeihen könnte."

Die Tragödie der Familie Herzl endete indes nicht mit dem Tod von Theodor 1904 und von Julie 1907. Die älteste Tochter Paulina starb 1930 an einer Drogenüberdosis, ihr Bruder Hans nahm sich einen Tag später an ihrem Grab das Leben. Die jüngste Tochter, Trudel, kam 1943 in Theresienstadt ums Leben, und der einzige Enkel, Trudels Sohn Stephan, stürzte sich 1946 von einer Brücke, als er vom Tod seiner Eltern in der Shoah erfuhr. Die sterblichen Überreste von Theodor Herzl wurden kurz nach der Staatsgründung nach Israel überführt, seit 2006 ruhen auch die Kinder Paulina und Hans an seiner Seite. Julie Herzl indes wird bis heute in Israel verschwiegen und verdrängt.

"Man könnte doch die weiteren Verwandten befragen, man könnte auch einen Gedenkstein für sie neben das Grab von Herzl setzen. Aber leider gab es eben diese Einschätzung damals, dass sie Herzl das Leben zur Hölle gemacht hätte, mit der bis heute geltenden Entscheidung, dass ihr kein Platz in der Geschichte gebühre und sie auch keiner Erinnerung wert sei. Dass umgekehrt auch Herzl ihr das Leben schwer gemacht hat, spielt natürlich keine Rolle. Das ist sehr traurig. Und deshalb denke ich, es ist wichtig, etwas zu erfahren und zuzuhören, selbst auf die Gefahr hin, dass Herzl nicht als das große Symbol und der Held, sondern auch nur als ein Mensch mit Fehlern und Schwächen dasteht. Wir wissen, dass jede große Persönlichkeit auch eine ganz private Geschichte hat, die sie dennoch nicht klein macht. Er hat Großes für uns geleistet, aber zu seinem Privatleben gehörte eben auch seine Frau, und das sollte man auch wissen."