Im Reich der reinen Moral

Von Reinhard Mohr · 23.06.2011
Das westliche Eingreifen in Libyen hat zu einem altbekannten Streit geführt: Ist der Krieg als letztes Mittel der Auseinandersetzung legitim oder ist er - wie Pazifisten meinen - in jedem Fall abzulehnen? Positionen wie die von Margot Käßmann helfen bei konkreten Konflikten jedoch nicht weiter.
Manchmal ist es ja doch hilfreich, das Gespräch von Mensch zu Mensch. Zumindest stiftet es Erkenntnis. Als sich unlängst eine Freundin darüber erregte, wie der Schriftsteller Peter Schneider, Daniel Cohn-Bendit und andere Alt-68er für einen militärischen Einsatz in Libyen argumentierten, mit dem ein Massaker Gaddafis an seinem eigenen Volk verhindert werden soll, entspann sich eine Auseinandersetzung, die typisch ist für unsere Zeit. Hier die angeblich kriegslüsternen Bellizisten, die sich den Amerikanern und der Nato an die Brust werfen, um für ihre alten Sünden zu büßen – dort die Wohlmeinenden, Nachhaltigen und Friedliebenden, die mit Gregor Gysi zutiefst davon überzeugt sind, dass "Krieg keine Probleme löst". Nie und nirgends.

Auch zarte Hinweise, dass Gaddafi, Assad und viele andere Gewaltherrscher einen brutalen Vernichtungskrieg gegen ihre eigenen Staatsbürger führen, verfangen bei den Pazifisten nicht. Ihr Mantra der reinen Moral ist gleichsam unberührbar von unangenehmen Tatsachen und realen Konflikten. Deshalb reagieren professionelle Schönredner wie der Hamburger Friedensforscher Reinhard Mutz besonders allergisch auf die Frage, was im akuten Notfall denn ihre Handlungsalternative sei.

Es sei nicht ihre Aufgabe, sagte die gute alte Freundin, weltpolitische Probleme zu lösen. Wer Kritik übe, müsse ja noch lange nicht sagen, was denn stattdessen zu tun sei. Hilfsweise kommen zwei Argumentationsfiguren hinzu: "Dem Westen" gehe es am Ende ja doch nur um Öl, Macht und Einfluss in der Region. Und: Man hätte eben früher eingreifen müssen, mit Wirtschaftsboykott und politischen Sanktionen.

Im Fall Gaddafi trifft die Kritik durchaus zu: In kollektiver Verblendung wurde der irre Machthaber gestützt und hofiert. Nur ändert das nichts daran, dass jetzt, hier und heute, neu entschieden und gehandelt werden muss, will man einen Rest an politischer und moralischer Glaubwürdigkeit des Westens retten.

An dieser Stelle holen die sanften Moralisierer zum vermeintlich stärksten Schlag aus: Dann müsste man ja auch in Syrien, Somalia, Sudan, Jemen und vielen anderen Ländern eingreifen, und das gehe ja nun gar nicht. Motto: Alle oder keiner. Entweder oder.

Es ist diese Art von Konsequenz, die man auch bei einem Vergewaltigungsversuch auf einem Berliner U-Bahnsteig anwenden könnte: Welchen Sinn macht es zu helfen, wenn doch ein paar Stationen weiter das gleiche Verbrechen passiert, das eben nicht verhindert werden kann? So führt diese – übrigens sehr deutsche – Form der scheinbar moralischen Konsequenz dazu, im Zweifel gar nichts zu tun und auf die unvermeidlichen "Kollateralschäden", Rückschläge und Risiken zu warten, die dann wieder den Bellizisten anzulasten sind. Seht her, so sieht Euer Krieg aus!

"Nichts ist gut in Afghanistan!" – der Satz, mit dem die evangelische Ex-Bischöfin Margot Käßmann berühmt wurde, markiert diese Haltung idealtypisch. Einerseits übt man radikale Kritik an der bösen Wirklichkeit, andererseits zieht man sich selbst ins Reich der reinen Moral zurück, in dem allenfalls gemeinsame Gebete mit den Taliban erlaubt sind. Politik ist hier längst nur noch Ayurveda für die unschuldige Seele, die sich keinesfalls die Hände schmutzig machen will. "Ich finde Krieg schlicht und ergreifend grauenvoll", schreibt sie in ihrem jüngsten Bestseller "Sehnsucht nach Leben", "und alle Rechtfertigungsversuche für kriegerisches Handeln haben für mich einen schalen Beigeschmack".

Gerne glauben wir, dass Margot auch den Zweiten Weltkrieg schlicht und ergreifend grauenvoll fand, aber diese pseudonaive Kindersprache verrät mehr über sie selbst als über das Wesen des Krieges. Merkwürdig nur, dass sie bis heute nicht ein einziges Mal in Afghanistan war, um Gebetsvorbereitungen mit friedliebenden Taliban zu treffen. Aber darum geht es natürlich gar nicht. Denn: "Frieden fängt ja im eigenen Umfeld an", wie sie in ihrem neuesten Erbauungswerk für die kritische Seele dekretiert.

Hier betrachten wir den Margot-Käßmann-Komplex in seiner reinsten Form: Es geht um den Frieden in mir selbst. Die böse Welt da draußen hat nichts damit zu tun. Sie ist nur eine diffuse Erscheinung hinter den Glasbausteinen des eigenen Glaubens. Deshalb wird man den Satz "Nichts ist gut in Syrien" von der Heiligen Margot niemals hören. Dafür reicht ihre "Fantasie" einfach nicht aus, die nichts anderes ist als der bigotte Moralismus einer frömmelnden Selbstgerechtigkeit.


Reinhard Mohr, geboren 1955, ist freier Journalist. Zuvor schrieb er für Spiegel Online und war langjähriger Kulturredakteur des Spiegel. Weitere journalistische Stationen waren der Stern, Pflasterstrand, die tageszeitung und die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Buchveröffentlichungen u. a.: "Das Deutschlandgefühl", "Generation Z", "Der diskrete Charme der Rebellion. Ein Leben mit den 68ern" und "Meide deinen Nächsten. Beobachtungen eines Stadtneurotikers".