"Im Iran anders zu sein, hat einen hohen Preis"

Shadi Sadr im Gespräch mit Jürgen König · 05.06.2009
Die iranische Frauenrechtlerin Shadi Sadr ist der Ansicht, dass sich Demokratie und Menschenrechte im Iran durchsetzen lassen. Sie glaube an einen demokratischen und freiheitlichen Iran, sagte Sadr.
Jürgen König: Miss Sadr, in einer Woche wird im Iran ein neuer Präsident gewählt, der amtierende Präsident Ahmadinedschad, 52 Jahre alt, er ist auf Wahlkampftouren, gilt bei diesen Wahlen auch als Favorit. Sein schärfster Konkurrent ist der frühere Ministerpräsident Mir-Hossein Moussavi, 67 Jahre alt. Was erwarten Sie von diesen Wahlen?

Shadi Sadr: Also das ist jetzt noch schwer zu sagen, ob Ahmadinedschad oder Moussavi gewinnen werden, denn die Wahlkampagnen verlaufen sehr nah beieinander. Aber was ich gerne sagen möchte, ist, dass egal wer von den beiden gewinnt, diese Wahlen ein sehr faszinierendes Element haben.

Nicht nur wegen dieses wirklich engen Kopf-an-Kopf-Rennens der beiden, es ist auch das erste Mal, dass im Iran wirklich verschiedene Gruppen und verschiedene Bewegungen bei den Debatten teilnehmen und auch ihre Forderungen einbringen.

Das sind zum Beispiel auch Minderheiten wie die Kurden, von denen man vorher solche Beteiligung nicht gewohnt war, Arbeiterbewegungen, aber auch die Frauenbewegungen, die bei dieser Wahl ihre Stimme hören lassen.

König: Sie, Frau Sadr, haben eine Rechtsberatungsstelle für Frauen im Iran. Welche Rolle spielen die Frauen bei dieser Wahl und in den Wahlkämpfen?

Sadr: Die Frauenrechtlerinnen haben eigene fundamentale Forderungen bei diesen Wahlen gestellt. Es geht vor allem um eine Gleichberechtigung von Männern und Frauen im Iran, die es bisher so in der iranischen Verfassung nicht gibt. Und es geht um die Ratifizierungen von Sida, der Konvention zur Eliminierung jeglicher Diskriminierung von Frauen. Und diese Forderungen werden eigentlich auch von allen Kandidaten angehört und bisweilen unterstützt, außer von Ahmadinedschad.

König: Wenn Sie sagen, diese Forderungen würden unterstützt, in welchem Maße? Sind das Lippenbekenntnisse oder steht dahinter wirklich der Wunsch, fundamental die Lage der Frauen zu verändern, um zu einer wirklichen Gleichberechtigung der Geschlechter im Iran zu kommen?

Sadr: Es ist ja nicht so, dass alle diese Forderungen unterstützen, aber sie haben sie zumindest aufgenommen, sie haben sie sich angehört und sie haben darauf reagiert. Manche sagen dann zum Beispiel, ja, wir werden dieses Abkommen ratifizieren, aber mit der Verfassung ist das vielleicht etwas schwierig, man müsste die Verfassung noch einmal neu lesen, bevor man sie ändern kann.

Allgemein wissen natürlich alle, dass diese Statements der Politiker und der Kandidaten wahrscheinlich nur Versprechen sind oder auch nur Versprechen sein können. Also es gibt keinerlei Garantie dafür, dass sie das auch umsetzen wollen. Wichtig ist uns aber dabei, dass wir diese Gelegenheit des offenen Raumes der Wahlen nutzen, unsere Anliegen öffentlich zu machen und vorzubringen.

König: Ayatollah Khomeini hat 1979 das islamische Strafrecht eingeführt, nach einer Phase der Liberalisierung kehrte Präsident Ahmadinedschad dann zu diesem Strafrecht zurück. Sie haben in Ihrer Tätigkeit als Anwältin zwölf Fälle betreut, zehn Frauen und zwei Männer, die zum Tod durch Steinigung verurteilt worden waren. Diese Urteile wurden dann aufgehoben. Warum waren diese Todesurteile gefällt worden, und wie haben Sie sie verhindern können?

Sadr: Wie Sie wissen, gab es ja nach der Revolution von 1979 mit Khomeini eine starke Welle des Fundamentalismus im Iran. Die Scharia-Gesetze wurden eingeführt, der islamische Gerichtshof, die Steinigungen, all das ist in der Welt bekannt geworden. Und nach dieser Pause gab es dann mit Ahmadinedschad eine neue Welle des Fundamentalismus, den wir dann neuen Fundamentalismus genannt haben.

Und dann wurden nach circa 15 Jahren Steinigungen wieder durchgeführt, immer wieder. In den letzten vier Jahren gab es ungefähr acht Steinigungen, und es gibt jetzt noch viele Menschen, die in Gefängnissen sitzen und darauf warten, gesteinigt zu werden. Um das zu verhindern, haben wir eine Kampagne gegründet zum Stopp aller Steinigungen. Eine Gruppe freiwilliger Anwälte hat es geschafft mit ihrer Kampagne, neun Frauen und zwei Männer vor der Steinigung zu bewahren.

Und auch, wenn die Situation jetzt wirklich sehr schwierig ist und es für uns noch sehr, sehr viel zu tun gibt in diesem Unterdrückungssystem, ist es so, dass wir das Glück hatten, dass das Parlament nun über einen neuen Entwurf für ein Strafgericht spricht. Und in diesem neuen Entwurf ist die Steinigung nicht mehr enthalten. Und das werten wir durchaus als Erfolg.

König: Frau Sadr, Sie sind auch Chefredakteurin der Webseite "Women in Iran", das ist das erste Internetportal, das sich der Arbeit von Frauenrechtlerinnen im Iran widmet. Wenn man dieses Wort Steinigung hört, öffentliche Steinigung, so wie eben besprochen, und sich gleichzeitig vorstellt, was die "Neue Zürcher Zeitung" schrieb, dass es allein in Teheran 4000 Internetcafés gibt mit, wie es hieß, sechs bis sieben Millionen regelmäßigen Internetnutzern und Bloggern, dann kommt es einem so vor, als seien das zwei so vollkommen verschiedene Welten, die da nebeneinander her leben, also die eine Welt, die ernsthaft nicht nur über Steinigungen nachdenkt, sondern das auch praktiziert, und zum anderen eine Hightech-Welt, die wie selbstverständlich mit dem Internet umgeht und damit ja natürlich wirklich im 21. Jahrhundert angekommen ist. Wie geht das zusammen? Muss das nicht eine Gesellschaft letztlich vielleicht nicht gleich zum Zerbrechen bringen, aber doch großen Zerreißproben aussetzen?

Sadr: Ja, also das ist wirklich so im Iran. Es ist auch in unserem Alltag so, dass wir praktisch ein Doppelleben führen, einmal das private und dann das öffentliche. Auch trotz aller Versuche der Politiker und der Geistlichkeit, das Leben im Iran als homogen darzustellen, die iranische Gesellschaft als eine homogene zu gestalten, ist sie doch total zersplittert.

Und dieser Widerstand gegen diese Homogenisierung oder Gleichschaltung besteht sozusagen auf jedem Niveau in der gesamten Gesellschaft. Ein Beispiel sind da nur diese Webseiten und die Blogger, in denen ein vollkommen anderer Lebensstil zelebriert wird und in denen ein wiederum anderer Aspekt zutage tritt. Und dieser zeigt dann auch den Widerstand dagegen. Mir ist wichtig, dass die westlichen Hörer verstehen, dass der Iran absolut keine homogene Gesellschaft ist.

König: Aber das klingt jetzt so, Frau Sadr, als ob sie unter der Decke einer starken Autorität, einer starken geistlichen und weltlichen Autorität, praktisch ein pluralistisches Leben sich entfalten kann in Teheran. Ist das wirklich der Fall oder ist nicht auf der anderen Seite die geistliche Macht und die weltliche Macht, also die des Präsidenten Ahmadinedschad, so stark, dass sie alle Lebensbereiche letztlich doch durchdringt? Also das ist immer der Eindruck, den man hier hat, der vielleicht falsch ist.

Sadr: Im Iran anders zu sein, hat natürlich einen hohen Preis, aber es sind sehr viele Leute bereit, diesen Preis täglich zu zahlen. Und das Bild der allmächtigen Regierungen, wie sie im Westen so oft dargestellt wird, stimmt so nicht ganz.

Die Regierung im Iran ist tatsächlich sehr stark, im Vergleich zum Beispiel zu Pakistan oder anderen Ländern der Region, aber auch die islamische Republik des Irans braucht eine gewisse Legitimierung, vor allem zu Zeiten der Wahlen. Darum versuchen sie dann auch manchmal, bei gewissen Themen Kompromisse zu finden oder kompromissbereiter zu sein. Bei den Wahlen braucht die Regierung zum Beispiel die Stimmen des Volkes.

Deswegen ist zu Zeiten des Wahlkampfes oft eine etwas offenere Atmosphäre anzufinden, die danach natürlich gleich wieder sich komplett verändert. Und dieser Zeitraum, der muss sozusagen genutzt werden. Aber wie man sich in diesem Land bewegt, wie man seinen Protest äußert oder als normaler Bürger lebt, das ist nie ein gerader Weg. Man muss sich in Schlangenlinien da durchmanövrieren, um das zu schaffen und die Orte der Freiheit und der Offenheit zu finden. Das ist ein sehr komplexes Thema.

König: Frau Sadr, man liest hier immer wieder, dass reformorientierte Zeitungen zum Beispiel im Iran verboten worden sind oder dass Filmemacher an der Ausreise gehindert werden zu Festivals zum Beispiel, wo deren Filme gezeigt werden sollen.

Man liest, dass Intellektuelle verhaftet worden sind. Wie gefährlich ist es, innerhalb des Iran sich sozusagen gegen die Autoritäten des Irans zu stellen, und sei es, auch nur darüber zu schreiben oder darüber zu berichten oder darüber nachzudenken.

Sie selber haben Demonstrationen organisiert, sind dafür auch für sieben Tage, wenn ich das richtig gelesen habe, ins Gefängnis gekommen, danach gegen Kaution, aber auf Bewährung freigelassen worden. Wie gefährlich ist es, die Arbeit zum Beispiel zu leisten, die Sie und viele Kolleginnen und Kollegen dort leisten?

Sadr: Ja, wie viele andere Menschenrechts- und Frauenrechtsaktivisten bin auch ich ein Fall in den Akten im Revolutionsgerichtshof. Ich wurde vor drei Jahren verurteilt und war auch selbst im Gefängnis. Meine Organisation RAAHI, die sich für die Rechte der Frauen eingesetzt hat, wurde verboten.

All diese Dinge sind permanente Bedrohungen, die wir erfahren und die wir empfinden. Wir warten eigentlich immer darauf, dass die nächste Bedrohung Wahrheit wird und dass wir diese am eigenen Leib erfahren. Ich durfte zum Beispiel auch ein Jahr lang nicht reisen wegen einer Rede, die ich in einem europäischen Land gehalten hatte. Wie ich schon sagte, im Iran anders zu sein, hat einen hohen Preis.

König: Man kämpft ja nicht ohne die Hoffnung darauf, dass der Kampf auch eines Tages erfolgreich sein wird oder dass er zumindest dazu beiträgt, dass irgendwann Erfolge zu verzeichnen sein werden. Glauben Sie, dass Sie eines Tages an einer freiheitlichen demokratischen Republik Iran leben werden?

Sadr: Definitiv ja. Sonst würden wir nicht weiterkämpfen und auch nicht im Iran bleiben.