Im Geist der Kammermusik

Von Frederik Hanssen · 16.08.2013
Auch im zehnten Jahr ihrer Zusammenarbeit sind Claudio Abbado und sein Lucerne Festival Orchestra noch ein Erlebnis. Wie es Abbado gelingt, ein absolut natürlich wirkendes, organisches Klang-Kontinuum zu schaffen, das ist schon phänomenal.
Vor 75 Jahren begann alles mit einem Konzert unter der Leitung von Arturo Toscanini: Am Vierwaldstättersee ist seitdem eines der edelsten Sommerfestivals der Welt beheimatet. Spitzenorchester wie die Wiener und Berliner Philharmoniker machen hier auf ihren Sommertourneen gerne Zwischenstation. Seit zehn Jahren aber ist das absolute Highlight des Lucerne Festival das von Claudio Abbado gegründete Festivalorchester.

Aus seinen Musikerfreunden stellte er 2003 ein Ensemble zusammen, das genauso musiziert wie der italienische Dirigent es liebt: im Geist der Kammermusik, durch intensives Zuhören. Als säßen lauter Lyriker beieinander, die so sensibel aufeinander reagieren, dass jeder seinen individuellen Duktus beibehalten kann und am Schluss doch ein gemeinsames Gedicht herauskommt.

Ziel ist es, jugendliche Begeisterungsfähigkeit mit Profikönnen zu verbinden. Denn ein graumeliertes All-Star-Orchestra schwebte Abbado niemals vor. Im Gegenteil: Er wollte die positiven Erfahrungen, die er mit Nachwuchsorchestern gemacht hat, auf die "Erwachsenenorchester" übertragen. Das einst auf seine Initiative hin gegründete Mahler Chamber Orchestra bildet den Kern des Orchesters, dazu kommen Solisten wie Sabine Mayer und Reinhold Friedrich sowie Mitglieder aus diversen europäischen Top-Orchestern.

Auch im zehnten Jahr ihrer Zusammenarbeit sind Claudio Abbado und sein Lucerne Festival Orchestra ein Erlebnis. Beim Eröffnungskonzert am 16. August sorgt in dem von Jean Nouvel geschaffenen Kulturzentrum die Begeisterung, mit der auf der Bühne musiziert wird, wieder für Gänsehautmomente. Wie es Abbado gelingt, ein absolut natürlich wirkendes, organisches Klang-Kontinuum zu schaffen, das ist schon phänomenal. Brahms' "Tragische Ouvertüre" entwickelt sich aus einem enorm vollen, weichen Streicherklang mit starkem Bassfundament, so vielschichtig, so vielgesichtig, als wäre es eine dieser überwältigenden Seelenlandschaften Gustav Mahlers.

Nach vorne denkt Abbado beim Ausschnitt aus Schönbergs "Gurreliedern". Statt in spätestromantischer Dekadenz zu schwelgen, lässt er die Musik des Riesenorchesters im fahlem, gleißenden Licht erscheinen, kühler, als die "Tristan"-Atmosphäre nahelegt, modern im Sinne des Jugendstil, dessen Kunsthandwerker den Glanz von edlen Metallen schätzten. Mezzosopranistin Mihoko Fujimura fügt sich im "Lied der Waldtaube" mit ihrer klaren, geraden Stimme und einem distanziertem Erzählton ideal in diesen Interpretationsansatz.

Und dann die "Eroica", Referenz ans diesjährige Festivalmotto "Viva la revolucion!". Nicht das Heldische betont Abbado hier, den Kopfsatz nimmt er geradezu beiläufig - nein, der politisch engagierte Maestro zeigt die Schattenseite aller Umstürze: den Tod, die Opfer. Mit extremer Konzentration und einem provokant langsamen Puls macht er den Trauermarsch zum Herzstück der Beethoven-Sinfonie. Theatralischer als in seiner Aufnahme mit den Berliner Philharmonikern, düster, ergreifend. Vor dem inneren Auge des Zuhörers tauchen Schlachtfelder im Morgennebel auf, Napoleon in Waterloo. Ein schonungslos naturalistischer Zugriff, der Restbitternis in den beiden folgenden Sätzen hinterlässt.
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