Im Bücherbauch (5)

Orientalische Reise

Eine Bronzeplatte erinnert an Hermann Fürst von Pückler-Muskau (1785-1871) nahe dem Neuen Schloss im Muskauer Park, aufgenommen am 29.08.2013 in Bad Muskau.
Eine Bronzeplatte erinnert im Park nahe dem Neuen Schloss in Bad Muskau an Hermann Fürst von Pückler-Muskau (1785-1871). © picture-alliance / dpa / Patrick Pleul
Von Lukas Bärfuss · 06.02.2015
Ein Forschungsreisender im Bücherbauch: Der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss ist für die Rubrik "Originalton" in die Tiefen der Zentralbibliothek Zürich hinabgestiegen. Dort folgte er den Spuren des reisenden Fürsten Hermann von Pückler-Muskau.
In der Zentralbilbliothek Zürich
stehen naturgemäß viele Bücher
aber das große Glück für Flanierer in der Literatur
ergibt sich aus der Tatsache
dass diese Bücher
in Freihandregalen stehen
Und man also ein Spiel zu spielen vermag
dessen ich niemals müde werde
indem man durch die Reihen schlendert
und durch zufällige Auswahl
sein Wissen erweitern kann
indem man ein Buch pflückt
und sich verliert in Geschichten
wie zum Beispiel hier in dieser
Die Geschichte der Signatur
F0703
Ein Buch
geschrieben von einem gewissen Fürst Pückler
Es trägt den Titel
Orientalische Reisen
Und ist erschienen
vor vielen hundert Jahren'
Auf dem Frontispiz
eben dieser Fürst
mit einem nicht unsympathischen, rundlichen Gesicht
Er sieht ein bisschen aus als hätte er sich verkleidet
für den baldigen Karneval
Mit einem Oberlippenbärtchen
in einer orientalischen Tracht
Und bestimmt hat er eine schöne Geschichte zu erzählen
dieser längst in seinem Grab zu Staub zerfallene Fürst
Und man blättert durch die Seiten
Und mag dabei vielleicht gestört werden von einem anderen Reisenden
der das Rollregal zur Seite schieben will
und man muss sich beeilen
Wir hatten nun nur noch einen mäßigen Marsch
bis zu der an Höhe zweiten Bergspitze dieser Kette
Die aber wegen ihrer günstigen Lage die schönste Aussicht gewährt
Es ist ein rau gezackter Granitkegel
von dem aus man die beiden großen Pläne
die sich im Halbkreis von Meer zu Meer erstrecken
mit einem Vorhang eines unabsehbaren Gebirges dahinter
Und dem See Efzara in ihrer Mitte
der ungefähr zehn Stunden im Umfange hat
überschaut
Man schließt das Buch
Und man denkt sich
wie merkwürdig es ist
das man eben noch das Wort
unabsehbar gesprochen hat
und es einem Augenblick später in diesem Buch gefunden hat
Und man denkt sich auch
dass man damals
noch die Wegstrecken in Minuten und Stunden
und nicht in Meter und Kilometer gemessen hat
damals
zu Zeiten des Fürst
Hermann von Pückler-Muskau
zu Zeiten seiner Orientalischen Reisen
im vierten Untergeschoss
der Freihandlager der Zentralbibliothek zu Zürich

Kleine Formen erproben und mit den Möglichkeiten des Radios spielen: "Originalton" heißt eine tägliche Rubrik unserer Sendung "Lesart" - kurze Texte, um die wir Schriftsteller bitten: in dieser Woche den Schweizer Schriftsteller und Dramaturgen Lukas Bärfuss.
Lukas Bärfuss, geb. 1971 in Thun/Schweiz, ist einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Dramatiker. Sein Debütroman "Hundert Tage" wurde für den Deutschen und den Schweizer Buchpreis nominiert und in 14 Sprachen übersetzt. Für seinen letzten Roman "Koala" erhielt Lukas Bärfuss den Schweizer Literaturpreis 2014. Er lebt in Zürich.

Der Schweizer Schriftsteller Lukas Bärfuss.
© Frederic Meyer
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