Im Biotop der Besserwisser oder: Auf dem Weg in die Unfreiheit

Von Karen Horn · 14.05.2007
Die Berliner Republik ist ein Biotop der Besserwisser. Die Politik sieht ihre Aufgabe nicht mehr darin, gesellschaftliche Entwicklungen offenzuhalten – sie hat jede Demut verloren. Der Bürger wird heute zum ungefragten Erfüllungsgehilfen auf dem Weg zu angeblich höheren gesellschaftlichen Zwecken, er wird instrumentalisiert. Es ist höchste Zeit, dass unsere Alarmglocken schrillen.
Früher war das anders. Es gab in Deutschland einmal so etwas wie ein ordnungspolitisches Denken. Die von der Freiburger Schule der Nationalökonomie geprägte Unterscheidung zwischen einer ergebnisorientierten "Prozesspolitik", wie sie heute betrieben wird, und einer mit Hilfe von allgemeinen Regeln nur den äußeren Rahmen absteckenden und damit ergebnisoffenen "Ordnungspolitik" hatte in den Anfängen der Bundesrepublik noch politisches Gewicht. Die Erfahrung des Totalitarismus hatte in den vierziger Jahren die Erkenntnis gebracht, dass der Einflussbereich des Staates so eng zu begrenzen ist, dass er als Hüter der allgemeinen gesellschaftlichen Spielregeln auftritt, nicht aber selbst die Tore schießt. Hier hat sich Ludwig Erhard verdient gemacht, der Vater des angeblichen Wirtschaftswunders, das freilich gar kein Wunder war, sondern Ergebnis eines weitgehenden Verzichts auf prozesspolitische Eingriffe und einer klugen Ordnungspolitik.

Die Erfahrung des Nazi-Totalitarismus aber liegt weit zurück, zu weit zumindest, um noch fortzuwirken – und auch die Erfahrung des linken Totalitarismus im Osten ist verblasst. Umso notwendiger ist es, sich wenigstens logisch klar zu machen, was die Berliner Besserwisser eigentlich mit uns tun. Und das ist gar nicht so schwer zu erkennen: Das Individuum verschwindet hinter dem Kollektiv, die Politik begeht die moralische Verfehlung der Bevormundung. Und damit geht sie in jene Falle, die mit dem Zusammenbruch des Sozialismus doch eigentlich hätte verschwunden sein sollen: die Falle des Konstruktivismus und der "Anmaßung von Wissen", wie es der große Ökonom und Sozialphilosoph Friedrich August von Hayek ausgedrückt hat.

Unsere Gesellschaft ist kein fertiges, bestehendes, großes Ganzes, ebenso wenig wie der Staat. Die Gesellschaft setzt sich aus einer riesigen Zahl von Individuen zusammen, von denen viele irgendwie miteinander interagieren. Die Gesellschaft hat keine eigene, unabhängige Substanz. Sie ist nichts anderes als eine Art fotografische Momentaufnahme der Interaktion von mitunter höchst unterschiedlichen Menschen. Als Mensch, als Teil der Schöpfung ist das Individuum Selbstzweck. Jedes Individuum hat ein Anrecht auf ein freies und selbst bestimmtes Leben nach seinem eigenen Willen – soweit damit nicht die Freiheitsrechte anderer Menschen verletzt werden. Das Individuum einer gesellschaftlichen Rationalität unterzuordnen, ist eine Ungeheuerlichkeit.

Sokrates hatte schon recht: Ich weiß, dass ich nichts weiß. Und Hayek war es, der das Wunder der "Wissensteilung" erkannt hat: Wenn wir freiwillig, spontan und ungesteuert miteinander interagieren, also Handel treiben, Verträge schließen usw., dann bringen wir darin unser privates, "lokales" Wissen ein. In der Interaktion legen wir nicht nur unser Wissen zusammen, sondern durch dieses Kommunizieren im weitesten Sinne entsteht sogar neues Wissen. Das ganze Leben in der Gemeinschaft ist ein Entdeckungsverfahren. Das ist die unglaubliche schöpferische Kraft der "spontanen Ordnung": Sie koordiniert nicht nur, sondern sie schafft nebenbei auch noch ein gesellschaftlich verwertbares Wissen, das weit über die Summe des individuellen Wissens hinausgeht, auch über Lebensentwürfe. Da der freiwillige Prozess der Interaktion dieses gesellschaftliche Wissen überhaupt erst entstehen lässt, ist ein politisches Vorgreifen immer eine Anmaßung und zwangsläufig schädlich. Mit guten oder schlechten Absichten hat das gar nichts zu tun – es ist nur so, dass die Politik gar nicht wissen kann, was für die aus lauter Individuen zusammengesetzte Gesellschaft gut ist, bevor diese Individuen das im Zuge der spontanen Ordnung selbst herausgefunden haben.

In der Berliner Republik indes wird der Bürger an allen Ecken und Enden bevormundet. Den Politikern macht ordnungspolitische Zurückhaltung keinen Spaß. Und so beschränkt sich die Politik längst nicht mehr darauf, mit Hilfe von allgemeinen Regeln die Bedingungen dafür zu schaffen, dass ein Prozess der spontanen Ordnung möglichst frei und offen ablaufen kann und dass so ein nicht vorhersagbares gesellschaftliches Erfahrungswissen entsteht – ein Wissen darüber, wie wir leben wollen. Ganz im Gegenteil. Die Politik befleißigt sich vielmehr, diese gesellschaftlichen Prozesse sogar noch zu verstopfen, indem sie die Endergebnisse diktiert und die Vielfalt wegnimmt. Sie sagt uns, wie wir leben sollen. Damit unterbindet sie gerade das, was für die Entwicklung unserer Gesellschaft entscheidend ist. Bloß davon haben unsere Berliner Besserwisser, die sich als Sozialingenieure über den Bürger erheben, offenbar noch nie etwas gehört. Und so schreiten wir immer weiter fort – auf dem Weg in die Unfreiheit.


Karen Horn, geboren am 13. Dezember 1966 in Genf (Schweiz), ist promovierte Volkswirtin. Von 1995 bis Mai 2007 war sie Mitglied der Wirtschaftsredaktion der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" als verantwortliche Redakteurin für die Seite "Die Ordnung der Wirtschaft" und die Rubrik "Wirtschaftsbücher". Sie schreibt über verschiedene wirtschaftspolitische und wirtschaftswissenschaftliche Themen. Für die Friedrich-August-von-Hayek-Gesellschaft leitet sie den Juniorenkreis Publizistik. Sie ist Mitglied der Mont Pèlerin Gesellschaft, Kuratoriumsmitglied des Walter-Eucken-Instituts in Freiburg, Mitglied des akademischen Beirats des "Institut Constant de Rebecque" in Lausanne, Vorstandsmitglied des "Council on Public Policy" in Bayreuth sowie Mitglied der Jury für den deutschen Wirtschaftsfilmpreis. 1997 erhielt sie den Ludwig-Erhard-Förderpreis für wirtschaftlichen Journalismus, 2005 den Publizistik-Preis der Friedrich-August-von-Hayek-Stiftung. Sie hat ein Buch über "Moral und Wirtschaft" verfasst sowie ein Brevier über die Schriften von Benjamin Constant. Am 1. Oktober 2007 wechselt sie als Leiterin des Hauptstadtbüros zum Institut der deutschen Wirtschaft nach Berlin.
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