Im Bad vernascht

Von Frieder Reininghaus · 11.06.2011
Das meistgespielte Opernwerk des 19. Jahrhunderts wird in Brüssel so plausibel wie noch nie: Schärfer in der Klage über historisches Unrecht, ernst genommen in seinem religiösen und religionskritischen Aspekt. Gesungen wird zuverlässig bis brillant.
"Die Hugenotten" von Eugène Scribe, dem großen Dramatiker und bedeutendsten Librettisten des französischen 19. Jahrhunderts, und Giacomo Meyerbeer, dem Meister der Grand Opéra, handeln, wie es von der Gattung zu erwarten ist, von Liebe und Lust, Hass der Konfessionen und politischer Intrige, Verschwörung, Mord und Totschlag (in diesem Fall: Bartholomäusnacht, Paris 1572). Es gab gute Gründe, warum dieses Werk lange Zeit sehr viel mehr gespielt wurde als alle anderen (selbst als die inzwischen so unverwüstliche "Zauberflöte"). Es entwickelt neben dem Zauber der großen dramatischen, von tiefen Leidenschaften aufgewühlten hohen Stimmen ein Historien-Drama (das allerdings von Anfang an von der Zensur stark gezaust wurde und in vielen Städten Europas aufgrund der Interventionen der Obrigkeiten bis zur Unkenntlichkeit entstellt wurde).

Es geht um eine verzwickte Liebesgeschichte in politisch kontaminierter Zeit (die ein wenig anders als im Film von Patrice Chéreau erzählt wird): Graf von Nevers feiert seinen Abschied vom Junggesellendasein; bei dieser Gelegenheit benimmt sich Marcel, der Diener des protestantischen Aristokraten Raoul, ruppig; in der Braut, der Hofdame Valentine, entdeckt Raoul de Nangis eine frühere Flamme – sie bittet Nevers überraschend um die Aufhebung des Heiratsversprechens (aufgrund königlichen Wunsches); Königin Marguerite (d.i. La Reine Margot), selbst im Begriff, mit Henri (IV) von Navarra einen Protestanten zu heiraten, will mit der Kombination Raoul/Valentine eine weitere katholisch-protestantische Liaison herbeiführen; mit verbundenen Augen wird Raoul zum Bad der schönen Damen des Hofes geführt – und verliebt sich Knall auf Fall in die Königin, die einem Abenteuer nicht abgeneigt ist, aber erst einmal die geplante Hochzeit einfädeln will (wobei ihr Raoul einen Strich durch die Rechnung macht); König Charles IX bestellt zwei der katholischen Edelleute ein; dann wird ein Mordanschlags auf den Anführer der Protestanten, Admiral Coligny geplant – und so nimmt das Verhängnis seinen Lauf, das in der Oper endet, indem Marcel, Graf Raoul und die ihm bis in den Tod treue Valentine von einer Salve der Katholiken niedergestreckt wird.

Die Vorgeschichte der Bartholomäusnacht wurde von Scribe und Meyerbeer in drei prächtige Tableaus gefasst. Sie erwiesen sich für die Opernentwicklung des 19. Jahrhunderts als richtungsweisend – für Berlioz wie für Donizetti, für Verdi, Offenbach und – mehr als er selbst und seine Jünger eingestehen wollten – für Wagner. Das erste der musikalisch und dramatisch imposanten Bilder: die Fest- und Trinkszene auf dem Landgut des Grafen von Nevers, zu der demonstrativ auch der protestantische Adlige Raoul geladen wurde und bei der dessen raubeiniger Diener Marcel auftaucht, dem Jérôme Varnier starkes Stimmgewicht verleiht. Da bahnt sich die Rivalität um die junge Valentine an, deren Partie von Mireille Delunsch ebenso zuverlässig und immer wieder anrührend gestaltet wird wie die des Pagen von der brillanten Yulia Lezhneval.

Das zweite Tableau: Château Chenauceaux, von dem aus die schöne Prinzessin Margot, die durch ihre Heirat mit Henri IV am Tag vor der Bartholomäus-Nacht zur Titularkönigin von Navarra avancierte – die legendäre Skandal-Szene, bei der Margot den inkognito herangeschafften Raoul vernascht, und mit dem Bad der Hofdamen. Der Regisseur Olivier Py lässt drei von ihnen ins Wasser steigen, wie Gott sie geschaffen hat. Eric Cutler erscheint als gut gebauter Raoul und völlig glaubhaft in seiner Rolle, zunächst noch etwas unsicher in der Intonation und auf Schonung der Stimme bedacht, die er dann in den letzten beiden Akten mit voller Wucht und hoher Pracht zum Einsatz gelangen lässt. Rundum makellos agiert und singt Marlis Petersen – ihre Marguerite de Valois dürfte auch gerade auch für Stimmfetischisten eine mittlere Sensation sein.

Olivier Py nahm den religiösen und religionskritischen Aspekt der Tragödie so ernst wie die historischen und sozialen Komponenten. Die Kostüme von Pierre-André Weitz, die zwischen der Mode des späten 16. Jahrhunderts und des frühen 19. Jahrhunderts changieren, deuten ebenso wie seine flexiblen Bauteile, die Fassaden der Loire-Schlösser, des Louvre, der Hugenotten-Häuser an der Place des Vosges und im alten Pariser Marais zitieren, die Historizität an.

Scribe hatte im Lauf der Entstehung dieser gewaltig großen Oper auf Veranlassung Meyerbeers die Handlung von einer Liebesintrige im historischen Gewand zu einer "Historien-Oper" promoviert, in deren Gestaltung sehr präzise Ergebnisse der damaligen historischen Forschung Eingang fanden. Gerade aber die waren der 1835 in Paris wieder eingeführten Zensur ein Dorn im Auge. In die neue Brüsseler Fassung der "Hugenotten" wurden etliche Passagen wieder eingefügt, die bereits vor der Uraufführung gestrichen werden mussten (unter anderem, weil keine einst regierenden Herrscher von Frankreich kritisch gezeigt werden durften – später wurde die Handlung dieser Oper in den verschiedensten Städten bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt). Am Théâtre de la Monnaie tritt sie jetzt wieder auf – wenigstens als stumme Rolle: die Königsmutter, Intrigantin und Giftmischerin Catherine de Medici, die in Kollaboration mit einem hochrangigen Vertreter der Kurie die Mordnacht einfädelt.

Im Gewand der Historizität erschien diese Oper der Nachwelt als Plädoyer gegen den Fanatismus im Allgemeinen und den religiösen im Besonderen. Also: für Toleranz und gesellschaftlichen Ausgleich. Durch die Rekonstruktionen ergibt sich eine erhebliche dramatische Gewichtsverschiebung – zu Ungunsten der katholischen Hofpartei und deren "ungeheuren Missetat". Die Tragödie wird so plausibel wie bislang noch nie, schärfer in der Klage über historisches Unrecht und hinsichtlich einiger sozialer Aspekte (vor allem im dritten Akt). Und das meistgespielte Werk des 19. Jahrhunderts erringt unter der Leitung von Marc Minkowski (der bei der Premiere gelegentlich erhebliche Probleme mit der Koordination von Chor und Orchester hatte) einen neuen Triumph.
Informationen des Théâtre de la Monnaie in Brüssel