Im Auge des Hurrikans

Von Julia Hummelsiep · 03.11.2011
Was für die meisten Menschen nichts als Schrecken bedeutet, ist für Richard Horodner aus Florida Faszination: Er ist Sturmjäger. Seit über 25 Jahren lebt er vom Verkauf spektakulärer Aufnahmen aus den Zentren der Wirbelstürme. Seine Kunden: Universitäten, Fernsehsender und Privatpersonen.
Der Sturmjäger ist nervös: Seine Hand streicht unablässig über eine raue Stelle auf seinem Oberschenkel und alle paar Sekunden wechselt er seine Position auf dem Fahrersitz - und der Verkehr bewegt sich nicht schnell genug.

Horodner ist müde, seit Tagen hat er kaum geschlafen, zu aufgeregt ist er vor der Sturmjagd.

"Ich helfe den Menschen zu zeigen, was sie durchlebt haben - denn wenn sie vom Hurrikan erzählen, sind es doch immer dieselben Worte: Es hat gestürmt, Bäume sind umgefallen und der Regen peitschte, doch erst die Videos zeigen, wie schlimm der Sturm tatsächlich war."

Während Horodner erzählt, rutscht er weiter nervös auf dem Fahrersitz herum. Der Regen prasselt nicht mehr ganz so stark und die dunkelgraue Wolkendecke ist nun eher hellgrau. Der Sturmjäger ist schneller unterwegs als seine Beute: Knapp 100 km/h zeigt die Nadel auf dem Tacho, etwa fünfmal schneller als Hurrikan 'Irene'. Zeit für Horodner in Erinnerungen zu schwelgen, Hurrikan 'Andrew', der 1992 über Miami hinweg fegte.

Andrew war ein Sturm der Kategorie Fünf, einer von den dreien dieser Stärke in der ganzen Geschichte des USA - mit Windgeschwindigkeiten von bis zu 280 km/h. Doch nur 19 Menschen sind in dem Sturm ums Leben gekommen, beeindruckend wenig bei der Stärke, findet Horodner. Seine Jagd nach 'Andrew' hatte Horodner zurück in sein Haus geführt, unter den Esstisch hinter mit Brettern und Möbeln verrammelten Fenstern - mitten in der Nacht, in absoluter Dunkelheit.

Die Videoaufnahmen von 'Andrew' haben Horodner damals mehr als 100.000 Dollar eingebracht, ein Spitzenverdienst sagt er - denn viel Geld verdiene er nicht in diesem Geschäft, manche Jahre sei er wie ein Bauer ohne Ernte:

Die letzte Ernte ist Jahre her - Hurrikan Charley stürmte 2004 über Florida, Katrina 2005 - erst über Florida, dann über New Orleans. Das waren die letzten Videoaufnahmen, mit denen Horodner eine nennenswerte Menge Geld verdient hat. Die Vorhersagen zu Hurrikan 'Irene' hatten den Sturmjäger auf eine weitere Dokumentation hoffen lassen. Der studierte Steuerberater hält sich mit Steuererklärungen über Wasser, ein profaner, alltäglicher Job, wie er sagt, aber eben eine zuverlässigere Geldquelle als die Hurrikans

Auch wenn Horodner sagt, seine Daten seien nicht so wichtig, so fühlt er sich doch als etwas Besonderes - denn er ist einer der ersten regelmäßigen Hurrikan-Jäger der USA, seit 1965 war er fast hinter jedem Wirbelsturm her, der auf die Küste der Staaten getroffen ist. Emily, Hugo, Charlie, Katrina - insgesamt 77 Hurrikans hat Horodner erlebt, sagt er.

Durch den dichten Regenvorhang leuchten plötzlich auf einem elektrischen Straßenschild in alarmierendem Orange die Worte 'Hurrikan-Warnung für die Küste North Carolinas' auf.

Der Highway in die Gefahrenzone, unkt Horodner grinsend. Er hat die Hoffnung nicht aufgegeben, dass 'Irene' auf ihrem Weg an die Küste wieder an Stärke gewinnt.

Die Hurrikan-Jagd ist ein Zuschauersport - und ich versuche den besten Platz im Stadion zu erwischen, sagt er, während er die 1200 Kilometer ins vorhergesagte Zentrum von 'Irene' fährt. Verrückt findet er das nicht:

"Die Menschen reagieren unterschiedlich, wenn ich ihnen erzähle, dass ich Hurrikans jage. Manche wollen mehr darüber wissen, andere drehen sich einfach um und gehen. So ist das eben, nicht alle Menschen sind gleich."

Horodner lenkt den Wagen vor das Hotel in Morehead City. Die Halle der Rezeption scheint in dämmrigem Licht: Riesige Holzplatten verdecken die Fenster, durch die normalerweise der Hotelpool zu sehen ist. Auf dem Tresen an der Rezeption liegt ein Stapel Zettel, auf dem steht: "Hurrikan 'Irene' kommt - Jeder Gast bleibt auf eigene Gefahr". Horodner unterschreibt ohne Zögern - schnell will er auf sein Zimmer, es ist kurz nach 17 Uhr, Zeit für aktuelle Daten vom Weg des Sturms.

Langsam beginnt sich Wirbelsturm 'Irene' in bunten Farben auf den Radarbildern auf dem Laptopbildschirm zu drehen.

Das Auge ist genau hier, mit seinem Kuli zeigt Horodner auf einen kleinen blauen Punkt inmitten eines roten Kreises und streicht sich mit der Hand durch seinen kurz getrimmten, grauen Vollbart. 'Irene' ist nicht mehr ganz so stark, liest der Sturmjäger aus den Wetterdaten - doch der Luftdruck im Zentrum ist gesunken, normalerweise ein sicheres Zeichen dafür, dass der Wind bald wieder an Geschwindigkeit zulegt.

Sturmjäger Horodner hat Glück: Laut Vorhersage wird das Auge des Hurrikans genau über Morehead City hinweg ziehen. Doch noch ist es nicht so weit, erst früh am nächsten Morgen soll Irene's Auge kommen. Vor der Küste von Morehead City liegt ein schmaler der Inselstreifen - wie eine Barriere im atlantischen Ozean. Atlantic Beach ist durch eine nur etwa anderthalb Kilometer lange Brücke mit dem Festland verbunden. "Dort wird der Hurrikan mit voller Wucht und ungebremst auf den Strand treffen, bereits jetzt schlagen die Wellen zwei, drei Meter hoch," schätzt Horodner.

"Wow, das macht Spaß... ist wie beim Karneval," ruft er durch den Wind. Und zum ersten Mal wirkt Horodner glücklich, befreit - und in seinem Element: Bis zu seinem fünften Geburtstag hatte er in seiner Heimatstadt Miami schon sieben Hurrikans erlebt - auch damals war er mehr fasziniert von den Stürmen, als ängstlich. Als kleiner Junge saß er bei jedem Gewitter am Wohnzimmerfenster, bewunderte die Blitze, die Kraft des Gewitters, den Regen und den Wind:

Die Kraft der Hurrikans ist auch heute noch das, was ihn begeistert. Der 64-Jährige steht mit nackten Füßen und gelbem Regenmantel in der Brandung direkt im Sand, wo sich normalerweise die Touristen in der Sonne aalen. Außer ihm sind noch fünf, sechs Leute am Strand: Es sind Horodners Kollegen - ebenfalls Sturmjäger. Auf dem Parkplatz an der Promenade stehen ihre Pick-Up-Trucks, mit professioneller Aufschrift ihre Internetseite und mit Funkantennen und Anemometern, also Windmessern auf dem Dach.

Auf dem Rückweg zu seinem Auto kommt Horodner an der Strandbar vorbei - von drinnen dringt Lachen und laute Musik durch Regen und Wind auf den Strand.

'Heute Nacht wird eine gute Nacht sein' dröhnt es aus den Lautsprechern - es ist kurz vor 19 Uhr, in einer Stunde beginnt die Ausgangssperre, die die Behörden angeordnet haben. Doch noch stehen an die 20 Menschen an der Theke, trinken Bier, lachen und feiern.

Barbesitzer Jimmy Butts hält seine Kneipe bei jedem Sturm bis zur offiziellen Ausgangssperre offen: Die Einheimischen arbeiten hart, wenn sie sich auf den Sturm vorbereiten, wenn sie ihre Fenster mit Holzplatten vernageln und ihr Hab und Gut sichern, erzählt er. Danach wollen sie einfach ein paar Bier trinken, sich entspannen - und das machen wir hier. Er wird die Nacht in Atlantic Beach verbringen - so wie seine Gäste. So schlimm wird es schon nicht werden, glauben sie.

Nicht weit entfernt steht Sergeant Sharon Colepepper unter einem hölzernen Strandpavillion. Sie ist Polizistin in Atlantic Beach - und sie weiß, dass viele Einheimische dem Aufruf zur Evakuierung nicht gefolgt sind. Colepepper kann verstehen, dass die Menschen ihr Hab und Gut nicht aus den Augen lassen wollen. Doch für sie ist klar: Im Sturm kann niemand erwarten, dass Polizei- oder Feuerwehrleute ihr Leben riskieren, um jemand aus dem Hurrikan zu retten - denn die Menschen wussten vorher Bescheid wurden gewarnt.

Sturmjäger Horodner sitzt wieder im Auto - langsam wird es dunkel. Er fährt durch die Straßen von Atlantic Beach. Kein Mensch ist zu sehen, selten begegnet Horodner einem anderen Auto, obwohl die Ausgangssperre noch nicht begonnen hat. Nur bei etwa jedem zehnten Haus haben die Besitzer Holzplatten vor den Fenstern geschraubt, vor manchen Fenstern parken kleine Lieferwagen eng an der Hauswand, um sie vor dem Wind in Hurrikanstärke zu schützen. Einige haben mit Klebeband große 'X'e auf die Fensterscheiben geklebt, Horodner schnaubt verächtlich: Das habe er schon oft gesehen, aber es helfe gar nichts gegen zerbrochenes Glas.

Horodner fährt zu einem Steg, direkt bei der Brücke zum Festland, in Richtung Morehead City. Das Wasser steht bereits auf der Höhe der Stegbretter, mindestens einen Meter höher als sonst. In wenigen Stunden - mitten im Hurrikan - wird hier alles überflutet sein. Das ist eine der großen Gefahren der Wirbelstürme, laut Statistik sterben mehr als die Hälfte der Hurrikan-Opfer, weil sie ertrinken.

Horodner hat noch nie jemanden in einem Hurrikan sterben sehen. Wäre das anders, würde er vermutlich keinen weiteren Sturm jagen, sagt er, denn solche Bilder gingen ihm nie mehr aus dem Kopf. Der Sturmjäger ist ganz offensichtlich kein Katastrophentourist: Horodner versucht sich emotional von den desaströsen Folgen der Hurrikans zu lösen.

Es dunkel geworden, der Regen pladdert vom Dach des Hotels, und die Blätter an den Palmen auf dem Parkplatz tanzen hektisch im Wind. Noch beleuchten die Straßenlaternen das ungemütliche Geschehen mit ihrem orangenen Licht. Horodner beobachtet das Szenario aus dem Augenwinkel durch das Fenster seines Hotelzimmers - er hat sich wieder hinter den Radarbildern auf seinem Laptop verschanzt:

"Falls 'Irene' weiter in Richtung Norden zieht, kriegen wir den Rand des Auges ab."

Horodner ist stolz auf sich - es scheint, als habe er den richtigen Riecher gehabt mit der Entscheidung, sich in Morehead City einzuquartieren.

Doch nun braucht der 64-Jährige erstmal etwas Ruhe, bevor der Sturm so richtig los geht. Gegen sieben Uhr morgens erwartet Horodner das Sturmzentrum, drei, vier Stunden davor wird der Wind am stärksten wehen. Jetzt ist es kurz vor Mitternacht - ein paar Stunden Schlaf sind also noch drin.

Draußen, auf dem offenen Gang vor den Zimmern steht Kim Hoal und starrt in den Regen. Noch sei er nicht schlimm, sagt sie. Die 57-Jährige hat sich mit Ehemann und Hund ins Hotel geflüchtet. Ihr Haus haben die Hoals seit 25 Jahren in Atlantic Beach - und auch ein kleines Geschäft.

"Ich mache heute kein Auge zu, ich will zumindest wissen, wenn mein Haus wegfliegt."

Hoal klingt verunsichert. Alles, was sie besitzt, ist knapp zwei Meilen entfernt auf der Insel. Wenn der Sturm morgen nachgelassen hat, wird sie sofort rüber fahren und nach ihrem Hab und Gut sehen.

Und endlich ist sie da: Gegen vier Uhr morgens pfeift 'Irene' um die Häuserecken in Morehead City, North Carolina. Der Hurrikan trifft in der Region erstmals auf die Küste der USA. Der Wind peitscht dicke Regentropfen über die Dächer und lässt die Straßenlaternen bedrohlich wackeln. In ihrem Mast schlagen die Stromkabel gegen das Metall - ein Klackern wie das von wehender Takelage im Yachthafen. Am Himmel über Atlantic Beach leuchten grüne Blitze.

Horodner streift in Shorts und T-Shirt um das Hotel herum, immer im Schutz der Hauswand. Er stellt sich nicht in den Wind, der erfahrene Hurrikanjäger fürchtet, dass der Wind etwas los reißt und durch die Luft schleudert. Die grünen Blitze sind explodierende Transformatoren an den Strommasten.

Für Horodner sind diese Explosionen ein Messinstrument - wenn der Wind die Transformatoren zur Explosion bringt, weht er in Hurrikanstärke. Der Strom im Hotel ist seit Sunden aus - auch die Telefonleitung ist tot. Der Wind rauscht durch absolute Dunkelheit.

Mit Böen von etwa 135 Stundenkilometern fegt der Wind nun übers Hotel. Horodner schätzt dies einfach ab - die offiziellen Messwerte werden ihm später Recht geben. Die Palmen verneigen hektisch ihre Köpfe im Wind, doch ihre Stämme wanken kaum - dazu ist der Wind zu schwach. Vereinzelt zerrt er ein paar Dachziegel von den Dächern und wirbelt sie wie Papier herum

Sturmjäger Horodner hat das einzige meteorologische Messgerät in seinem Besitz ums Handgelenk geschnallt: ein Barometer, das den Luftdruck misst.

Und der liegt gerade bei 953 Millibar - laut den Daten der Meteorologen im Nationalen Hurrikan Zentrum in Miami liegt der Luftdruck im Auge von 'Irene' nur ein bar darunter. Sturmjäger Horodner hat es also geschafft:

"Wir sind im Auge des Sturms - doch der Weg hierher hatte nichts von einem Orgasmus,"

beklagt Horodner die Stärke von Hurrikan 'Irene', der auf der Skala der Hurrikanforscher gerade mal die Kategorie 1 erreicht. Mitten im Auge bläst der Wind am schwächsten: Zum ersten Mal seit Stunden erreichen die Windböen eine Geschwindigkeit von maximal 30 Kilometern pro Stunde, eher darunter, schätzt Horodner.

Auch der Regen hat etwas nachgelassen - und weht nicht mehr seitwärts. Eine erste Atempause, denn die Rückseite des Sturms wird bald da sein. Der Tag dämmert, es wird langsam etwas heller - und damit sichtbar, dass 'Irene' bislang keinen großen Schaden angerichtet hat: Nur ein paar abgebrochene Äste sind vom Balkon des Hotels aus auf der vom Regen überschwemmten Straße zu sehen. Die ersten Hotelgäste trauen sich aus ihren Zimmern - und fragen Horodner, was sie noch zu erwarten haben.

Die Rückseite des Sturms hat kaum etwas zu bieten, berichtet Sturmjäger Horodner einer Frau von den letzten Radarbildern aus der Nacht. Das Schlimmste sollten wir überstanden haben. Gut, sagt sie dankbar - und entschwindet zurück in ihr Zimmer.

Horodner erschreckt, in seiner Hosentasche klingelt das Handy - seit Stunden hatte es nicht funktioniert:

Es ist David Frank aus Florida, ein alter Wegbegleiter des Sturmjägers: Horodner erzählt ihm, dass er im Auge von 'Irene' ist - und Frank gratuliert. Das Auge des Sturms zu erreichen ist eine beeindruckende Leistung, die weiß Frank zu schätzen. Horodner grinst breit und bedankt sich sichtlich stolz.

Mittlerweile ist es acht Uhr morgens - mehr als hell genug für Filmaufnahmen. Trotzdem setzt sich der Hurrikanfilmer nicht mit seiner Kamera ins Auto, um Bilder von den überschwemmten Straßen zu drehen, den abgebrochenen Ästen und abgeknickten Bäumen, die an manchen Stellen die Straßen blockieren - oder um zu versuchen, durch die Straßensperre der Polizei nach Atlantic Beach zu kommen.

Nach der ersten Euphorie kommt die Ernüchterung: Ein Hurrikan der Kategorie 1 liefert Horodner nicht die Bilder, die er verkaufen könnte. Und als Wind und Regen wieder stärker werden, das Auge des Sturm also vorüber gezogen ist - verkriecht sich der alternde Sturmjäger in sein Hotelbett und verschläft die zweite Hälfte des Sturms. Vielleicht hat der 64-Jährige einfach schon zu viele Stürme erlebt, definitiv aber wesentlich Spannendere als diesen hier.

Ein paar Stunden später macht sich Horodner auf den langen Heimweg nach Florida, völlig übermüdet und enttäuscht, beim prasselnden Regen der letzten Ausläufer von Hurrikan 'Irene'.

Das Ziel ist, ins Auge des Sturms zu kommen - und dort war ich drin, zieht Horodner sein Fazit. Ich schreib's mir also in mein Buch als erfolgreiche Hurrikan-Jagd. Und dann entschwindet der Jäger im Regen, bis er erneut auf die Jagd geht - nach dem Auge des Sturms.

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