Im Auftrag des Staates

Rezensiert von Jochen Thies · 14.09.2008
Helmut Schmidt blickt in "Außer Dienst" nicht nur auf ein ungewöhnlich langes politisches Leben zurück. Der Altkanzler analysiert auch die aktuelle politische und wirtschaftliche Lage Deutschlands in der globalisierten Welt. - Ein beeindruckendes Werk eines Politikers, dessen Weisheit seit dem Abschied vom Kanzleramt vor 25 Jahren stetig zugenommen hat.
Wie schon oft in den zurückliegenden Jahrzehnten ist der Titel des Buches ein Understatement und damit Schmidt-typisch. Denn statt "Außer Dienst" müsste er "Immer im Dienst" heißen. Dass dies so ist, darüber legt der knapp 90-Jährige in seinem neuesten Buch auf 350 Seiten eindrucksvoll Zeugnis ab, in Haltung, Stil und Aussage einem antiken römischen Konsul ähnelnd, der auf dem Land lebend eine Summe seiner Zeit im Dienst des Staates zieht.

Helmut Schmidt blickt nun auf ein ungewöhnlich langes politisches Leben zurück, das mehr als ein halbes Jahrhundert umfasst. Darüber hinaus, und das ist eine neue Facette des erfolgreichen Buchautors, gibt er Persönliches von sich preis, räumt beispielsweise ein, dass er erst spät im Leben gelernt habe, andere zu loben.

Ungewöhnlich stark und fesselnd für jedermann sind die langen Ausführungen zur Situation der Weltwirtschaft und zur Lage Deutschlands in der globalisierten Welt, gewiss sein altes Lieblingsthema. Aber wegen der politischen Verhältnisse in Deutschland quasi Pflichtlektüre und angesichts der Krise der SPD hochaktuell.

Schmidt zögert nicht einen Augenblick, die Agenda-Politik Schröders, Münteferings und nun wohl auch Steinmeiers zu verteidigen. Dabei beschreibt der Ex-Kanzler zunächst eindrucksvoll die deutsche Realität auf dem Arbeitsmarkt und nimmt kein Blatt vor den Mund:

"Zur Schaffung neuer Arbeitsplätze war Bundeskanzler Schröders sogenannte »Agenda 2010« im Jahre 2003 ein erster, wenn auch sehr später Schritt in die richtige Richtung. Die Verwirklichung en détail war jedoch unzureichend, einige Korrekturen sind inzwischen erfolgt. Aber noch immer gelten mit Gesetzeskraft allgemeinverbindliche flächendeckende Lohntarife; immer noch dürfen Betriebsräte keine individuellen Lohn- und Arbeitszeit-Tarife mit der Geschäftsleitung abschließen; immer noch gilt der Innungszwang; immer noch bleiben Arbeitsplätze als Folge von Zumutbarkeitsregeln unbesetzt; immer noch können sehr viele Menschen vom Arbeitslosengeld oder von Sozialhilfe (heute meist mit dem Stichwort »Hartz IV« bezeichnet) und etwas Schwarzarbeit ausreichend gut leben. Immer noch entspricht die Schwarzarbeit wahrscheinlich rund 15 Prozent zusätzlich zum statistisch erfassten Volkseinkommen."

Schmidts Schlussfolgerung:

"Nur eine weitreichende Deregulierung des Arbeitsmarktes kann Abhilfe schaffen."

An anderer Stelle im Buch wird Schmidt noch deutlicher:

"Die Absichtserklärung der »Agenda 2010« war ein mutiger erster Durchbruch der ökonomischen Vernunft — die CDU/CSU hatte ihn weder als Regierungs- noch später als Oppositionspartei gewagt. Weil es Schröder nicht gelang, sein Programm der großen Masse seiner Wähler und Anhänger plausibel zu machen, kam es 2005 zur Ablösung seiner Koalition durch die Große Koalition unter Kanzlerin Merkel. Seither kann ihre Partei die positiven Ergebnisse von Schröders Reform, nämlich deutlich günstigere Daten des Arbeitsmarktes, mit Erfolg für sich in Anspruch nehmen, während die Sozialdemokratie unter gewerkschaftlichen Einflüssen darüber rätselt, ob Schröder nicht zu weit gegangen sei. Man kann dies eine Verirrung nennen, denn in Wahrheit ist Schröder noch nicht weit genug gegangen."

Interessant ist, wen Helmut Schmidt in diesem Buch erwähnt – sehr viele Politiker in der Welt zählt er zu seinen persönlichen Freunden – und wen er beinahe unter den Tisch fallen lässt. Helmut Kohl und Willy Brandt bekommen das Minimum an Nennungen, Genscher, immerhin acht Jahre lang an seiner Seite Außenminister, erfährt keine Gnade. Und nicht viel besser ist es um das Verhältnis zu Joschka Fischer bestellt.

Als dieser Außenminister wird, stellt Schmidt seine jahrzehntelange Praxis ein, nach Auslandsreisen das Auswärtige Amt über die gesammelten Eindrücke, die Gespräche mit Staatsmännern, zu informieren. Dagegen kommt Gerhard Schröder bemerkenswert gut weg. Schmidt verteidigt sogar das Engagement des Putin-Freundes bei Gasprom. Besondere Würdigungen, was die Verlässlichkeit in der Politik angeht, erhalten schließlich Hans-Jochen Vogel und Herbert Wehner.

Wie schon in anderen Büchern und wie andere ehemalige Kanzler auch hält Schmidt die Deutschen für psychisch nicht allzu stabil und mahnt in der Innen- und Außenpolitik zu großer Vorsicht. Der Platz der Bundesrepublik befinde sich in Europa und nicht in der Weltpolitik. Daher hält der Ex-Kanzler nichts von einer deutschen Mitgliedschaft im UN-Weltsicherheitsrat, sieht die weltweiten Einsätze der Bundeswehr mehr als skeptisch und verteidigt Schröder ausdrücklich wegen dessen Nein zu einer deutschen Beteiligung am Irak-Krieg. Anders als bei Schröder ist Schmidts Verhältnis zu den USA jedoch sehr entspannt:

"Seit 1950 bin ich an die hundertmal zu Besuchen und Verhandlungen in den USA gewesen. Ich glaube, Amerika ganz gut zu kennen. Ich bin beeindruckt von der Großzügigkeit, von den demokratischen Instinkten, von dem inneren demokratischpolitischen Kompass der Amerikaner — und von ihrer Vitalität.

Aufgrund vieler Reisen in andere Weitgegenden weiß ich, dass eine große Mehrheit überall in Europa und auch in Russland, auch in China, ähnlich über Amerika denkt. Viele Staaten lehnen sich deshalb an die USA an, andere scheuen deshalb einen Konflikt mit ihnen. Zwar haben alle Staaten der Welt von Zeit zu Zeit auch Meinungsverschiedenheiten und Interessenkonflikte mit den USA — manchmal gilt das sogar für Großbritannien. Aber solche Konflikte haben die Europäer bisher nicht ihre kulturelle Verwandtschaft und Nähe zu Amerika vergessen lassen. Ich erwarte deshalb auch für die Zukunft die Aufrechterhaltung der transatlantischen Bindungen."

Was die internationale Lage angeht, zeigt sich Schmidt besorgt, übrigens auch wegen des während der letzten Jahrzehnte stark angewachsenen Ausländeranteils an der deutschen Bevölkerung:

"Heute beunruhigt es mich, dass zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Gefahr eines weltweiten, religiös motivierten oder religiös verbrämten »clash of civilizations« durchaus real geworden ist. Besonders seit dem terroristischen Kolossalverbrechen des 11. September 2001 und seit dem 2003 begonnenen Krieg der USA gegen den Irak vermischen sich religiöse und ideologische Sendungsmotive mit exzessiven Herrschaftszielen."

Seit seinem Abschied vom Amt im Herbst 1982 ist das Interesse Schmidts an historischen und politisch-philosophischen Themen spürbar gewachsen. Auch darüber, über eine umfassende Lektüre und ihre Verarbeitung legt dieses Buch ein eindrucksvolles Zeugnis ab. Wiederholt beschreibt der Ex-Kanzler hier das Anforderungsprofil an einen Politiker: Erlernen und Ausübung eines Berufs, in den man jederzeit zurückkehren kann, Studium und Verinnerlichen des Grundgesetzes, Kenntnis der deutschen und europäischen Geschichte, Fremdsprachenkenntnisse und Expertise auf mindestens einem Fachgebiet im Parlament. Daraus ergeben sich seine Erwartungen und Hoffnungen an jüngere Politikergenerationen:

"Zusammenfassend möchte ich den nachfolgenden Generationen deutscher Politiker den Wunsch ans Herz legen, sich auch künftig mindestens dreier entscheidender Lehren aus der deutschen Geschichte bewusst zu bleiben: nämlich der bleibenden Hypothek der Vernichtung der Juden, der bleibenden Aufgabe guter Nachbarschaft zu den uns umgebenden Nationen und der gleichfalls bleibenden Aufgabe einer verlässlichen Balance zwischen Bund und Ländern. Wenn unsere Politiker außerdem jeglicher Versuchung zu deutscher Großmannssucht widerstehen, hätten wir tatsächlich Entscheidendes aus unserer Geschichte gelernt."

Immer wieder kommt Schmidt auf die Lektionen der jüngeren deutschen Geschichte zurück und gegen Ende des Buches nimmt diese Tendenz noch zu:

"Beide deutsche Diktaturen, sowohl die Nationalsozialisten als auch die Kommunisten, haben unser Pflichtbewusstsein gröblich missbraucht. Deshalb glauben einige der nachgeborenen Deutschen, es käme vor allem auf ihre Rechte an. Pflichten wollen sie nur insoweit befolgen, als sie auf staatlicher Macht beruhen und mit der Macht der Gesetze durchgesetzt werden. Tatsächlich sind unsere Rechte auf Dauer jedoch nicht gesichert, wenn nicht unser Pflichtbewusstsein hinzutritt. Keine Gesellschaft freier Bürger kann auf Dauer ohne die Tugenden der Bürger bestehen. Die Nation braucht nicht nur die Grundrechte, sondern ebenso die Tugenden. Beide zusammen bilden die Grundwerte, auf denen unsere demokratische Gesellschaft beruht."

Und er fährt wenig weiter fort:

"Worauf es mir ankommt, sind Tugenden, die ich die »bürgerlichen« Tugenden nenne: die Tugend des Verantwortungsbewusstseins, die Tugend der Vernunft und die Tugend der inneren Gelassenheit. Wenngleich ich in meinem Leben innerlich nicht gebetet habe, so haben mich doch zwei Gebete tief angerührt, nämlich das Vaterunser und sehr viel später das »Serenity Prayer« des Amerikaners Reinhold Niebuhr: »Gib mir die Gelassenheit, die Dinge zu ertragen, die ich nicht ändern kann; gib mir den Mut, die Dinge zu ändern, die ich ändern kann; gib mir die Weisheit, beides voneinander zu unterscheiden."

Kein Zweifel, hier liegt ein beeindruckendes Alterswerk von einem Politiker vor, dessen Weisheit seit dem Abschied vom Amt vor 25 Jahren stetig zugenommen hat und den die Deutschen zu recht bewundern und lieben.

Helmut Schmidt:
Außer Dienst. Eine Bilanz

Siedler Verlag, München 2008
Cover: "Helmut Schmidt: Außer Dienst"
Cover: "Helmut Schmidt: Außer Dienst"© Siedler Verlag