IG Metall fordert "Zivilisierung der Ökonomie"

Hasn-Jürgen Urban im Gespräch mit Jan-Christoph Kitzler · 04.07.2012
Um die momentane "mehrdimensionale Krise" zu meistern, müsse der Staat ambitionierter auftreten, meint Hans-Jürgen Urban von der IG Metall: "Wenn er gezwungen wird, Banken zu sozialisieren, dann muss er auch eingreifen in die Geschäftspolitik dieser Banken. Dann muss er mit dem öffentlichen Eigentum, das da entsteht, auch öffentliches Interesse vertreten".
Jan-Christoph Kitzler: Die bösen Finanzmärkte, die gierigen Banker, die Macht der Hedgefonds – das ist nicht selten der Tonfall, wenn von der Krise die Rede ist. Man hat den Eindruck, Kapitalismuskritik ist gerade voll im Trend. Da kann man wieder über Verstaatlichung reden, ohne für komplett wahnsinnig gehalten zu werden, und davon, die Märkte an die Kette zu legen. Dafür muss man noch nicht mal ein Linker sein. Aber irgendwie ist in diesen Krisenzeiten die Kritik, die geübt wird, auch kurzatmig, wie das Handeln der Politik, bei beiden fehlt oft der Raum für grundsätzliches Nachdenken.

Darüber habe ich mit Hans Jürgen Urban gesprochen – er ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall –, und zuerst wollte ich wissen, ob das Bild von den entfesselten Märkten denn überhaupt stimmt, denn immerhin greifen Staaten und Zentralbanken ja gerade massiv ein, um das Marktgeschehen zu beeinflussen. Es gibt so viele Interventionen wie noch nie.

Hans Jürgen Urban: Diese Analyse ist durchaus richtig. Es gibt keine umfassend deregulierten Märkte, Märkte setzen immer einen politischen Ordnungsrahmen voraus, aber die Frage ist, ob dieser Ordnungsrahmen taugt, um die Märkte zu zivilisieren. Und daran liegt es zurzeit, da liegt der Hase im Pfeffer, gegenwärtig haben wir eine Dominanz der Märkte über die Politik, und nicht andersherum. Zu gut Deutsch formuliert: Wir erleben gegenwärtig eine Ökonomisierung der Demokratie – was notwendig wäre, wäre genau das Gegenteil, nämlich eine Demokratisierung der Ökonomie.

Kitzler: Auf der anderen Seite haben wir ja ganz konkrete Probleme, auf die müssen konkrete Antworten gefunden werden. Bleibt da nicht zwangsläufig so ein bisschen das grundsätzliche Nachdenken über die Strukturen auf der Strecke?

Urban: Das genau ist das Problem. Was wir gegenwärtig bei der Politik erleben, ist: Sie hangeln sich von Scheinkrisenlösung zu Scheinkrisenlösung – in der Politikwissenschaft nennt man das eine Strategie des muddling-through –, aber es gibt keine grundlegenden Lösungskonzepte. Das liegt auch am Defizit in der Analyse.

Wir müssen begreifen, dass wir es mit einer mehrdimensionalen Krise zu tun haben, die einen inneren Zusammenhang hat: die Krise des Euro, die Krise der öffentlichen Haushalte, die Krise der Finanzmärkte, und nicht zu vergessen massive Wachstums- und Wohlstandsverluste, das sind alles Indikatoren der Krise des finanzmarktkapitalistischen Entwicklungsmodells. So grundlegend, so kapitalismusanalytisch muss man das begreifen, sonst greifen die Lösungsstrategien fast notwendigerweise zu kurz.

Kitzler: Auf der anderen Seite, wenn man liest, dann liest man ja gerade ziemlich viel Kapitalismuskritik. Es gibt die Bankenschelte, die Klagen über mächtige Konzerne und die Hedgefonds, es gibt Bewegungen, zum Beispiel in Gestalt der Occupy-Bewegung, aber trotzdem hat man den Eindruck, die Kritik am Kapitalismus ist zahnlos, oder wie sehen Sie das?

Urban: Ja, in der Tat, es gibt so etwas wie eine adressatenlose Wut. Das heißt, die Menschen verstehen, dass sie die strukturellen Verlierer sind, aber sie wissen nicht, an wen sollen sie ihre Wut adressieren, an wen können sie ihre Hoffnung auf eine Lösungsstrategie adressieren. Das hat zum einen damit zu tun, dass die Kritik sehr moralisch geworden ist – das ist sehr sympathisch, das geht aber nicht an die Grundfesten der Gesellschaftsanalyse heran.

Ich will in Erinnerung rufen, dass es eigentlich mal ein Grundbestandteil der kritischen Gesellschaftstheorie war, zu wissen, dass die kapitalistische Ökonomie auf der einen und die politische Demokratie auf der anderen stets in einem äußersten Spannungsverhältnis zueinander stehen, immer wieder um die Vorherrschaft gegeneinander ringen, und gegenwärtig, etwa seit zwei Jahrzehnten, haben wir es mit einer Periode zu tun, in der die Märkte systematisch die Dominanz über die Politik errungen haben, und das muss korrigiert werden.

Das ist die Frage nach einem Pfadwechsel des gesamten europäischen Entwicklungsmodells, oder anders formuliert, die Frage nach einem neuen Kapitalismusmodell, das zurückkehrt zu einer politischen Regulierung und Zivilisierung der Ökonomie.

Kitzler: Ist nicht auch das Problem, dass die Debatten hierzulande sehr ideologisch geführt werden, also zum Beispiel der große Feind auf der linken Seite ist ja immer, so scheint mir noch, das Privateigentum. Da hört man, es habe ein zerstörerisches Potenzial, aber gibt es nicht gerade bei uns in Deutschland auch viele Gegenbeispiele, verantwortungsbewusste Familienunternehmer, die Arbeitsplätze schaffen und erhalten zum Beispiel?

Urban: Natürlich gibt es die, überhaupt keine Frage. Im Finanzmarktkapitalismus sind zum Beispiel die klein- und mittelständischen Unternehmen, die nicht nach dem Shareholder Value schielen, sondern die wirklich noch versuchen, in Kooperation mit ihrem Beschäftigten reale Wertschöpfung zu vollziehen, oftmals genauso die Unterlegenen, oftmals genauso die Verlierer wie die Beschäftigten auch.

Nein, das Problem ist ein weitergehendes. Das Problem besteht insbesondere darin, dass wir es mit einer Loslösung, einer relativen Entkoppelung der Finanzwirtschaft von der realen Wertschöpfung zu tun haben, das bedeutet, es hat sich ein System an finanzkapitalistischen Spielregeln herausgebildet, das scheinbar Werte durch Selbstverwertung von fiktivem Kapital erzeugt. Das geht auf Dauer nicht gut, da geht es nicht um pauschale Schelten, sondern da geht es darum, strukturelle Fehlentwicklungen der gesellschaftlichen Entwicklung aufzuzeigen.

Kitzler: Sie wollen die Wirtschaft demokratisieren, haben Sie gesagt. Kann das nicht unsere gute alte soziale Marktwirtschaft leisten?

Urban: Leider nicht. Das Konzept der sozialen Marktwirtschaft war ein Konzept, das im Grunde genommen relativ vorbehaltlos den Kapitalismus akzeptiert hat. Es wollte ihm einige Giftzähne ziehen, aber mehr auch nicht. Das reicht heute nicht mehr.

Ich will Ihnen ein Beispiel nennen, warum wir heute neu diskutieren müssen und nicht in alten Denkschablonen alte ideologische Schlachten austragen dürfen. Nehmen wir das Thema Eigentumsfrage, nehmen wir das Thema der Vergesellschaftung von großen Unternehmen, von Privateigentum durch den Staat. Früher scheinbar ein Instrument aus dem Gruselkabinett veralteter Sozialisten, heute ein Instrument von oftmals konservativer, neoliberaler Politikeliten, weil es gar nicht mehr anders geht.

Meiner Auffassung nach, unserer Auffassung nach muss an der Stelle das Motto lauten, wo öffentliches Geld fließt, zum Stützen der Ökonomie, zum Stützen des Finanzsystems, muss öffentliches Eigentum entstehen, es darf nicht verplempert werden, und wo öffentliches Eigentum entsteht, muss öffentliche Einflussnahme stattfinden, das galt früher als sozialistischer alter Ladenhüter, das ist moderner denn je.

Kitzler: Aber in Ihrem Sinne sind wir dann ja eigentlich schon ein bisschen auf dem richtigen Weg, oder nicht?

Urban: Wir haben – das ist ganz, ganz kolossal – wir haben gegenwärtig einen Staat, der so handelt, wie es damals sozialistischen Regierungen unterstellt worden ist. Aber wir haben kurioserweise einen Staat als Eigentümer von ökonomischem Eigentum wider Willen. Das macht keinen Sinn, der Staat muss ein Eigentümer mit spezifischen Ambitionen werden. Das heißt, wenn er gezwungen wird, Banken zu sozialisieren, dann muss er auch eingreifen in die Geschäftspolitik dieser Banken, in die Regulierung dieser Märkte, um zu verhindern, dass die alten Spielregeln nur unter neuen Bedingungen weitergelten.

Das heißt, der Staat, der gezwungen wird, um die Krise zu meistern, einzugreifen, Tabus, auch eigentumspolitische Tabus zu brechen, muss dies nicht passiv, ungewollt tun, sondern wenn er es schon tun muss, dann muss er es mit Ambitionen tun, dann muss er mit dem öffentlichen Eigentum, das da entsteht, auch öffentliches Interesse vertreten. Das wäre meiner Auffassung nach ein Essential einer Politik für eine strategische Neuorientierung des Entwicklungsprozesses.

Kitzler: In der jetzigen Situation hecheln wir aber von kurzfristiger Intervention zu kurzfristiger Intervention, weil es wirklich brennt. Die Frage ist halt, wo soll dieses grundsätzliche Denken, was Sie einfordern, herkommen, und vor allem, wie soll es sich dann durchsetzen?

Urban: Sie haben vollkommen Recht. Die ganze öffentliche Debatte hinkt ein bisschen hinter den Notwendigkeiten hinterher. Ich sehe da zwei Akteure, die hier vor allen Dingen gefragt sind: zum einen die in der Vergangenheit doch viel gelobte Zivilgesellschaft, die muss lebendiger diskutieren über Alternativen, grundlegende Alternativen zur gegenwärtigen Muddling-through-Politik.

Und zweitens, ich sage es ganz offen, ich erwarte mir von den kritischen Intellektuellen in Deutschland, in Europa, mehr politisches Engagement, mehr Eingreifen in die öffentliche Debatte. Aus den politischen und ökonomischen Eliten heraus wird dieser grundlegende paradigmatische Wechsel, den wir in der Politik brauchen, nicht kommen, sondern das wird aus der Gesellschaft, das wird aus dem Bereich der kritischen Intellektuellen, aus dem Bereich der Organisation wie auch der Gewerkschaften kommen müssen, oder es wird nicht stattfinden.

Kitzler: Neues Denken für eine neue wirtschaftliche Ordnung. Das war Hans Jürgen Urban, er ist Geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall, dort unter anderem zuständig für die Sozialpolitik. Schönen Dank für das Gespräch und einen schönen Tag!

Urban: Ihnen auch, schönen Dank!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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