Identität

Wer weiß schon, was deutsch ist?

Bedienungen bei der Eröffnung des 180. Oktoberfests am 21.09.2013 in München (Bayern) mit Bierkrügen.
Ist Bier etwas typisch Deutsches? Woher sollen Migranten mehr darüber wissen als Einheimische? © dpa / picture alliance / Frank Leonhardt
Von Dilek Güngör · 19.01.2016
Die Frage, was deutsch sei, wird gerne denen gestellt, die zugewandert sind. Doch der Glaube, dass diese Menschen es wissen könnten - ja: sollten - der ist absurd, meint die Journalistin Dilek Güngör.
Wieder einmal geht sie um, die Frage, was ist das eigentlich, deutsch? Die Antwort ist nicht einfach, jedenfalls ist sie nicht von Bestand. Sonst würde man sie nicht immer wieder stellen. Häufig sollen wir Auskunft geben, wir, die keine Deutschen sind oder erst nachträglich welche geworden sind. Offenbar sind wir objektiv und auch zwanzig Jahre nach der Einbürgerung immer noch fremd genug, um einen unbefangenen Blick auf das sogenannte Deutsche zu werfen.
Jeder kennt sich selbst am besten
Man sollte meinen, die Deutschen müssten am besten wissen, was deutsch ist. Kennt man sich selbst nicht am besten? Wohl nicht. Die meisten Menschen, deutsche Menschen sowie andere Menschen sind blind für das Vertraute, haben kein gutes Auge für das Eigene. Wir nehmen unseren eigenen Geruch nicht wahr, wir sehen unser Gesicht nur im Spiegel und erschrecken, wenn wir unsere Stimme einmal auf dem Anrufbeantworter hören. Kommen wir nach ein paar Wochen Abwesenheit zurück in unsere Wohnung, dann riecht es merkwürdig und wir fragen uns, ob die Lampe im Flur schon immer schräg von der Decke hing.
Der Blick auf das Bekannte muss erst wieder fremd und neu werden, damit wir es überhaupt sehen können. Wenn meine Eltern und ich früher aus den Sommerferien zurückkamen und die letzten Kilometer bis nach Hause durch kleine Ortschaften fuhren, ein orangefarbenes Ortsschild folgte dem nächsten, fiel mir auf, dass die Häuser weiß gestrichen waren und tatsächlich ziegelrote Dächer hatten, wie im Zeichentrickfilm. Stimmt, so sehen die Häuser zuhause aus, dachte ich. Nach ein paar Tagen verloren die weißen Häuser ihre Andersartigkeit und wurden zu 'Häusern'.
Das Naheliegende als Krücke
Was antworten wir vermeintlich Fremden nun auf die Frage, was deutsch sei? Wir behelfen uns mit dem Naheliegenden und sagen: "Autos, Bier, Fußball, Pünktlichkeit, Brot, Wurst, Anoraks, Ordnung und Disziplin." Nicht, weil irgendetwas davon deutsch wäre, sondern weil es das ist, was alle Welt darauf antwortet, selbst wenn diese Auflistung keiner Nachfrage standhält. Andere Leute tragen auch Anoraks und essen Brot. Und Bier, davon trinkt man in Tschechien weit mehr als hier in Deutschland. Jeder weiß, dass diese Kategorien nichts taugen, trotzdem sortieren wir alle fleißig weiter in unsere Schubladen, weil wir so versuchen, uns einen Begriff von der Welt zu machen.
Wir Eingebürgerten sind aber nicht der unparteiische Dritte. Wir stehen wie jeder, der hier viele Jahre seines Lebens verbracht hat, ganz gleich ob eingebürgert oder nicht, mittendrin im deutschen Wald und sehen ihn vor lauter Bäumen nicht. Wir fühlen uns nicht fremd und auch nicht anders. Individuell anders, so wie jeder individuell anders ist oder gerne wäre, nicht aber als Gruppe.
Zugewanderte von der Mitte an den Rand drängen
Doch immer wieder kommt einer auf die Idee, uns aus der Mitte an den Rand zu schieben, dann sollen wir 'mal draufschauen' aufs Deutsche und Unterschiede erkennen. Wir wissen genauso wenig, wie die Deutschen sind, was deutsch ist und was Deutschsein bedeutet. Wir wissen, wie unsere Freundin ist und der Typ aus dem 3. Stock, unser Ehemann und manchmal nicht einmal das.
Wer nach Unterschieden sucht, merkt schnell, dass eine Unterscheidung in Deutsch und nicht Deutsch nicht lange funktioniert. Es gibt keine Eigenschaften, die deutsch wären oder französisch oder ungarisch. Unterschiede zwischen Menschen sehen wir dort, wo Großzügigkeit auf Engstirnigkeit, Offenheit auf Angst, wo Einfühlungsvermögen auf Rechthaberei stößt. Und diese Eigenschaften haben wir alle, ganz gleich, welche Sprache wir sprechen, welchen Ort wir unser Zuhause nennen oder welche Nationalität in unserem Pass steht.
Dilek Güngör, geboren 1972 in Schwäbisch Gmünd, absolvierte ein Übersetzerstudium für Englisch und Spanisch und begann ein Aufbaustudium am Journalistischen Seminar in Mainz. Von 1998 bis 2003 arbeitete sie als Journalistin bei der "Berliner Zeitung", es folgte ein Masterstudium in Race and Ethnic Studies an der University of Warwick in England. 2007/08 war sie Stipendiatin der Drehbuchwerkstatt an der Hochschule für Fernsehen und Film München. Ihre Kolumne "Unter uns" erschien zunächst in der "Berliner Zeitung", später in der "Stuttgarter Zeitung". Bisher erschienen drei Bücher, darunter "Das Geheimnis meiner türkischen Großmutter". Piper, 2007. Bis 2014 schrieb sie für die "Berliner Zeitung" die Kolumne "Weltstadt". Von ihr stammt das Libretto zum Singspiel "Türkisch für Liebhaber" (Neuköllner Oper, 2008/09). Dilek Güngör lebt in Berlin.
Dilek Güngör
Dilek Güngör© Foto: privat
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