"Ich sehe große Gefahren für die demokratischen Strukturen"

25.04.2012
Die Europa-Gegner sind auf dem Vormarsch - in Frankreich ebenso wie in den Niederlanden und in Irland. Zugleich drohen ärmere Länder den Anschluss zu verlieren. Um ein Zusammenbrechen der EU zu verhindern, sei nicht nur monetäre, sondern auch soziale Solidarität erforderlich, sagt Oskar Negt.
Matthias Hanselmann: Angela Merkel erlebt – so schreibt es das "Handelsblatt" heute – eine Alptraumwoche, und es sieht wirklich danach aus: In Frankreich holt die rechtsextreme Front National ihr bestes Ergebnis aller Zeiten mit einer klaren Politik gegen die EU, der rechtspopulistische Europa-Gegner Geert Wilders sprengt die konservativ-liberale Regierung der Niederlande, er spricht von einem Diktat aus Brüssel, der Euro-Stabilitätskurs von Angela Merkel ist der gemeinsame Feind der Europa-Gegner, in Irland motzt Gerry Adams, Chef der Sinn Féin, Deutschlands Sparpolitik sei eine Politik der Gartenzwerge, die Sinn Féin liegt derzeit bei weit über 20 Prozent, unter anderem wegen ihrer europafeindlichen Politik.

Vor diesem aktuellen Hintergrund ist jetzt eine Streitschrift erschienen. Autor ist der bekannte deutsche Sozialphilosoph Oskar Negt. Der Titel seines Buches: "Gesellschaftsentwurf Europa". Ich habe vor der Sendung mit Oskar Negt gesprochen, in seiner Streitschrift behauptet er, dass Griechenlands Schicksal der Stoff für eine moderne Tragödie sei. Frage an Oskar Negt: Sie glauben also nicht an ein Happy End für Griechenland?

Oskar Negt: Nein, es kann nicht, weil die Produktionsstrukturen inzwischen so erodieren, kaputtgehen, dass die noch nicht einmal die Hälfte der Zinsen abbezahlen können. Das heißt, die Infrastrukturen sind durch diese Manöver, Geldmanöver so in Mitleidenschaft gezogen, dass zum Beispiel der ganze Mittelstand auseinanderbricht. Also, wie soll Griechenland auf eigene Füße kommen, wenn nicht eine solidarische Unterstützung der, gewissermaßen, der Strukturen da ist, also, wie das in der Nachkriegszeit mit dem Marshallplan gewesen ist?

Hanselmann: Jetzt aber einmal abgesehen davon, wie man diese Maßnahme oder diese Maßnahmen bewertet: Man könnte es doch so sehen, dass sich Europa immerhin um ein Land gekümmert hat, das in Schwierigkeiten steckt, und damit hat man doch auch europäische Solidarität gezeigt, oder nicht?

Negt: Ja, ja, wenn die Geldsolidarität jetzt auch auf soziale Solidarität geht, übertragen wird! Also, wenn, sagen wir mal, die Frage der sozialstaatlichen Unterstützung Griechenlands dieselbe Dimension hätte, also, einige Milliarden oder Billionen, die benutzt werden, damit die Strukturen nicht zerbrechen, damit Griechenland wieder auf eigene Produktionsfüße kommen kann. Es ist ja nicht alles nur fremdverschuldet in Griechenland, Steuergesetzgebung ist marode, die Klientelwirtschaft … Also, vieles müsste eigentlich an Strukturen auf der Basis verändert werden. Das findet nicht statt, weil es kein Geld mehr gibt. Das sind ja Bankenunterstützungen, und nicht Unterstützungen all der Bevölkerung in ihren Überlebenszusammenhängen.

Hanselmann: Sie sehen, wie ich Ihrem Buch entnehme, einen Ausweg aus den Krisen in Europa in einem Lastenausgleich, dass es also Aufbauhilfen geben sollte wie nach dem Zweiten Weltkrieg.

Negt: Ja.

Hanselmann: Wie sollte das denn aussehen?

Negt: Na ja, ich meine, es ist ja offenkundig Geld genug da. Die Rettungsschirme, die immer erweitert werden in eine Billion oder so, also, es sind ja verfügbare Geldmassen da und ich glaube, eine solidarische Ökonomie müsste sich entwickeln, die natürlich den Prinzipien des Kapitalismus irgendwie widerspricht. Aber das ist ja eben das Problem, dass die Abhängigkeit von den Marktgesetzen und von den Börsenkursen und von den Ratingagenturen im Grunde die Abhängigkeit von solchen Mechanismen so stark ist, dass es eigentlich eine wirklich autonome Politik der Gestaltung, der solidarischen Gestaltung der Lebensverhältnisse dieser Länder nicht gibt. Und Griechenland ist ja das erste Land, also dieser Dimension. Spanien wird folgen, Portugal wird folgen, es werden einige osteuropäische Länder folgen. Das heißt, auf der Ebene der Institution des Geldes ist Europa nicht imstande, zusammenzuwachsen und eine eigene Identität zu entwickeln. Das ist eigentlich mein Motiv für dieses Buch gewesen.

Hanselmann: Also, der Lastenausgleich, den Sie sich vorstellen, ist einer im Sinne des Marshallplans, der auf lange Frist angelegt ist, der nicht sofort kurzfristig Gewinne ziehen will aus dem Volk, dem man gerade so eben erst kurz mit Geldmitteln geholfen hat.

Negt: Ja.

Hanselmann: Müssen die Menschen in Europa an diesem Punkt noch dazulernen, denken wir immer noch zu national, zu wenig europäisch?

Negt: Ich glaube, schon. Aber die Entnationalisierung Europas reicht nicht aus, die Strukturen zu verändern, mit denen wir es zu tun haben, wenn Länder ganz verschiedener Herkunft, auch demokratischer Entwicklungen, zusammengefügt werden sollen. Ich plädiere ja sehr stark für eine Bildungsoffensive, auch einer Erwachsenenbildungsoffensive. Wir sehen ja die Entwicklungen, die jetzt stattfinden in Frankreich: Wenn an die 20 Prozent rechtsradikale Optionen da sind, ist natürlich in allen zentralen Bereichen - im Übrigen auch, noch am wenigsten auch in Deutschland – diese rechtsradikale Option als etwas Drohendes in der Landschaft. Und ich sehe große Gefahren für die demokratische Struktur Europas.

Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit dem Sozialphilosophen Oskar Negt über seine Streitschrift "Gesellschaftsentwurf Europa" und die finanziellen und gesellschaftlichen Krisen in Europa. Herr Negt, welchen Gesellschaftsentwurf für Europa haben Sie denn, was müsste, was sollte passieren?

Negt: Na ja, auf jeden Fall muss sichtbar werden, dass es so etwas wie eine politische Gestaltung Europas gibt. Für mich ist die Perspektive notwendig, dass Demokratie und Sozialstaat zusammengehören. Wer den Sozialstaat plündert, wird den Sicherheitsstaat erhöhen. Und das würde bedeuten, dass bestimmte demokratische Rechte abgebaut werden, ja, in der Form abgekoppelt Griechenland und allmählich wohl auch Spanien, dass praktisch keine eigene Regierungen mehr gewählt werden. Die werden eingesetzt! Es ist ja ein bisschen die Auseinandersetzung mit dem Buch von Jürgen Habermas über Europa, das im Grunde die Konstitutionsgeschichte Europas ins Zentrum rückt, und ich bin etwas bestürzt darüber, dass das Wort Arbeit oder Arbeitslosigkeit oder Sozialstaat oder so in so einem Diskurs, den er vorschlägt, überhaupt nicht erscheint. Und ich glaube, Europa scheitert nicht an der Währung, Europa scheitert an den ungelösten sozialen Problemen: 50 Prozent Arbeitslosigkeit bei gebildeten Jugendlichen, ausgebildet, gut ausgebildeten Jugendlichen in Spanien, und die Raten nehmen zu! Das ist das eigentliche Unruhepotenzial und das ist der Rohstoff, das ist der Angstrohstoff, den jetzt die Radikalen, Rechtsradikalen in allen Ländern, ob es in den Niederlanden ist oder in Spanien und in Griechenland, das ist der Rohstoff, den die verwerten.

Hanselmann: Sie haben gesagt, dass Sozialstaatlichkeit die Voraussetzung dafür sei, dass Demokratie überleben kann.

Negt: Ja.

Hanselmann: Schauen wir mal in die USA, liefern die nicht das Gegenbeispiel, nämlich eine, sagen wir, stabile, relativ stabile Demokratie seit über 200 Jahren, aber wenig Sozialstaatlichkeit?

Negt: Also, das ist kein Muster. Ich glaube, wenn man die Beispiele heranzieht aus dem gesellschaftlichen Leben – auf 100.000 aus der Bevölkerung kommen in den Vereinigten Staaten 650 Strafgefangene, in Europa sind es 55 –, dann würde ich sagen, so ein richtiges Modell ist das nicht für eine friedensfähige Gesellschaft. Ich glaube schon, dass es in Europa zwei große Lernprozesse gegeben hat: Der erste ist dokumentiert im Westfälischen Frieden mit Toleranz und vielen Dingen, ein Rechtsbewusstsein befestigt sich, das wirklich sehr folgenreich ist; der zweite Lernprozess ist nach 45, man darf nie wieder die wirtschaftlich Mächtigen ohne Kontrolle lassen. Die sozialstaatliche Antwort ist die, dass Partizipation der Menschen an ihren eigenen Angelegenheiten, dass wir gestaltungsfähig bleiben müssen im Alltagsleben, der Beziehungsstruktur der Menschen, ist ein großer Lernsatz. Wenn der abgebaut wird, sehe ich eigentlich die Substanz demokratischer Beteiligung bedroht.

Hanselmann: Träumen Sie von einer Art sozialistischem Gesamteuropa?

Negt: Ja, träumen … Ich meine, dieses Europa, was jetzt so im Schwange ist, ist ein Europa der Unternehmer. Davon habe ich nicht geträumt. Ich glaube, dass ein Europa der Bevölkerung eine ganz andere Dimension haben muss, und diese Dimension beschränkt sich nicht auf Institutionen, auf Geld, sondern ist ein produktiver kultureller Prozess unter Bedingungen einer kulturellen Erosionskrise, in der sehr viele Bindungen, alte Bindungen zerstört sind. Und die Bindungsangebote von Rechtsradikalen oder von religiösen Gruppierungen – gerade auch in den Vereinigten Staaten – sind sehr massiv. Und insofern träume ich eigentlich von dem Zustand, in dem man sagt, ich bin nicht Deutscher, sondern ich bin Europäer. Was haben die Menschen, die griechischen Menschen – ich kenne die Verhältnisse eigentlich ganz gut in Griechenland –, die sind jetzt durch diesen Prozess auf Jahrzehnte abgetrennt von dem Bewusstsein, Europäer zu sein. Und die Utopie, meine Utopie von Europa ist, dass hier in Jahrhunderten Produktionszusammenhängen kultureller Art sich etwas gebildet hat, was zusammengefügt werden muss und was selbstverständlich sich nicht einfach zusammenfügt. Denn Demokratie ist die einzige staatlich verfasste Gesellschaftsordnung, die gelernt werden muss. Und diese Lernprozesse, diese Bildung politischer Urteilskraft voranzutreiben, ist für mich ein wichtiger Punkt.

Hanselmann: Der Sozialphilosoph Oskar Negt über seine Ideen für die Zukunft Europas. Sein Buch "Gesellschaftsentwurf Europa. Plädoyer für ein gerechtes Gemeinwesen" ist im Steidl Verlag, Göttingen, erschienen.


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