"Ich seh, ich seh"

Familienhorror im Alpenidyll

Zu sehen ist eine Szene aus dem Film "Ich seh, ich seh".
In "Ich seh, ich seh" entspinnt sich zwischen den Kindern und der Mutter ein existentiell beunruhigendes Versteckspiel © Koch Media
Veronika Franz und Severin Fiala im Gespräch mit Patrick Wellinski · 04.07.2015
"Guten Abend, gute Nacht" - wer einschläft, erwacht in einem Alptraum. Das österreichische Kammerspiel "Ich seh, ich seh" erzählt den Abgrund hinter der Fassade einer Familie. Die Regisseure erzählen im Interview, wie aus einer heilen Welt ein beklemmendes Szenario wird.
Patrick Wellinski: Veronika Franz, Severin Fialla - erst einmal vielen Dank für drei Tage heftige, fiese Albträume nach der Sichtung Ihres Films. Ist das denn so ungefähr auch der erwünschte Effekt beim Publikum?
Severin Fialla: Ja ich weiß nicht, was sich das Publikum wünscht, wir würden es uns für uns selber als Zuschauer wünschen, weil ich glaube, das ist das, was wir am Kino lieben, dass es einen packt und schüttelt und nicht mehr loslässt und bis in die Träume und Albträume verfolgt. Insofern wünsche ich es auch gerne jedem Zuschauer, aber vielleicht in dem Sinn, dass es was ist, das ich als Mensch sehr genieße und mag.
Veronika Franz: Dazu muss man aber wissen, dass der Severin natürlich grundsätzlich Albträume liebt. Also ich liebe Albträume, die das Kino provoziert, aber er liebt Albträume, die er selber hat, live nämlich, also richtige, die ja sonst niemand liebt eigentlich.
Wellinski: Kino ist der beste Ort, um sich damit auseinanderzusetzen, ob mit den echten oder mit den künstlichen. Bevor wir vielleicht auf die Genese des Films zu sprechen kommen, müssen wir natürlich auf die Genese dieses Regieduos zu sprechen kommen. Frau Franz, Sie Jahrgang 65, Herr Fialla Jahrgang 85 - wie kommt man da zusammen?
Franz: Wir feiern heuer gemeinsam 80 Jahre, haben wir beschlossen. Wir kommen zusammen – ja, das ist irgendwie eine in dem Sinn lustige Geschichte: Als der Severin Babysitter quasi von meinen Kindern war, ...
Fialla: Und den Kindern nichts passiert ist, möchte ich sagen, sie sind immer noch am leben und es ist nicht autobiografisch inspiriert in diesem Sinn.
Franz: Äußerlich ist nichts passiert, man weiß nicht, was innerlich stattgefunden hat. Aber es ist so, dass er damals schon ein Filmfan war, ein großer filminteressierter Mensch mit 14 Jahren, und kein Geld haben wollte für das Babysitten, sondern ich habe ihm Videokassetten damals bezahlt. Also er wollte sich Filme in Wien in der Videothek ausborgen, die er in seiner Provinzstadt Horn, wo er her war, nicht bekommen hat, und so haben wir dann angefangen, gemeinsam Filme zu schauen.
Wellinski: Ich sehe ja, wir haben schon darüber gesprochen, einen Albtraum, und der hat ja mit dem normalen guten Traum Folgendes zusammen: Er beginnt, wenn man einschläft. Und so beginnt ja auch der Film, mit einem Gute-Nacht-Lied, "Guten Abend, gute Nacht", eigentlich ja ein sehr harmloser Song - und dann auch deshalb ein guter Einstieg in Ihren Film?
Perfekte Familie in Dirndl und Lederhose
Fialla: Ja, ich weiß nicht, ob harmlos das ganze Bild der Familie Trapp, mit dem wir anfangen, ... Das ist ja quasi die archetypische österreichische perfekte Familie in den Dirndln und in den Lederhosen, die gemeinsam singen und alles ist gut und schön - aber ist es eben nicht. Das hat heutzutage, wenn man das ansieht, fast was Horrorfilmartiges oder Bodysnatchartiges, haben wir gefunden, weil es so perfekt ist. Und jeder weiß: So perfekt ist das Leben nicht, und da muss irgendein quasi schrecklicher Abgrund hinter der Fassade lauern. Und diesem Abgrund versuchen wir, in unserem Film irgendwie nachzuspüren.
Franz: Abgesehen davon muss ich ehrlich sagen, dass ich als Kind das Lied "Guten Abend, gute Nacht" relativ gruselig gefunden habe, weil "mit Rosen bedacht, mit Näglein besteckt", also für mich ist da immer schon damals das Blut geronnen in Gedanken, und "wenn Gott will, wirst du wieder erweckt", also okay, also hoffentlich wache ich auch wieder auf am nächsten Tag - hm, also gar kein so idyllisches Gute-Nacht-Lied.
Wellinski: Eigentlich auch ein Horrorlied, wenn man ganz ehrlich ist, gerade diese Zeile "Wenn Gott will, wirst du wieder geweckt". Und dann beginnt der Film mit zwei Jungs, die durch den Wald tollen, Zwillinge, die dann auch ins Haus zurückrennen, so ein Albtraumhaus, eigentlich ein moderner Albtraum, alles lichtdurchflutet und trotzdem irgendwie düster, dunkel, und die Mutter kommt, hat einen Verband im Gesicht, und die Jungs fragen sich nach einer kurzen Zeit: Die Frau hinter der Maske ist vielleicht nicht die Mama.
Und dann entspinnt sich vor allem ein psychologischer Horror, der sehr fein gearbeitet ist. War das vielleicht die schwierigste Phase beim Erstellen des Drehbuches, diesen vor allem psychologischen Horror immer in der Balance zu halten?
Fialla: Das ist jetzt schwer zu sagen eigentlich, was das Schwierigste war. Ich glaube, tatsächlich das Schwierigste ist, wenn der Film endet und die Frage ist: Soll das jemanden überraschen oder nicht? Zu beurteilen noch im Schreibprozess, wann man was versteht im Drehbuch, wann man welche Ahnung hat, wie viele Hinweise man streuen soll, das ist was, das sich einfach jeder Beurteilung dann entzieht, wenn man dran zu lange arbeitet oder wenn man einfach weiß, wohin das Ganze führen soll.
Horror, der sich aus was Alltäglichem nährt
Insofern ist das das, was nicht beurteilbar war. Der Rest ist, glaube ich, einfach eine Frage von, sich in die Figuren hineinversetzen und zu denken: Was würden diese Personen tun? Also wir haben immer versucht, dass der Horror, den wir da auffächern, dass der in einer Form von Realität wurzelt oder Alltag wurzelt, weil wir das Gefühl gehabt haben, das geht die Leute dann mehr an oder hat mehr mit ihnen selber zu tun und macht im Endeffekt ... vergrößert den Horror, den man empfindet, weil es was Alltägliches ... weil er sich aus was Alltäglichem nährt.
Franz: Ja, und wir haben das auch immer gemeinsam ... Also wir arbeiten zwillingshaft, also in dem Sinn, dass wir gemeinsam um den Tisch sitzen und Ideen haben, verwerfen, niederschreiben, später verwerfen und neu überdenken. Und das ist quasi ein gemeinsamer Prozess. Insofern kann man jetzt gar nicht sagen, welcher Prozess der schwierigste war.
Wellinski: Wie ist das denn mit dem Look des Films? Ich habe versucht, schon etwas zu erwähnen, wie das alles aussieht. Also die Bilder sind sehr klar. Man hat jetzt nicht das Gefühl, es spielt irgendwie ganz weit weg. Es ist sehr geerdet, Sie haben recht. War das von vornherein klar, dass der Film so aussehen wird, oder war das auch eher ein Prozess, der sich entwickelt hat?
Fialla: Ja, was wir uns gefragt haben von Anfang an, ist, nachdem der Film zumindest zwei Drittel lang aus der Perspektive zweier Kinder erzählt ist, wie Kinder die Welt wahrnehmen und sehen und wie sich das für sie anfühlt und wie das im Gegensatz zum Blick einer sehr klaren, sehr kalten, sehr kalkulierten erwachsenen Person ist. Und in dem Film geht es auch drum für uns, dass diese zwei Perspektiven aufeinanderprallen und irgendwie nicht zusammenkommen.
Also da stimmt irgendwas nicht zusammen. Und es wird auch nicht gesprochen, also es ist ein Film über, weiß ich nicht, auch Kommunikationsmangel, und das führt dann quasi zu einem großen Drama mehr oder weniger, dass diese zwei Blickwinkel nicht zueinander finden. Und eine Kinderwelt für uns oder ein Kinderblick ist einfach auch, dass Träume und Albträume viel dichter zusammenspielen mit einer sogenannten Realität. Also das geht alles ineinander über und kriegt ein bisschen was vielleicht doch Traumartiges oder Märchenhaftes sogar in Momenten.
Zusammenprall zweier Blickwinkel
Also das war uns klar, dass der Film zumindest am Anfang dem Rechnung tragen sollte und später, wenn die Perspektive mehr oder weniger ein bisschen wechselt, dass das, wie wenn die Kinder dann im Film die Jalousien hochziehen und das Licht quasi die Räume durchflutet und ganz ... dann sieht man viele Details, wo du gesagt hast, die man dann gar nicht sehen möchte vielleicht. Das ist dann sehr klar, sehr hell, so ein Erwachsenenblick vielleicht, fast was Dokumentarisches, das einen zwingt, Sachen anzuschauen, die man vielleicht nicht sehen mag, aber das ist einfach dann diese sehr nüchterne, harte Realität. Und dass dieser Film mit diesen zwei oder mit dem Zusammenprallen dieser zwei Blickwinkel spielen soll, das war uns schon klar.
Wellinski: Es heißt ja, dass nichts schwerer ist, als mit Tieren und mit Kindern zu drehen. Sie haben zwei wunderbare Kinderdarsteller gefunden. Ich frage mich aber noch beim Horrorfilm Folgendes: Wie arbeitet man mit Kinderdarstellern in einem Film, den Sie ja qua Gesetz theoretisch nicht sehen dürfen, weil die Altersfreigabe viel höher ist?
Franz: Also mit Kindern zu arbeiten empfinden wir deswegen als einfach, weil wenn man Regieanweisungen ... oder wenn man Kindern sagt, was sie machen sollen, dann vertrauen die einem und wollen das so gut wie möglich machen. Und wenn sie es nicht gut machen, weiß man genau: Man hat ihnen was Falsches gesagt. Mit Fauchschaben komplizierter ...
Fialla: ... als mit Kindern, ja, schon eine Spur komplizierter.
Wellinski: Hat aber auch geklappt?
Fialla: Hat geklappt, und wir sind so stolz drauf, dass keiner einzigen Fauchschabe was passiert ist, weil uns der Fauchschabentrainer, der eigentlich ein Versicherungsmakler in Niederösterreich ist, der hobbymäßig Insekten für Filme trainiert, gemeint hat: Am Schluss, wenn irgendwie so dann doch Feuer oder was auch immer ... Die Schaben sind relativ blöd, hat er gemeint. Es kann sein, dass die alle ins Feuer rennen und verbrennen - ist aber nicht passiert, so dumm sind sie dann doch nicht.
Franz: Und Gewaltszenen, also im Film - also die Kinder haben eigentlich ... Ich glaube, sie machen einen urlangweiligen Film. Sie finden immer noch, das war der beste Sommer ihres Lebens, aber die haben jetzt ... Dreharbeiten sind ja an sich viel warten, wiederholen, von links nach rechts, von rechts nach links gehen. Und als wir dann im Tonstudio waren für Synchronisierungsarbeiten, haben die zum ersten Mal ein paar Ausschnitte gesehen und waren völlig fassungslos, dass es doch nicht so langweilig ist, wie sie es sich gedacht haben, dass es sein wird.
Wellinski: Jetzt steht Ihr Film relativ einsam im Wald des deutschen Genrefilms, gerade was den Horrorfilm ... sagen wir mal, des deutschsprachigen, das ist ganz wichtig, wenn man zwei österreichischen Regisseuren gegenübersitzt, ... Wir vereinnahmen das ja gerne so in Deutschland.
Franz: Wirkt eben Hitler zurück.
Wellinski: Ja, sehr treffend, ehrlich gesagt. Nein, aber wie ist das mit "Ich seh, ich seh", wenn ich jetzt so zwei ausgewiesene Genre-Experten vor mir habe: Warum tut man sich denn hier so schwer? Wie könnte man sich diesem Thema denn nähern? Zu erzählen gibt es ja anscheinend etwas, das sehe ich ja in "Ich seh, ich seh".
Finger in der Wunde
Franz: Ja, ich finde ja sozusagen, dass es ein großes Vorurteil ist, dass Horrorfilme nichts zu erzählen haben, oder Genrefilme überhaupt. Ich finde, Horrorfilm legt überhaupt seinen Finger oft in die Wunde und wühlt darin herum, in Tabus der Gesellschaft. Also wir reden quasi in unserem Film über die Familie und über sozusagen, was da alles schiefgeht oder schiefgehen kann oder wie schwierig das in unserer heutigen Gesellschaft ist. Darüber reden wir auch.
Aber wir reden darüber nicht vornehmlich, sondern wir wollen einen spannenden Film machen, der sozusagen im Untergrund oder im Hintergrund oder danach das auch zu erzählen hat. Aber das ist sozusagen, finde ich, ein Vorurteil, dass das nur Unterhaltung oder nur grauselig oder so ist - überhaupt nicht. Gut gemachtes Genrekino, finde ich, vereint beides, Spannung und oft Gesellschaftsbefund und -kritik.
Und insofern finde ich es viel besser als jeden Arhousefilm, weil beim Arthousefilm ist mir oft fad, und ja, die haben oft auch einen Auftrag und haben was zu erzählen und das ist interessant und Dings, aber ein gut gemachter Horrorfilm oder Genrefilm kann beides.
Fialla: Ich glaube, wir sind noch ... In dem Sinn sind wir auch Sportler oder Ehrgeizler, ...
Franz: Richtig.
Fialla: ... denn wir wollen auch einen Film machen, der funktioniert und der quasi beurteilbar ist. Und das finden wir, das ist bei Arthousefilmen wahnsinnig schwierig, weil da kann man ... Selbst wenn es wahnsinnig langweilig ist, finden sich dann immer noch 50 Zuschauer, die sagen: Das soll genauso langweilig sein aus dem und dem Grund. Und das mag stimmen, das entzieht sich dann aber auch jeder Beurteilbarkeit, und ein Horrorfilm halt nicht, weil wenn ein Horrorfilm fad ist, dann hat man versagt. Und das ist irgendwie auch eine Aufgabe, die wir gerne erfüllen wollten, zu schauen, ob wir das schaffen, dass einem nicht fad wird.
Wellinski: Veronika Franz, Severin Fialla - ich danke Ihnen für Ihre Zeit, für Ihren Film und ich wünsche Ihnen viel Erfolg.
Franz: Danke schön!
Fialla: Danke sehr!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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