"Ich reise durch das Auge der Geschichte"

Daniel Schwartz im Gespräch mit Dieter Kassel · 22.06.2011
Für den Fotografen Daniel Schwartz ist die journalistische Neugier Antrieb seiner Zentralasien-Reisen gewesen. Die Ausstellung "Schnee in Samarkand" im Berliner Martin-Gropius-Bau bietet aber auch sehr kunstvolle "Ansichten aus dem Hinterland des Krieges".
Dieter Kassel: Heute Abend eröffnet im Berliner Martin-Gropius-Bau eine Ausstellung mit dem Titel "Schnee in Samarkand – Ansichten aus dem Hinterland des Krieges", die Ausstellung ist dann bis zum 12. September hier in Berlin zu sehen. Es ist eine Ausstellung mit Fotografien, die der Schweizer Autor und Fotograf Daniel Schwartz so von Mitte der 90er-Jahre bis ins Jahr 2007 auf seinen Reisen durch Zentralasien gemacht hat. Zentralasien, ein Begriff, den er allerdings geografisch ein bisschen frei auch an den Rändern gedeutet hat. Er ist unterwegs gewesen, na ja, so in etwa vom Kaspischen Meer bis in die Westprovinzen Chinas und von Kasachstan bis in den Süden runter an die Küsten des Iran und Pakistans.

Die Ausstellung ist ab heute Abend zu sehen, und deshalb ist Daniel Schwartz im Moment nicht irgendwo in der weiten Welt unterwegs, sondern sitzt hier bei mir in Berlin im Studio. Schönen guten Tag, Herr Schwartz!

Daniel Schwartz: Guten Tag!

Kassel: Diese Ausstellung basiert auf einer Ausstellung in Zürich aus dem Jahr 2009, und da waren Ihre Fotografien zu sehen unter dem Titel "Travelling Through the Eye of History", also übersetzt so in etwa: eine Reise durch das Auge der Geschichte. Warum ist dieses Zentralasien, dieses Gebiet, so wie Sie es auch für sich definiert haben, das Auge der Geschichte?

Schwartz: Vielleicht einen kleinen Vorgriff: Das Auge der Geschichte – ich habe mich da bei Abraham Ortelius, dem Geografen des 16. Jahrhunderts, umgeguckt. Kartografen sind für mich sehr wichtig. Und er hat den ersten Atlas, den er gemacht hat, "Geschichte der Kartografie", dem hat er das Frontispiz vorangestellt: das Auge der Geschichte. Die Geografie ist das Auge der Geschichte.

Und ich reise durch das Auge der Geschichte, weil Zentralasien natürlich und dieser ganze Binnenraum, an den sich die großen Kulturen im Osten, im Süden und im Westen andocken, der sie verbindet, trennt manchmal auch, je nachdem wie man ihn behandelt. Das ist natürlich so etwas wie das Auge der Geschichte, weil es gibt keinen, weltweit keinen Raum, Großraum, der so viel Überschichtungsräume beinhaltet wie Eurasien oder Zentralasien, kein Begriff – seit Humboldt versucht man, an diesem Begriff herumzuzimmern, und er lässt sich eigentlich nicht endgültig definieren.

Und für mich ist eigentlich in der Geschichte immer auch die Erklärung für die Gegenwart, und wenn die Gegenwart manchmal mir trügerisch vorkommt, dann gucke ich in der Geschichte nach und finde dann die Erklärungen.

Kassel: Aber wie homogen kann man denn diesen Raum sehen? Wenn ich mir gerade mal vorstelle, diese auch geografisch äußersten Ränder des von Ihnen bereisten Gebietes, nehmen wir den Iran auf der einen Seite, nehmen wir Shenyang, also das Gebiet in China, wo die Uiguren, die muslimische Bevölkerungsgruppe, lebt, das war so die Ostgrenze Ihrer Reisen ungefähr. Was haben denn zum Beispiel diese Gebiete überhaupt miteinander gemeinsam?

Schwartz: Also Homogenität ist gar nicht gewünscht, es geht um die Heterogenität und die Vielfalt, und was diesen Raum zusammenbringt, ist eben seine Funktion als vermittelnder Raum zwischen den Großkulturen. Man kann sagen, die Globalisierung hat eigentlich in Zentralasien begonnen, in der Dsungarischen Pforte, weil dort nie Schnee lag und die frühen prähistorischen Kulturen sich durch die Dsungarische Pforte bewegen konnten, und da hat der früheste kulturelle Austausch in Handwerksmethoden, in Technologien hat dort stattgefunden.

Und Globalisierung ist ja nicht, wenn überall eine bestimmte Kaffeemarke Cafés eröffnet, sondern wenn sagen wir mal ein bestimmtes Muster, eine Töpferware den Weg findet in eine andere Kultur, dort Gefallen findet, aber dann adaptiert werden muss, ein anderes Werkmaterial, weil das ursprünglich ja nicht mehr besteht. Und das hat eigentlich 3000, 4000 vor Christus in dem heutigen Kasachstan, China, in diesem Grenzbereich begonnen. Später gingen dann … durch die Dsungarische Pforte sind sämtliche Nomadenföderationen, die Dschingis Khans Reiterhorden, alle gingen dort durch.

nd deswegen, das bringt mich zurück zur Geografie natürlich: Die Geografie erklärt eben – so wie das Klima die Kultur erklärt, erklärt Geografie sehr viel von der Geschichte.

Kassel: Die Dsungarische Pforte, die Sie erwähnt haben, die ist was?

Schwartz: Die Dsungarische Pforte, das ist ein Durchgang zwischen dem heutigen Kasachstan und China. Das Wort Pforte ist vielleicht die falsche geografische Bezeichnung. Es ist ein unglaublich toller Durchgang, es ist eine flache Schale, die sehr gutes Weideland hat, das brauchen Nomadenvölker, sehr wasserreich, und das ist ein natürlicher Durchgang, der eigentlich beweist, wie die Topografie eben Geschichtsverläufe bestimmt, weil da geht es einfach durch und da muss man durch.

Kassel: Sie sind Landschaften begegnet, Sie sind Geschichte natürlich begegnet, darüber haben wir geredet, Sie sind natürlich schlicht und ergreifend Menschen, lebendigen Menschen begegnet. Nicht wenige davon sieht man ja auch auf einigen der Fotografien. Wie waren denn diese Begegnungen mit den Menschen?

Schwartz: Immer sehr herzlich, wenn ich respektiert habe, und ich habe versucht, es eigentlich immer zu tun, zu respektieren: die Gesetze und die Gepflogenheiten der jeweiligen Kultur. Und wir sind hier in einer Region, die ein ungeschriebenes Gesetz kennt, und das ist das der Gastfreundschaft. Und wenn man das respektiert, dann ist man eigentlich auf sicheren Pfaden, und man vertraut sich Menschen an, die einen in eine Situation bringen und auch wieder rausbringen.

Sicherheit gibt es nicht, das ist ein westliches Konstrukt, da macht man sich was vor. Man ist einfach wirklich gut bedient, wenn man sich Menschen anvertraut, die einen auch wirklich dann aufgrund ihrer ganz, ganz alten traditionellen Werte eigentlich beschützen. Ja, und man weiß eigentlich nie genau, was faktisch alles passieren könnte, was ist. Man muss einfach das Gefühl haben: Wenn die sagen, es ist jetzt gut, wir gehen, dann geht man.

Kassel: Man könnte, nachdem glaube ich Sie bei mehreren Fragen immer wieder auch auf das Thema Geografie zum Beispiel zurückgekommen sind, auf anderes könnte man jetzt erwarten bei der Ausstellung, die nun in Berlin zu sehen ist bis zum 12. September, da seien möglicherweise die Fotografien geografisch geordnet. Das sind sie nicht, sie sind auch nicht chronologisch geordnet, sie sind auch nicht in irgendeiner Art und Weise politisch im Sinne von nach Ländern oder nach Verbündnissen geordnet, sondern nach Themen. Und es gibt auch keine riesigen Texttafeln, die einem bei jedem Foto erklären, wer da wann wieso was gemacht hat und warum Sie da zufällig gerade mit einer Kamera dabei waren.

Das heißt, letzten Endes ist es schon – Sie sind zwar Journalist, aber Sie sind ja nicht als Pressefotograf durch diese Gegend gefahren –, es ist eine Kunstausstellung am Ende, das darf ich sagen, oder?

Schwartz: Wenn Sie das sagen, dann ist das Ihre Freiheit der Interpretation. Ich fahre natürlich nicht in ein Krisengebiet, um Kunst herzustellen. Für mich ist die journalistische Neugier sehr wichtig, das ist mein Antrieb, ich versuche, vorauszusehen, wo etwas geschehen könnte und gehe dann hin. Ich reagiere nicht reaktiv auf etwas, was geschieht, und eile hin mit allen anderen zusammen, weil es dann ein Mediengeschäft wird, sondern ich versuche, zu überlegen: Wo könnte etwas fermentieren, das Stoff gibt, der sich dann entzündet, wenn es noch etwas dazu braucht? Und ich versuche, dorthin zu gehen, bevor es sich entzündet, weil wenn er dann mal brennt, dann ist Flächenbrand und dann wird sofort der Flächenbrand instrumentalisiert und kontrolliert und die Zugänge, und da kann man nicht mehr arbeiten.

Jetzt wendet man sich Libyen zu, und Osama bin Laden hat man gefangen, jetzt können wir nach Hause, der Westen hat die persönliche Rache quasi eingeholt, jetzt können wir uns von Afghanistan wieder abwenden und es ist ein wunderbarer Grund und alle werden abziehen, und wir haben dann eigentlich die Voraussetzung geschaffen wie 1988, dass der Bürgerkrieg von Neuem losgehen kann mit Menschen, mit Leuten und Akteuren, die wir während zehn Jahren jetzt vollgestopft haben mit Geld und Waffen.

Kassel: Ist das in Bezug auf die Region Realismus vielleicht, aber höre ich da auch Pessimismus?

Schwartz: Nein.

Kassel: Wir haben ja auch nicht nur, wenn ich das noch sagen darf, das afghanische Problem in der Region oder das afghanisch-pakistanische, wir haben da den Iran, wie haben da die ehemaligen Sowjetrepubliken, die überwiegend von schlimmen Diktatoren regiert werden jetzt, dann haben wir das Problem der Uiguren mit der chinesischen Zentralregierung und, und, und. Es ist eine Region voller Probleme, Kaschmir und ...

Schwartz: Voller Überschichtungen und Verflechtungen.

Kassel: Also sind Sie Pessimist, also sagen Sie, das wird eine, wie man so schön sagt, so e Problemregion unserer Weltkugel bleiben auf immer und ewig?

Schwartz: Immer und ewig, weiß ich nicht. Ich denke einfach, wir haben ein Zeitfenster verpasst, zu richten, was dort möglich gewesen wäre. Wir haben auf dem Petersberg – ich sage wir, weil ich mich als Vertreter des Westens, auch wenn ich versuche, hier quasi Licht zu werfen auf diese Region als unbefangener Beobachter.

Der Westen hat es vermasselt, Afghanistan wirklich das angedeihen zu lassen, was er hemdsärmelig versprochen. Und wir haben es wieder in den Sand gesetzt. Es wird eine Problemregion bleiben, weil die haben, wir haben dann ... Das Rezept, wenn wir jetzt rausgehen, diese Exit-Strategie, mit Betonung auf Exit und nicht auf Strategie, ist ja nichts anderes, wenn Sie die Verlautbarungen aus Brüssel und von der NATO und aus Washington hören, das ist ja nur eigentlich Sand in die Augen streuen: Es darf nicht so aussehen, als hätten wir eine Niederlage kassiert.

Wir sind in einen Krieg gezogen, der nicht zu gewinnen ist, und wenn wir jetzt da rausgehen und der Anschein besteht, wir hätten verloren, ist es wirklich ein unglaublicher moralischer Sieg für den Widerstand und gibt denen natürlich einen Auftrieb. Und deswegen ist jetzt alles so ... diese Verlautbarungen, diese Wortverdrehungen.

Am Anfang gingen wir rein, hemdsärmlig, Nationen bilden, Wahlen. Wir haben einen Menschen installiert, Karzai, der Wahlen stiehlt, obwohl er eigentlich die Geschichte kennen müsste. Die Taliban kennen die Geschichte, das ist im 19. Jahrhundert schon passiert, die Briten haben einen König ausgewechselt, einen anderen hingestellt, der Afghane akzeptiert keinen Herrscher, den ein Fremder hinstellt, und wenn dann der noch Wahlen stiehlt, dann ist es eigentlich nur dumm, weil er müsste eigentlich wissen, dass in diesem Land nicht einer die Macht hat aufgrund einer Wahl, sondern aufgrund seiner Taten.

Kassel: Daniel Schwartz, jetzt haben wir viel geredet, und wahrscheinlich – wir reden ja über Fotografien – kann sich immer noch keiner so richtig vorstellen, wie sieht das nun wirklich aus? Das macht ja auch nichts, das kann man ja einfach, anstatt darüber zu sprechen, sich angucken.

Die Ausstellung im Martin-Gropius-Bau, "Schnee in Samarkand – Ansichten aus dem Hinterland des Krieges" läuft bis zum 12. September, es gibt zwei Bücher, die ich in dem Zusammenhang erwähnen muss, es gibt zum einen den Textband "Schnee in Samarkand", der ist im Eichborn Verlag erschienen, und es gibt den Bildband "Travelling Through the Eye of History", der ist im Londoner Thames & Hudson-Verlag erschienen.

Ich danke Ihnen, dass Sie bei uns waren, und hoffe, dass ... Na ja, man soll zu einem Gast nicht sagen, ich hoffe, dass Sie nicht Recht haben, aber ich glaube, in dem Fall würden wir uns beide freuen, wenn Sie nicht ganz Recht haben und die Region sogar früher befriedet wird. Ich danke Ihnen sehr.

Schwartz: Ich danke Ihnen für das Gespräch. Dankeschön!

Service:
"Schnee in Samarkand – Ansichten aus dem Hinterland des Krieges" von Daniel Schwartz ist bis zum 12. September im Martin-Gropius-Bau in Berlin zu sehen.
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