"Ich musste mich auch nicht verschleiern"

Nicole Christine Karafyllis im Gespräch mit Joachim Scholl · 19.07.2012
Der Campus am arabischen Golf ist in einen Frauen- und einen Männercampus aufgeteilt, und die deutsche Dozentin darf mit Ausnahmegenehmigung Auto fahren. Die Philosophin Nicole Christine Karafyllis hat mit der ersten Generation von Studentinnen das kritische Denken eingeübt.
Joachim Scholl: Nicole Christine Karafyllis ist Professorin für Philosophie und in dieser Funktion war sie zwei Jahre lang Inhaberin eines entsprechenden Lehrstuhls an der United Arab Emirates University in Abu Dhabi. Zurzeit lehrt sie an der Technischen Universität in Braunschweig und dort begrüße ich sie am Telefon, guten Morgen, Frau Karafyllis!

Nicole Christine Karafyllis: Guten Morgen!

Scholl: Wie kamen Sie denn zu diesem Lehrstuhl in Abu Dhabi? 2008 wurden Sie berufen als erste Frau!

Karafyllis: Das war vergleichsweise unspektakulär, weil ich mich auf eine internationale Stellenanzeige beworben habe. Die gesamte Golfregion inseriert über die USA, über den Chronicle of Higher Education, und ich wollte gerne in die arabische Region, weil ich früher lange in Ägypten war. Und dann habe ich mich beworben und bin genommen worden.

Scholl: Mit welchen Empfindungen sind Sie denn dort hingereist, welche Bedenken hatten Sie?

Karafyllis: Also, ich war vergleichsweise gelassen, weil ich dachte, ich kenne die arabische Welt schon gut. War dann aber doch überrascht, dass Golf-Arabien sehr viel anders ist als das mediterrane, nordafrikanische Arabien. Deswegen gibt es eigentlich die arabische Welt wirklich nicht. Also, der wahhabitische Islam führt doch zu einem ganz anderen Bildungssystem, als wir es etwa in Ägypten oder in Tunesien kennen. Und was mich auch überrascht hat, war, dass man eben gar nicht viel Erfahrung hat mit Universitäts- und Bildungskultur. Die Länder sind sehr jung, die Emirate sind ja gerade mal 40 Jahre alt und wir haben halt nicht alte Universitäten wie Kairo etwa.

Scholl: Darauf kommen wir auf jeden Fall noch zu sprechen, Frau Karafyllis! Aber erst mal spektakulär war es ja, dass Sie als erste Frau Philosophieprofessorin in Abu Dhabi, an dieser Universität wurden. Man weiß ja, dass Frauen in dieser Golfwelt nicht die gleichen Rechte und Privilegien wie Männer genießen. Wie war das denn an der Universität? Wie ist man Ihnen begegnet?

Karafyllis: Ich bin sehr gut behandelt worden. Es gibt ja eine klare Geschlechtertrennung am Golf, von daher ist auch der Campus sozusagen in einen Frauen- und einen Männercampus räumlich aufgeteilt. Auf Kollegenebene ist das aber sozusagen aufgehoben. Also, man hat mit männlichen Kollegen den ganzen Tag zu tun und die kommen aus ganz verschiedenen Ländern, aus den westlichen Ländern wie USA und Australien, aber auch aus anderen arabischen Ländern. Und das war völlig unkompliziert, muss ich sagen. Ich bin sehr gut behandelt worden und ich musste mich auch nicht verschleiern. Ich konnte ganz normal rumlaufen insofern, als man halt seine Schultern bedeckt. Aber ich durfte auch Auto fahren mit besonderer Genehmigung des Dekans und von daher hatte ich ein vergleichsweise normales Leben als Frau.

Scholl: Wenn Sie jetzt gerade schon so gesagt haben, also, Studierende, männliche und weibliche Studierende sind getrennt, wie muss man sich denn dann den Unterricht vorstellen?

Karafyllis: Ja, man hat also reine Mädchenklassen und reine Jungsklassen, so wie es bei uns früher auch war. Und der Jungenscampus ist der viel kleinere, weil viel weniger junge Männer studieren als junge Frauen. Auf dem Männercampus darf man einfach so mit dem Auto rein- und wieder rausfahren, beim Frauencampus gibt es große Sicherheitsvorschriften, braucht man also zum Beispiel einen Extra-Aufkleber auf dem Auto, dass man eben auch Professorin ist, und da wird jedes Mal auch überwacht, dass man kein Mädchen mit nach draußen nimmt.

Scholl: Stimmt es, dass das eine Mauer ist mit Stacheldraht, wie ich gelesen habe?

Karafyllis: Ja, das ist richtig. Das ist auch absolut typisch, weil, die Universität muss sozusagen den Eltern unterschreiben, dass sie auf die Mädchen aufpasst. Und das macht es in der Praxis sehr schwierig, etwa Exkursionen zu organisieren oder Austauschprogramme etwa, dass man die Mädchen mal außer Landes bringt, ist sehr schwierig zu gestalten.

Scholl: Wie war das nun fachlich, Frau Karafyllis? Philosophie lehrt ja das kritische, freie Denken. Was haben Sie unterrichtet und wie frei waren Sie in der Lehre?

Karafyllis: In der Lehre war ich dahingehend frei, dass ich mich nur an dem Lehrplan orientieren musste, der sehr amerikanisch gestaltet ist. Das hat selber aber auch zu Problemen geführt, zum Beispiel dass die amerikanischen Berater oft gesagt haben, ja, wir sollen etwas zu Feminismus unterrichten oder zu Menschenrechten, und ich die Erfahrung gemacht habe, dass die Studenten diese Themen sozusagen als die Sprache des Westens verstehen. Und ich habe es dann meistens eingedenk unserer eigenen europäischen, mittelalterlichen Herkunft, wo man auch aufpassen musste in der Philosophie, wie man mit Religion umgeht, habe ich die Themen etwas abgewandelt. Also, ich habe zum Beispiel viel Naturphilosophie und Umweltethik unterrichtet, weil das ein Thema ist, was Studenten interessiert.

Die wissen alle, dass das Erdöl bald zu Ende geht, und sie interessieren sich für Solarenergie. Das war was, was sehr gut gelaufen ist. Ich habe auch versucht, sie an ihre eigene philosophische, reiche arabische Geschichte zu erinnern, sie hatten ja selber viele große Philosophen. Und was ein Kurs war, der sozusagen sehr gut gelaufen ist und wo man auch dankbar sein muss, dass die USA den vorgeschrieben haben, war ein Kurs, der heißt "Einführung in kritisches Denken". Der ist für Erstsemester vorgeschrieben, das ist auch spezifisch für die Emirate, Saudi-Arabien hat so was gar nicht. Das wird auch immer wieder beanstandet, weil, da lernen Studenten das erste Mal, dass ein Text nicht unbedingt Wahrheit verkörpert.

Scholl: Aber wie muss man sich das denn noch vorstellen, Frau Karafyllis? So, wie Sie das erzählen, hört sich das so an, als ob da reiche Upperclass-Mädchen und -Jungens sitzen, die aber sozusagen jetzt nichts hören wollen vom Feminismus, von Menschenrechten, sondern lieber was über die Solarenergie, wie sie später dann ihre Porsches irgendwie beheizen können?

Karafyllis: Doch, natürlich wollen sie was hören über Feminismus und Menschenrechte. Aber es ist immer eine Frage … der Begriff Politik … Also, wenn man weiß, dass viele arabische Länder die UN-Menschenrechtskonvention von '48 nicht unterzeichnet haben und eine eigene dagegengesetzt haben in den 60ern, dann muss man sie sozusagen bei ihrer eigenen Menschenrechtskonvention abholen und dann die Frauen auch fragen, seid ihr zufrieden damit, was da drin steht für euch, zum Beispiel dass es kein Recht gibt auf die freie Wahl des Ehepartners …

Scholl: … und das haben Sie angesprochen?

Karafyllis: Ja, das kann man machen, genau …

Scholl: … was haben die Frauen denn da gesagt?

Karafyllis: Ja, sie haben, also, zum großen Teil haben sie gesagt, nein, sie sind nicht zufrieden damit. Aber es ist für sie zum Beispiel erst mal fremd, dass es die Idee einer Liebesheirat überhaupt gibt. Das ist eben auch ein europäisches Verständnis. Dort wird eher geheiratet innerhalb der Großfamilie, damit natürlich auch das Geld zusammenbleibt. Es wird aus ökonomischen Gründen geheiratet und das wird dann mit einer gewissen Romantik unterlegt. Aber die Idee der Liebesheirat ist auch in Europa noch nicht so alt. Und deswegen sage ich, man muss immer wieder rückwärts denken und sagen, auf welchem Stand sind sie, wo kann man sie abholen und wie kann man sie sozusagen aktiv ins Denken kriegen.

Scholl: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Nicole Karafyllis, sie hatte als erste Frau einen Lehrstuhl für Philosophie in Abu Dhabi. Nun hört man jetzt, Frau Karafyllis, schon seit etlichen Jahren von diesem Universitätsboom in den Vereinigten Arabischen Staaten. Hunderte von Millionen Dollar werden investiert, Länder wie Abu Dhabi oder Dubai. Geht es dabei tatsächlich um den nachhaltigen Aufbau von Wissenschaftsstrukturen, also für die Zukunft der Jugend, oder ist das auch ein Teil jener Strategie ähnlich wie im Tourismus, für die Zeit nach dem Öl neue Tätigkeitsfelder zu erschließen?

Karafyllis: Ja, es ist auf jeden Fall eine Langzeitinvestition. Es werden eigentlich zu viele Universitäten gerade gegründet für dieses kleine Land und dass die einzelnen Emirate miteinander konkurrieren, ist sozusagen auch noch mal hinderlich. Also, das sind ja sind ja sieben Einzelemirate. Und deswegen kann man sagen, der Bedarf ist eigentlich gar nicht so stark da im Vergleich zu den Universitäten. Ich würde sagen, es wird zu wenig in nachhaltige Strukturen investiert. Das liegt an den Arbeitsverträgen: Wenn man als Professor hingeht, bekommt man natürlich keine Verbeamtung und auch nicht so wie in den USA einen Tenure-Track. Das heißt, man muss immer damit rechnen, dass man nach zwei oder vier Jahren wieder ausgetauscht wird.

Scholl: Sind denn da auch genügend Wissenschaftler eigentlich bereit, in diese Länder zu gehen? Ich meine, das Leben dort stelle ich mir jetzt für einen Wissenschaftler, gerade für einen Geisteswissenschaftler vielleicht nicht so ganz anregend vor?

Karafyllis: Ja, ich fand es eine Herausforderung, weil es die erste Frauengeneration ist, die man wirklich an der Universität unterrichten kann. Und das ist für eine Philosophin was Tolles zu sagen, in der Region bringe ich Leuten bei, wie man kritisch denkt. Allerdings würde ich sagen: Für die Naturwissenschaftler und Ingenieure ist es schwierig, weil die brauchen ja bestimmte Labors und das wird der Standard überhaupt nicht erfüllt.

Scholl: Inwieweit, würden Sie denn sagen, wirkt dieses internationale Engagement und dieser neue Bildungsschub auch in eine Gesellschaft wie die in Abu Dhabi hinein? Hat das womöglich auch auf längere Sicht eine demokratisierende, auch emanzipatorische Kraft gerade für Frauen?

Karafyllis: Denke ich schon, weil die Frauen dadurch die Möglichkeit haben, ein eigenes Einkommen zu generieren. Deswegen sind sie eigentlich auch ganz begeistert im Studium. Sie wissen, dass Bildung auch Macht ist und auch eine Chance auf einen eigenen Beruf, zumal die arabischen Länder darunter leiden, dass die jungen Männer oft das Land verlassen, die studieren dann eben in den USA oder in England, und dass das Land eigentlich am Laufen gehalten wird durch die jungen Frauen.

Scholl: Was war für Sie in diesen zwei Jahren die beeindruckendste Erfahrung, der stärkste Eindruck, den Sie mitgenommen haben?

Karafyllis: Der stärkste Eindruck, den ich mitgenommen habe, war eigentlich der Wille der jungen Mädchen, anders zu sein als ihre Mütter und Großmütter. Und dass es dort wirklich einen Willen gibt, Strukturen aufzubrechen. Also, wenn man in Bildung in der arabischen Welt investiert, muss man an die Frauen denken.

Scholl: In der Vereinigten Arabischen Emiraten wird massiv in Wissenschaft investiert, Nicole Karafyllis war die erste Philosophin, die in Abu Dhabi gelehrt hat. Frau Karafyllis, herzlichen Dank für das Gespräch. Tschüss!

Karafyllis: Tschüss, vielen Dank!

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.