"Ich hatte einen Traum: ein Diplom"

Von Anna Frenyó · 04.02.2013
Im Dezember brachen in Ungarn massive Demonstrationen unter Studenten und Schülern aus, Grund dafür waren geplante Einschnitte im Hochschulsystem. Nach den Protesten hat die Regierung inzwischen eingelenkt. Wie ein angehender Abiturient die Situation erlebt.
Abenddämmerung am Donauufer in Budapest. Es ist der 19. Dezember 2012. Vor der Akademie der Wissenschaften stehen Hunderte von Schülern in dicke Mäntel gehüllt. Im Hintergrund die Lichter der Kettenbrücke, man sieht die farbigen Transparente der Protestierenden gut. "Ich hatte einen Traum: ein Diplom", steht auf einem Schild, "Tschüß, Viktor Orban, wir sind die Zukunft" auf einem anderen. Manche halten Rosen in der Hand. Eine gutgelaunte Gruppe von Schülern hält eine Tafel mit der Aufschrift "ELTE Radnóti Gymnasium" hoch. Ein junger Mann unter ihnen lächelt, auf seinem Stoffmantel steckt ein hellblaues Seidenfähnchen, das Symbol dafür, dass er in die zwölfte Klasse geht und direkt vor dem Abitur steht.

"Hallo, ich bin Barnabás Tóth aus dem Radnóti Gymnasium der ELTE Universität."

Der junge Mann ist der nächste Redner auf der Kundgebung.

"Ich, Eliteschüler, muss aus Solidarität über diejenigen sprechen, die sich ein Studium weder jetzt noch im früheren System leisten konnten. Wir müssen Solidarität üben!"

Seine hellbraunen Haare sind vom Wind zerzaust, er schaut ernsthaft, doch immer wieder erscheint ein schelmisches Lächeln auf seinem jungenhaften Gesicht. Braune Augen, Brille, zerknittertes Papier in der Hand. Barnabás hat etwas Sanftmütiges an sich.

In seiner Rede erinnert er an arme Gegenden wie Borsod in Nordostungarn. "Vielleicht sitzt ja ein potentieller Nobelpreisträger unter den dortigen Schülern", sagt er. "Doch der wird nie so weit kommen, weil sich seine Familie den Kredit für ein Studium nicht leisten kann."

Doch auch der Elite-Schüler kann sich die Studiengebühren nicht leisten. Das erzählt er später, am Rande der Demo in einem Café. Neben ihm sitzt seine Mutter.

Sie ist alleinerziehend, und obwohl sie habilitiert ist und selbst an einer Universität unterrichtet, verdient sie bloß 170.000 Forint Netto, das sind etwa 500 Euro. Davon ernährt sie zwei Kinder und zahlt ihre Wohnungshypothek zurück. Ein Semester Betriebswirtschaft für Barnabás an der Corvinus Universität kosten aber 350.000 Forint, etwa 1100 Euro - also zwei Monatseinkommen.

"Das kann ich nicht bezahlen, das weiß auch mein Sohn. Die Studiengebühren treffen nicht nur die allerärmsten, sondern auch die Mittelschicht. Dabei gibt ein Studienabschluss einem doch viel bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Mit einem Wirtschaftsdiplom kann ein Berufsanfänger mehr verdienen als ich nach dreißig Jahren als Universitätsdozentin."

Die Regierung bietet zwar allen Studierenden spezielle Kredite zur Finanzierung ihres Studiums an, Familien wie die von Barnabás aber können sich solche Kredite nicht leisten. Die Eliten wollen offenbar unter sich bleiben.

Letztes Jahr gab es noch staatlich finanzierte Studienplätze für seine Wunschfakultät, doch dann kündigte die Regierung an, dass diese gestrichen werden und es nur selbstfinanzierte Studienplätze gibt. Barnabás würde sein Leben ungern mit einem Riesenkredit beginnen.

Genau deswegen nimmt er an den Protesten teil, die im Dezember in ganz Ungarn an Gymnasien, Universitäten und auf den Straßen stattfinden. Und im Januar weiter gehen. Schüler und Studenten mobilisieren sich über Facebook, organisieren Flashmobs, Streiks und spontane Aktionen. Zusammen mit Dozenten, Vertretern von Gewerkschaften und der Rektorenkonferenz unterschreiben sie eine Vereinbarung. Darin protestieren sie vor allem gegen die geplanten drastischen Kürzungen und gegen die Bleibepflicht. Damit will die Orbán-Regierung staatlich finanzierte Absolventen zwingen, nach Abschluss des Studiums die doppelte Zeit in Ungarn zu arbeiten.

"Was mich wirklich wahnsinnig gemacht hat, war, dass wir jetzt nur noch zwei Monate haben, um unsere Studienanmeldungen einzureichen. Wenn jemand sich seit anderthalb Jahren darauf vorbereitet, Jurist zu werden, und jetzt erfährt, dass er Jura nur gegen hohe Studiengebühren studieren kann, dann hat er keine Chance mehr, sich auf ein anderes Studium vorzubereiten."

Einen Monat später. Barnabás bummelt durch die Hallen der Budapester Bildungsmesse, informiert sich an den Ständen der einzelnen Universitäten. Er lächelt, flachst rum. Wirkt vier Wochen nach der Kundgebung wie ausgewechselt. Die Proteste der Schüler und Studenten hatten Erfolg. Am 17. Januar kündigte die Regierung an, dass es in Zukunft wieder für alle Fakultäten staatlich finanzierte Studienplätze geben wird. Für Barnabás bedeutet das, dass er nun doch Betriebswirtschaft studieren kann. Barnabás ist mächtig stolz auf Ungarns Jugend und Studenten.

"Die Regierung hat wegen unserer Proteste ihre Entscheidungen überarbeitet. Wir konnten allen zeigen, dass es Sinn macht, auf die Straße zu gehen. Wir haben für alle ein Beispiel gesetzt, dass es in Ungarn möglich ist, Veränderungen zu bewirken, wenn wir uns von unten organisieren und für gemeinsame Ziele Kämpfen."

Ein paar seiner Freunde trauen dem Braten aber noch nicht. Die jungen Aktivisten des Studentennetzwerkes, sie sind auch in die Messehallen gekommen. Für morgen laden sie die Gymnasiasten aus ganz Ungarn zu einem Forum ein. Barnabás ist einer der Organisatoren. "Es gibt noch viele Ungerechtigkeiten im Schulsystem, sagt er, wir wollen keine faulen Kompromisse."


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