"Ich glaube nicht an diesen Zufall"

Tilman Jens im Gespräch mit Katrin Heise · 18.08.2009
Der Journalist Tilman Jens sieht einen Zusammenhang zwischen der Demenz seines Vaters - dem bekannten Germanisten Walter Jens - und der Aufdeckung dessen möglicher NSDAP-Mitgliedschaft.
Katrin Heise: Walter Jens wurde als einer der letzten großen Intellektuellen gefeiert, als er im letzten Jahr seinen 85. Geburtstag hatte, er, der nicht nur sprachmächtig war, sondern auch noch handfest sozusagen für die Demokratie sich einsetzte, war gern gehörter Redner und Gesprächsgast auf Podien und in Sendungen. Das allerdings ist schon eine Weile her. Walter Jens leidet seit Jahren an Demenz. Sein Sohn, der Autor und Filmemacher Tilman Jens, hat in diesem Jahr ein Buch geschrieben, "Demenz: Abschied von meinem Vater" heißt es. Er hat dafür in den Feuilletons viel Prügel einstecken müssen, von Vatermord ist gar die Rede. Für Tilman Jens hängt die Demenz seines Vaters mit der öffentlichen Entdeckung zusammen, dass Walter Jens Mitglied der NSDAP war. Walter Jens hatte niemals darüber gesprochen, er ist der Meinung, nicht wissentlich eingetreten zu sein. Das nimmt sein Sohn ihm nicht so richtig ab, für ihn ist die Krankheit eine Flucht – eine für die Generation typische. Die fatale Schweigekrankheit, an der viele Köpfe zerbrachen, so nennt er sie in seinem Buch. Tilman Jens, ich grüße Sie!

Tilman Jens: Ich grüße Sie!

Heise: Sie schreiben weiter: "Mein Vater weiß nicht mehr, wer er ist." Warum eigentlich, Herr Jens, sollte die Entdeckung der NSDAP-Mitgliedschaft unter dem Namen Walter Jens – das ist übrigens nicht letztendlich bewiesen worden – bei Ihrem Vater der Auslöser der Demenz gewesen sein, denn dafür gibt’s ja eigentlich medizinische Gründe, die im Hirn auch nachweisbar sind?

Jens: Also von Auslöser würde ich nicht sprechen, ich denke nur, es gibt einen Zusammenhang. Er, für den Erinnern mit das Wichtigste war, so einer seiner Redenbände heißt "Macht der Erinnerung", er wollte sich nicht mehr erinnern, er wollte dieses Gedächtnis nicht mehr bemühen. Es war ihm unendlich unangenehm, als diese NSDAP-Geschichte bekannt wurde. Man muss sagen, er wusste es ein Jahr vorher, wie ich in Erfahrung gebracht habe, also dieses Lexikon, das das verzeichnet, der Herausgeber hat ihn ein Jahr vorher angeschrieben …

Heise: Bevor es dann ganz öffentlich wurde.

Jens: … bevor es ganz öffentlich wurde, und er hat nicht einmal mit meiner Mutter, mit der er sonst alles geteilt hat, also jeden kleinen Vortrag abgesprochen, sollen wir, sollen wir nicht, er hat kein Wort gesagt, kein Wort in seinem Arbeitsjournal notiert. Und als es dann bekannt wurde, dann hat er sich in einer Form gewunden – das sage ich nicht, um irgendwie Schuld zuzuweisen, es geht nicht um Schuld, sondern eher, um etwas zu zeigen. Er hat sich vollkommen anders verhalten, er wurde still, er wurde fahrig, er wollte dieses Gedächtnis nicht mehr. Er hat keinen Schalter umgelegt, das ist kein Schema, aber es fügte sich genau in die Zeit. November 2003 wurde es durch einen Artikel im "Spiegel" bekannt, diese NSDAP-Mitgliedschaft. Und fortan ging es rabiat bergab mit ihm.

Heise: Sie glauben Ihrem Vater also nicht, dass er sich seiner Mitgliedschaft nicht wirklich erinnern kann, dass er sie nicht tatsächlich mitbekommen hat?

Jens: Ich halte es für sehr unwahrscheinlich. Also mein Hauptindiz ist wirklich, dass er es im Oktober 2002 gewusst hat. Er hat diese Briefe bekommen, er hat auf diese Briefe geantwortet, per Fax, von denen er niemandem etwas erzählt hat. Er hätte da, das waren Monate vor seinem 80. Geburtstag, er hätte da noch einmal offen drüber reden können, er hätte selber bekannt machen können, sagen, da gibt es diese merkwürdige Karteikarte. Er muss gewusst haben, was das auslöst, wenn das publik ist, er hatte Angst davor. In diesem einen Punkt glaube ich meinem Vater, der mir sehr nah war und sehr nah ist, aber in diesem einen Punkt kann ich ihm nicht folgen.

Heise: Warum ist es für Sie so wichtig oder vielleicht auch sogar eine Erklärung, dass das so zusammengehört, dieser Vorgang und die Demenz? Warum können Sie nicht akzeptieren, dass Ihr Vater eben vielleicht auch zeitgleich an Demenz erkrankt ist?

Jens: Ich kann das nicht ausschließen, aber ich habe es anders erlebt. Also ich habe wirklich erlebt, wie er nicht mehr über sich nachdenken wollte, wie er dann sagte, es kann sein, dass ich es wissentlich gemacht habe, vielleicht auch nicht. Er hat gesagt, ich bin ein Mann des Peut-être, völlig absurd.

Heise: Also des Vielleicht.

Jens: Des großen Vielleicht, er war immer eindeutig. Ich versuche, keinen Sinn in dieser Krankheit, die keinen Sinn hat, die nur grausam ist, über weite Teile jedenfalls, ich versuch da keinen Sinn drin zu sehen. Es war nur eine so merkwürdige und auffällige Koinzidenz, dass da … Also ich glaube nicht an diesen Zufall, schlichtweg, weil ich ihn aus nächster Nähe in dieser Zeit erlebt habe.

Heise: Der Kritiker Alex Rühle in der "Süddeutschen" protestierte scharf gegen ihre Stoßrichtung, Demenz als Ausweichstrategie. Iris Radisch in der "Zeit" wirft Ihnen vor, eine historisch-politische Demenz zu erfinden. Hatten Sie eigentlich mit diesen Reaktionen gerechnet?

Jens: Nein, in dieser Schärfe nicht. Alex Rühle hat mich bekümmert, weil ich diesen Rezensenten schätze. Iris Radisch hat mich nicht wirklich verwundert, da wurden alte Rechnungen beglichen. Ich denke, diese Heftigkeit hängt damit zusammen, dass viele der Menschen im Feuilleton nicht realisieren, dass es nicht nur den großen Guru Walter Jens gibt, sondern halt auch den Menschen. Also wer jetzt sagt, das ist Vatermord, weil ich beschreibe, wie er gewindelt wird, der hat immer nur den Zampano bewundert und kann nicht akzeptieren, dass er eben jetzt ganz anders dran ist.

Heise: Wenn man Ihr Buch liest, wenn man das liest, was Sie gerade beschrieben haben, wie Ihr Vater gewindelt wird, wie er mit einer Babypuppe im Arm herumläuft, wie er sich eigentlich vor allem an einem Hund erfreut, wenn man sich dann eben an den Geistesmenschen Walter Jens erinnert, dann wird man schon traurig. Es wird Ihnen ja vorgeworfen, Sie würden Ihren Vater entwürdigen.

Jens: Warum entwürdige ich ihn? Also wenn ich beschreibe, wie es ist – er selber hat immer über seine Krankheiten freimütig gesprochen, über seine Depressionen …

Heise: Aber er hat es freiwillig getan.

Jens: Er hat es frei…

Heise: Er hat es getan.

Jens: Er hat es getan, er konnte es jetzt nicht mehr. Er hatte diese Schamgrenze nicht, und warum ist es entwürdigend, über Windeln zu schreiben? Es werden in dieser Republik mehr Erwachsenenwindeln heute hergestellt als Kinderwindeln. Warum dieses Tabu? Das ist doch nicht ehrabschneidend.

Heise: Wollen Sie auch aufklären über Demenz?

Jens: Ja sicher. Das war das Hauptanliegen, dieses Tabu ein Stück weit zu brechen. Also die Reaktionen in der Schärfe haben mir auch gezeigt, wie weit verbreitet auch unter aufgeklärten Zeitgenossen dieses Tabu verbreitet ist, also über Demenz spricht man nicht. Ich finde es überhaupt nicht. Also wer die Kranken versteckt, der straft sie ein zweites Mal.

Heise: Ich spreche im "Radiofeuilleton" mit dem Autor und Filmemacher Tilman Jens über die Demenzerkrankung seines Vaters Walter Jens. Herr Jens, wie erleben Sie Ihren Vater jetzt?

Jens: Ganz, ganz unterschiedlich. Ich sehe ihn so jede Woche, alle zehn Tage einmal. Manchmal erkennt er mich nicht, manchmal ist er ganz weit weg. Und vor zwei Tagen hatte ich so ein ganz schreckliches Erlebnis irgendwie: Da war er für Momente, das ist ja bei dieser Krankheit so, schien er ganz klar und sagte: Ich will nicht mehr, ich kann nicht mehr. Also hatte auf einmal einen relativ großen Wortschatz. Und dann haben wir geredet und ich habe gesagt: Du, wir können dich doch nicht töten. Darauf guckt er an, lächelt mich an und sagt: Schade. Also das muss man sich vorstellen. Zwei Stunden später war er wieder völlig vergnügt. Also das ist auch für die Nächsten schon eine unglaubliche Herausforderung.

Heise: Das heißt, Sie können sich auch in keinster Weise vorstellen, wie sich Ihr Vater fühlt, weil das, was er dazu sagt, man nicht einordnen kann?

Jens: Er lebt – ich meine, das ist ein abgegriffener Topos –, aber er lebt ein Stück in der anderen Welt, man hat immer so für Momente einen Zugriff, aber der Zugang zu dem alten Vater ist versperrt. Nur es gibt halt einen anderen Vater, der mit seiner Pflegerin – er hat Gott sei Dank die Möglichkeit, sehr gut versorgt zu sein durch eine alte Bäuerin, eine gestandene Schwäbin, die ihn dann mitnimmt auf ihren Bauernhof. Und da füttert er, der früher Tiere hasste, Karnickel, es ist erschreckend. Auf der anderen Seite möchte ich auch die Erfahrung, diesen kreatürlichen Vater erlebt zu haben, nicht missen. Also diese Krankheit ist furchtbar, durch nichts zu beschönigen. Auf irgendeiner Lesung wurde ich mal gefragt: Hat diese Krankheit nicht auch eine Sinnhaftigkeit? Das ist absurd, sie hat überhaupt keine Sinnhaftigkeit. Aber es gibt auch sehr, sehr humane Momente.

Heise: Sie haben den Wunsch des Sterbens eben schon einmal erwähnt. Walter Jens hat das früher ja sehr eindeutig formuliert, dass er eigentlich nicht mehr leben wollte, wenn er nicht selbstbestimmt leben kann. Er formuliert es jetzt noch, und sie können nicht einschätzen, wie es eigentlich gemeint ist. Welche Rolle spielt dieser Wunsch auch im Gespräch zwischen Ihnen und Ihrer Mutter?

Jens: Also es hat eine ganz große Rolle gespielt, weil er so in den Jahren 2006 und 2007 das sehr stark formuliert hat, auch gesagt hat: Tilman, rede du jetzt mit dem Arzt! Er hat einen Arzt, der ihm versprochen hat, dass er ihm helfen würde. Ich habe mit dem Arzt geredet, wir haben gesagt, ja, irgendwann würde es der Arzt tun. Ich hab ihm das gesagt, er war froh, sagte, aber es muss ja nicht gleich heute sein. Und dann war das Thema wieder vorbei. Und es gab ein großes Moment, einen ganz großen Moment, das war Anfang 2007, da saßen meine Mutter, mein Vater und ich am Tannenbaum, also richtig noch idyllisch, und er war ganz gefasst und sagte: Wir müssen miteinander reden, ich habe genug! Es war ein tolles Leben, aber jetzt will ich sterben! Und meine Mutter und ich haben gesagt, ja, wir verstehen das, dann müssen wir das gehen – das war ein ganz schauriger Moment. Pause, wir saßen da, und dann auf einmal sagt er: Aber schön ist es doch! Und damit war letztlich die Diskussion vollends vom Tisch. Denn ich bin mir sicher, dass er recht hat, es muss auch die Möglichkeit der aktiven Sterbehilfe geben, aber nur dann, wenn der Betreffende sich hundertprozentig sicher ist. Also wir können ja nicht kommen und sagen, du hast 1994 mit Hans Küng in dem Buch geschrieben, dass du, wenn du nicht mehr deine Angehörigen erkennst, dann sterben willst. Das kann man ja nicht, weil er hat auch Lebensfreude, so schwer es ist, diese Welt irgendwo zu begreifen.

Heise: Tilman Jens, ich danke Ihnen recht herzlich für dieses Gespräch!

Jens: Ich danke Ihnen!

Heise: Tilmann Jens wird auch am Samstag im "Radiofeuilleton" zu hören sein in unserer Sendung mit Hörerbeteiligung zum Thema Demenz.
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