"Ich glaube, man hätte nicht geschossen"

Peter Kaminski im Gespräch mit Joachim Scholl · 09.11.2009
"Ich war etwas unruhig" - so erlebte der damalige DDR-Grenzsoldat Peter Kaminski den Mauerfall vor 20 Jahren. Er sei von den Ereignissen "überrollt" worden, sagte Kaminski.
Joachim Scholl: Wenn wir heute die Bilder von der Nacht des 9. November anschauen, dann sehen wir unter den zahllosen überglücklichen Gesichtern immer wieder auch vereinzelte verwirrte Mienen – geschockte, irritierte DDR-Grenzsoldaten in Uniform, die ratlos in diesem Ereignis mehr oder weniger herumstanden. Im Studio begrüße ich nun Peter Kaminski. Er war 1989 Offizier der Grenztruppen der DDR, im Grenzregiment "Hanno Günther" in Groß Glienicke, zuständig für den Grenzabschnitt zwischen Staaken und Potsdam. Guten Tag, Herr Kaminski!

Peter Kaminski: Schönen guten Tag!

Scholl: Wie ging es denn dem Offizier Peter Kaminski an diesem Abend des 9. November, wussten Sie auch nicht recht, wie Ihnen geschah?

Kaminski: Also am Abend ging es mir noch gut, ich war etwas unruhig, wir hatten eine große Veranstaltung mit unseren Soldaten, Unteroffizieren, Fähnrichen und Offizieren, wo wir über die mögliche Weiterentwicklung der gegenseitigen Beziehungen gesprochen haben.

Man merkte, es war ja etwas in der DDR in Bewegung gekommen, das machte auch vor den Grenztruppen nicht halt. Ich war ja dort im Grenzregiment verantwortlich für die Ausbildung der Artelleristen. Und nach dieser Veranstaltung habe ich in dieser Nacht eigentlich Dienst gehabt, ich war sogenannter Leiter Einsatzgruppe. Das heißt, wenn es irgendwo ein Vorkommnis an der Staatsgrenze gegeben hätte, dann hätte ich einen Anruf bekommen, man hätte mir ein Fahrzeug vorbeigeschickt und hätte gesagt, wo ich hinfahren soll, um mit der Untersuchung zu beginnen.

Scholl: Es war ja an diesem Abend durchaus ein Ereignis. Wie haben Sie denn von der Grenzöffnung erfahren?

Kaminski: Na ja, das war ja dann so gegen 19 Uhr, wie wir mit der Veranstaltung fertig waren. Ich stellte nur fest, im Regiment gab es einige Besonderheiten: Es gab keine stabile Telefonverbindung, die Funkverbindungen waren ausgefallen und Fernschreiben war auch recht problematisch. Und daraufhin sagte mein Kommandeur zu mir, ich soll sofort nach Hause fahren, mich am besten gleich hinlegen, er hat so das Gefühl, er braucht mich in dieser Nacht noch.

Scholl: Und wie haben Sie dann von der Grenzöffnung erfahren? Gab es da eine offizielle Mitteilung?

Kaminski: Da gab es noch gar keine Mitteilung, da war ja überhaupt nichts bekannt zu diesem Zeitpunkt. Und ich bin nach Hause gefahren, hab mich hingelegt und bekam kurz nach zwölf den Telefonanruf. Und da teilte man mir mit: Sofort zur Dienststelle!

Kein Hinweis, wo soll ich hinfahren, wo ist was passiert. Das war die normale Alarmauslösung. Ich kam ins Regiment, große Anzeigetafel, erhöhte Gefechtsbereitschaft. Da gab es einen entsprechenden Ablaufplan. Man hatte sich in der Dokumentenstelle zu melden, es gab vorbereitete Unterlagen, die waren in Taschen entsprechend versiegelt untergebracht.

Die habe ich in Empfang genommen, hab mich bei meinem Kommandeur gemeldet, und der hat mir diese Unterlagen als Erstes abgenommen, hat sie in seinem Panzerschrank verschlossen und sagte dann: Bitte in zehn Minuten zur Beurteilung der Lage!

Scholl: Zu dem Zeitpunkt wussten Sie immer noch nicht …

Kaminski: Da wusste ich immer noch nicht, was passiert ist.

Scholl: Das ist ja interessant, also wann hat man es Ihnen denn wirklich mal gesagt?

Kaminski: Ich kriegte dann nur den Hinweis, ich kann in normaler Stabsdienstuniform gehen. Ich hab mich dann umgezogen, und der Kommandeur hat dann informiert über die Pressekonferenz über die Aussagen von Herrn Schabowski.

Wir stellten dann sehr schnell fest, dass wir in Richtung Nauen einen ganz großen Fahrzeugstau hatten im Laufe des Abends, der Nacht setzten sich ja immer mehr DDR-Bürger mit ihren Pkws in Bewegung. Und der Kommandeur hatte gegen 23 Uhr 40 Offiziere ins Regiment befohlen, hat sie nach Staaken rübergeschickt zur Grenzübergangsstelle – Staakenstraße war ja einer der großen Grenzübergänge.

Und die hatten die Aufgabe eigentlich, wenn ein entsprechender Befehl kommt, dafür zu sorgen, dass dort reibungslos passiert werden kann, weil natürlich die Kollegen in Grenzeruniform, die die Passkontrolle gemacht hatten, ja eine Sondereinheit des Ministeriums für Staatssicherheit waren.

Scholl: Aber zu diesem Zeitpunkt hat es jetzt also keine Diskussion gegeben, wir müssen da irgendetwas verhindern, weil Sie sagten ja, Sie mussten ja irgendwie sogar sich bewaffnen und diese Dinge?

Kaminski: Nein. Er hatte darüber informiert, dass es, ich glaube, gegen 21 Uhr noch was einen sogenannten Massendurchbruch auf der Oberbaumbrücke gegeben hatte, wo die Schusswaffe nicht zum Einsatz gebracht worden ist. Und er hatte dann im Prinzip die Richtung festgelegt, hat korrigiert, was ist im Rahmen dieser erhöhten Gefechtsbereitschaft zu machen.

Wir haben den Personalbestand (…), wir hatten informiert, dass der Kommandeur befohlen hatte, die Grenze zu öffnen, dass DDR-Bürger unkontrolliert passieren dürfen. Er hat dafür gesorgt, dass Waffenkammerschlüssel speziell verwahrt worden sind, dass also nicht die Gefahr bestand, dass irgendwelche Leute sich von Waffen bemächtigen. Er hat verboten aufzumunitionieren, was im Rahmen dieses Ablaufs eigentlich notwendig gewesen wäre.

Scholl: Das hieß also, man hat auf jeden Fall Vorsichtsmaßnahmen getroffen, dass also keine Waffen in falsche Hände geraten, aber auch, dass also die Grenztruppen jetzt nicht unbedacht irgendwelche Gewaltmaßnahmen einleiten? Ich meine, Sie haben sich bestimmt später auch selbst die Frage gestellt, Herr Kaminski: Was wäre denn gewesen, wenn von oben der Befehl gekommen wäre, das gewaltsam zu verhindern?

Kaminski: Also das große Problem war, zu dem Zeitpunkt gab es keine Möglichkeit, einen solchen Befehl zu übermitteln. Der Kommandeur hat diesen Befehl "Öffnung der Grenzübergangsstelle" selbstständig gefasst. Er konnte ihn sich nicht, was üblich wäre, bestätigen lassen.

Ich bin davon überzeugt, ich glaube, man hätte nicht geschossen. Hundertprozentig sagen kann man das nicht. Man ist nicht in diese Situation gekommen, aber auch Gespräche mit Kollegen in anderen Bereichen – ob nun bei den Landstreitkräften oder sonst so –, da ist eigentlich deutlich geworden, ja, meine Soldaten hätten nicht geschossen, ich hätte einen solchen Befehl nicht geben können.

Das ist das, was ich immer wieder gehört habe. Und im Prinzip ist man auch durch die Ereignisse in dieser Nacht auch wirklich überrollt worden. Natürlich man war unruhig, man wusste nicht, wo geht es jetzt hin. Aber als dann so gegen halb sechs die erste Ruhephase eintrat, alle Arbeiten erledigt waren, da hörte ich DT64, wie ein Reporter vom Jugendradio das erste Mal durch Westberlin gefahren ist.

Und in der Situation habe ich einfach Tränen in den Augen gehabt und dachte so für mich: Okay, du hast dich mal verpflichtet, 25 Jahre lang als Offizier zu dienen, 15 Jahre sind rum, vielleicht hast du eine Chance, schon in zehn Jahren in die Alpen zu fahren, denn alles andere war ja vorher überhaupt nicht denkbar.

Scholl: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Peter Kaminski, Offizier der Nationalen Volksarmee. 1989 hat er an der Grenze gedient und den 9. November erlebt. Sie hatten Tränen in den Augen, Herr Kaminski – ich meine, wer bei den Grenztruppen diente, war ein verlässlicher Genosse erst mal. Sie haben sich bewusst aus Überzeugung zu den Grenztruppen gemeldet. Brach für Sie auch am 9. November nicht auch eine Welt zusammen?

Kaminski: Nein, also ich glaube, eine Welt ist da noch nicht zusammengebrochen, weil man in der Phase überhaupt noch nicht einschätzen konnte, wo geht es hin. Es gab ja die ersten Veränderungen, die man noch in den Tagen vorher erlebt hatte. Mit dieser welthistorischen Sache, wo man nun das Glück hatte, dabei zu sein, ging die Entwicklung in alle Richtungen auf einmal auf.

Wo sie konkret hingehen sollte, das konnte man in den Minuten noch nicht erkennen. Ich glaube, viele haben dann noch an eine Verbesserung des Staates DDR geglaubt, an ein gemeinsames Nebeneinander der beiden deutschen Staaten. Ich glaube, selbst in dieser Situation waren noch nicht allzu viele – zumindest nicht bei den Grenztruppen –, die geglaubt haben, das ist jetzt der Start zur Wiedervereinigung.

Scholl: Wie haben Sie denn die Zeit danach erlebt?

Kaminski: Gut, ich habe mich beruflich neu orientiert. Ich hatte ja damals auch ganz bewusst den Beruf eines Offiziers gewählt. Ich hätte vom Abitur her eigentlich außer Arzt vielleicht alles werden können mit 1,4 im Abschnitt und einem sehr guten Abitur war das möglich.

Ich hatte mir einen Beruf ausgesucht, wo ich davon überzeugt war, er wird gebraucht. Das habe ich geglaubt, dafür habe ich auch gelebt. Und ich habe mich dann neu orientiert, bin Steuerfachgehilfe geworden und habe mir aber gesagt, alles das, was ich an Erfahrungen und ja auch Erlebnissen hatte, das kann jetzt nicht so unverarbeitet bleiben. Ich bin dann eigentlich sehr schnell in die Kommunalpolitik eingestiegen, hatte zu den ersten Wahlen kandidiert und bin dann seitdem auch in der Kommunalpolitik tätig, zurzeit mal wieder Ortsvorsteher von Groß Glienicke, was so eine Art kleiner Bürgermeister ist.

Scholl: Wie denken Sie heute über die Grenze, Herr Kaminski? Ich meine, nicht wenige Menschen sind gestorben, getötet worden an dieser Grenze. Und Sie haben, sagen wir mal, den Schutz dieser Grenze militärisch durchgesetzt.

Kaminski: Ja, ich hab den Schutz militärisch mit durchgesetzt. Ich weiß auch oder das habe ich dann erlebt, als ich unmittelbar im Bereich der Grenze eingesetzt worden bin, dass diese Grenze eindeutig ausgerichtet war vom Aufbau, die Abwehr zum eigenen Land hin, also dass man verhindern wollte, dass Leute gewaltsam diese Grenze überschreiten.

Ich weiß, dass es viele Tote gegeben hat, nicht nur von Leuten, die die DDR verlassen wollten, sondern auch von Grenzsoldaten. Und aus meiner Sicht ist das Wichtigste, dass man heute sich dafür einsetzen muss, dass es solche Grenzen überhaupt nicht mehr geben darf. Mir tut es immer wieder weh, wenn ich dann sehe, was zwischen Mexiko und den USA passiert, es gibt andere Länder – und ich glaube, diese Erfahrung sollte man gerade heute, 20 Jahre danach, noch mal allen ganz deutlich sagen: Man darf ein Volk nicht einsperren, man darf eine Grenze, die davon eigentlich ausgerichtet ist, eine Abschottung vorzunehmen, das kann in der heutigen Welt nicht mehr funktionieren.

Scholl: Jetzt sehen Sie diese Grenze auch als Unrecht, denken Sie aber über die Zeit, über Ihre Zeit als NVA-Offizier vielleicht auch manchmal, dass es die falsche Entscheidung gewesen war, an dieser Unrechtsgrenze zu dienen?

Kaminski: Eine falsche Entscheidung wäre es ja gewesen, wenn ich zu dem Zeitpunkt, wo ich mich entschieden habe, gewusst hätte, dass ich dort etwas Falsches mache. Das konnte man zu diesem Zeitpunkt nicht wissen. Ich bin in der DDR geboren, ich bin dort groß geworden, ich habe mein Leben dort gelebt, habe mir meine Familie aufgebaut und vieles, wo man heute sagt, das war Unrecht, was wir auch heute ganz deutlich sagen, das hat man zu diesem Zeitpunkt nicht gewusst und hat es eigentlich auch in Ansätzen überhaupt nicht erfahren können. Und deshalb gebe ich mir eigentlich Mühe, dass ich diese Erfahrung weitergebe, dass man Offenheit propagiert, dass man über Probleme spricht, dass man Lösungsmöglichkeiten sucht.

Scholl: Viele ehemalige DDR-Bürger verwahren sich gegen den Begriff vom Unrechtsstaat, der jetzt oft in Diskussionen fällt. Und die Mauer, die Grenze, war natürlich das Konkrete – hier sah man das Unrecht am deutlichsten. Ärgern Sie sich über den Begriff Unrechtsstaat oder welche Meinung haben Sie?

Kaminski: Wenn man ganz genau hinguckt, muss man sagen, ja, es war ein Unrechtsstaat, man darf aber nicht vergessen, wie ist der entstanden, in welcher Situation ist der entstanden, was gab es damals für eine weltpolitische Situation, was gab es für eine konkrete Situation in Deutschland?

Die DDR war nicht der erste Staat, der gegründet worden ist. Die BRD ist ein paar Tage vorher gegründet worden, und es gab eine Entwicklung, wo man ja zum Anfang noch davon ausgegangen ist, da ist eine Wiedervereinigung möglich. Dann sind beide Staaten in ihre Systeme extrem eingebunden worden und es ist eine Entwicklung entstanden, die dann zu diesem Ergebnis geführt hat. Also das darf man bei dieser Beurteilung nicht vergessen. Heute bin ich froh, dass wir eine vernünftige Entwicklung gegangen sind, das heißt bei Weitem nicht, dass ich mit allem einverstanden bin, aber dafür hat man jetzt die Möglichkeit, sich zu engagieren und versuchen zu verändern.

Scholl: Peter Kaminski, er hat als Offizier der DDR-Grenztruppen den Mauerfall erlebt, heute ist er in der Kommunalpolitik in Potsdam aktiv. Ich danke Ihnen für Ihren Besuch!