"Ich fürchte, es wird noch schlimmer kommen"

Hans Christoph Buch im Gespräch mit Dieter Kassel · 14.01.2010
Die Lage in Haiti wird sich politisch zuspitzen, befürchtet der Schriftsteller Hans Christoph Buch. "Wenn dann das Schlimmste überstanden ist, könnte es sein, dass man im Volk einen Schuldigen sucht" - und das wiederum könne zu "bürgerkriegsähnlichen Zuständen" führen.
Dieter Kassel: "Eine Katastrophe in einem elenden Land", so lautete die Überschrift in einer deutschen Zeitung nach dem verheerenden Erdbeben in Haiti. Was das für ein Land ist, in dem schätzungsweise drei Millionen Menschen betroffen sind von diesem Erdbeben, darüber reden wir gleich mit Hans Christoph Buch. Der Schriftsteller ist sein Leben lang Haiti eng verbunden gewesen und hat das Land fast jedes Jahr besucht. Wir werden mit ihm darüber reden, wie es dazu kommen konnte, dass Haiti über Jahrzehnte eines der ärmsten und eines der chaotischsten Länder der Welt ist.

Noch immer ist völlig unklar, wie viele Menschen eigentlich bei dem verheerenden Erdbeben in Haiti ums Leben gekommen sind. Der Botschafter Haitis in Deutschland hat von 30.000 Toten gesprochen, René Préval, der haitianische Staatschef, hat gegenüber CNN eingeräumt, dass es vielleicht mehr als 100.000 Tote sein können. Das Chaos ist groß, die Infrastruktur ist zusammengebrochen, die internationale Hilfe kann nur zu einem kleinen Teil wirklich direkt über den Flughafen in Port-au-Prince das Gebiet erreichen, weil der nur sehr eingeschränkt benutzbar ist, nachdem der Tower zusammengebrochen ist. Die Hilfe muss deshalb über die Dominikanische Republik, das Nachbarland, über den Flughafen Santo Domingo kommen und dann quer durchs Land gehen.

Kurzum: Man weiß wenig, man weiß nur, dass die Lage wohl sehr, sehr chaotisch ist auf Haiti. Wir wollen über dieses Land – soweit er etwas darüber weiß –, über die Lage jetzt, aber vor allen Dingen über das, was diesem Land geschehen ist in den letzten vielleicht 50 bis 100 Jahren jetzt mit Hans Christoph Buch reden. Der Schriftsteller kennt Haiti seit seiner Kindheit, hat das Land immer wieder besucht, hat oft auch über Haiti geschrieben, unter anderem spielt Haiti auch eine Rolle in seinem letzten Buch "Reise um die Welt in acht Nächten". Schönen guten Tag, Herr Buch!

Hans Christoph Buch: Guten Tag!

Kassel: Haben Sie im Moment – es ist ja sehr schwierig, das Telefonnetz ist auch zusammengebrochen – irgendeinen Kontakt zu Menschen in Haiti?

Buch: Ich stehe per E-Mail in Kontakt mit Haiti und habe gehört, dass meine Verwandten noch am Leben sind, das ist keineswegs selbstverständlich. Ihre Häuser stehen noch, bis auf eins, aber von Freunden, von Schriftstellern und Künstlern, die ich dort kenne, habe ich nichts gehört, nur die Hiobsbotschaft, dass Georges Anglade, ein auch ins Deutsche übersetzter Autor, der gerade erst vor Kurzem aus dem kanadischen Exil zurückgekommen war, mit seiner Frau umgekommen ist in seinem Haus in Port-au-Prince.

Kassel: Wir werden an Georges Anglade übrigens erinnern, um 16:30 Uhr, da werden wir noch einmal über eines seiner Bücher, die auch ins Deutsche übersetzt wurden, sprechen aus Anlass seines Todes. Aber bleiben wir bei dem Wenigen, was Sie erfahren aus Haiti: Was schreiben die Menschen, die Ihnen noch schreiben können, über den Zustand im Moment?

Buch: Die schreiben nur ganz kurze, telegrammartige Botschaften, "bin noch am Leben" und so etwas, das kann man sich ja lebhaft vorstellen, wenn man selbst dort wäre, hätte man auch keine Zeit für ausführliche Berichte. Noch herrscht Schockstarre, Panik, Traumatisierung. Man sieht ja auf den Fernsehbildern, wie die Menschen die Hände zum Himmel heben, wie sie auf den Straßen zusammenbrechen, wie sie beten. In Haiti gibt es schon lange die Idee, dass das Land von Gott verflucht und verlassen ist aufgrund der vielen Katastrophen, die dort hereingebrochen sind, politische aber auch Naturkatastrophen, ganz zu schweigen von der Wirtschaft. Und die Menschen sind sehr fromm, es ist ja auch die Heimat des Voodoo-Kults, und glauben also, dass das Ganze eine Strafe Gottes ist, und das ist durchaus nachzuvollziehen, wenn man die Bilder sieht: Was sich in Port-au-Prince in diesen Tagen ereignet, ist ein vorweggenommener Weltuntergang, eine Apokalypse für die Betroffenen.

Kassel: Nun hören wir natürlich im Moment viel über die jetzt chaotischen Zustände nach dem Erdbeben, aber was für Zustände herrschten in der Hauptstadt Port-au-Prince vorher?

Buch: Das war immer schon eine chaotische Stadt mit schlechten Straßen, es war kaum durchzukommen. Morgens und nachmittags stockt der Verkehr oft stundenlang, und jetzt liegen noch auf diesen Straßen Trümmer oder es irren Menschenmassen dort umher, die ja draußen übernachten müssen. Man darf nicht vergessen: Auch in der Karibik ist Winter. Wir finden es dort warm, wenn wir im Urlaub hinfahren. Für die Menschen dort sind die Nächte kalt. Wir würden sie übrigens auch kühl finden, wenn wir draußen schlafen müssten. Und dazu kommt: keine Elektrizität, kein sauberes Wasser, nicht genug Nahrungsmittel, keine Medikamente, Krankenhäuser sind zusammengebrochen. Aber auch vorher war die medizinische Versorgung katastrophal.

Kassel: Gibt es überhaupt – wir wissen, dass Minister auch ums Leben gekommen sind bei dieser Katastrophe, dass Regierungsgebäude zerstört wurden –, gibt es denn überhaupt, aus Ihrer Sicht, noch eine funktionierende Regierung, eine funktionierende Verwaltung in Haiti?

Buch: Sogar der Erzbischof wurde in seinem Amtssitz oder in der Kathedrale erschlagen, beim Zusammensturz der Gebäude. Die einzige funktionierende Institution im Moment sind die UNO-Truppen, aber auch deren Chef ist im Hauptquartier der UNO ums Leben gekommen, denn man muss sich das so vorstellen: Die Büros sind in Hochhäusern untergebracht, auch Banken und Geschäfte, und die sind als erstes zusammengestürzt. Es gibt in Haiti kein erdbebensicheres Bauen, es gibt überhaupt keine Bauauflagen. Das Land ist extrem bergig und auf den steilen Hügeln wurde wild gebaut, ohne Baugenehmigung. Da sind ganze Slum-Viertel den Berg runtergekommen, was auch in normalen Zeiten hin und wieder passierte durch Erdrutsche, durch Hurricanes und so weiter. Und die Stadt war also immer schon chaotisch und es wird noch Tage dauern, bis Hilfsorganisationen durchkommen, ganz zu schweigen von Korruption auf beiden Seiten, in Haiti und in der Dominikanischen Republik, wo man sie im Moment gar nicht durchlässt, soviel ich weiß.

Kassel: "Eine Katastrophe in einem elenden Land", ich habe die Überschrift vorhin zitiert, aus der "Zeit" war sie übrigens, aber so ähnlich haben das viele andere auch formuliert. Reden wir über dieses Land. Wenn ich an Haiti denke, dann denke ich in der Tat auch an Armut, ich denke an politisches Chaos, mir fallen Namen wie Papa Doc und Baby Doc ein. Warum ist Haiti das Armenhaus der westlichen Hemisphäre?

Buch: Das hat historische Wurzeln. Haiti ist sehr stolz auf seine frühe Unabhängigkeit, aber selbst haitianische Intellektuelle sagen heute: Vielleicht kam sie zu früh.

Kassel: 1804.

Buch: 1804 hat Haiti eine von Napoleon entsandte Armee vernichtend geschlagen und anders als in den USA ergriffen hier die Sklaven die Macht, nicht die Kolonialherren, die Sklaven, die Nachfahren aus Afrika verschleppter Menschen, daher der Voodoo-Kult. Viele von ihnen waren Analphabeten und nicht darauf vorbereitet, einen Staat zu führen. Das heißt, am Ende setzte sich immer die Gewalt durch und das hieß: Militärherrschaft, despotische Regimes, Putschversuche, Massaker, Bürgerkriege – fast eine endlose Kette von Unruhen, die Haitis Geschichte kennzeichnet, und dazu eine politische Klasse, die eigentlich immer nur darauf aus war, sich selbst zu bereichern, Kleptokratie. Das ist auch ein Erbe der Kolonialzeit, schon die spanischen Konquistadoren haben das Land ausgeplündert bis zum Gehtnichtmehr, dann kamen Seeräuber und eben später französische Kolonialherren und schließlich einheimische Ausbeuter und Unterdrücker, sodass sich Haiti nie aus diesem Teufelskreis befreit hat.

Andererseits gibt es eine blühende Kultur, eine sehr lebendige Kunst- und Musikszene, eine sehr interessante Literatur. Und es gab gerade in letzter Zeit Hoffnungsschimmer, auch die Wirtschaft erholte sich, es herrschte ein Anschein von Stabilität, die UNO-Truppen hatten die schlimmsten Auswüchse, nämlich Entführungen und Morde, beseitigt, indem sie hart durchgriffen gegen Drogengangster oder Drogenbanden, die übrigens von Kolumbien aus dort eingesickert sind, um Drogen weiterzuverschiffen in die USA. Und so war ein Hoffnungsschimmer sichtbar.

All das ist jetzt erst mal zerstört worden durch dieses Erdbeben. Man muss sich vorstellen, es ist wie Dresden oder Hiroshima: 100.000 Tote – ich fürchte sogar noch mehr – auf einen Schlag, aus heiterem Himmel, obwohl es Warnungen gab, vor Erdbeben wurde gewarnt. 1770 wurde Port-au-Prince schon einmal zerstört, aber niemand war darauf vorbereitet. Es gibt übrigens auch keinen Zivilschutz, kein geologisches Büro, das die seismischen Aktivitäten beobachtet und so weiter.

Kassel: Ich möchte mal bei Ihrer Erklärung oder einer Erklärung für die Lage in Haiti bis heute bleiben, die frühe Unabhängigkeit 1804 und diese Unabhängigkeit, die getragen wurde am Anfang halt eher von den Sklaven. Ist das wirklich noch eine hinreichende Begründung für die Probleme, die Haiti, sagen wir mal, in den letzten 50 Jahren gehabt hat, für die Diktatur, für die instabile politische Lage, für die Kriminalität und auch die wirtschaftliche Lage, die ja oft das Grundproblem ist?

Buch: Nein, es ist keine hinreichende Begründung, da haben Sie recht, aber auch die Rolle der USA, die oft sehr negativ war, … Sie haben zum Beispiel von 1915 bis 1934 Haiti besetzt und sich dort ziemlich rassistisch gebärdet. All das ist aber keine Begründung für Haitis Elend. Es ist im Wesentlichen hausgemacht und trotzdem hat die Hilfe der Geberländer, zu denen auch Deutschland gehört, nicht das erhoffte Resultat gehabt, im Gegenteil: Man hat Haiti immer mehr entmündigt, man hat auf die Leute dort – und es gibt ja dort brillante Intellektuelle und Fachleute für alles mögliche, Ärzte zum Beispiel oder Rechtsanwälte –, hat man nie gehört.

Es wurden immer Lösungen am grünen Tisch ersonnen, zuletzt von der UNO, die nicht funktionierten, weil das einheimische Know-how überhaupt nicht gefragt war. Und so hat man Haiti entmündigt bis zu dem Punkt, dass jede Brücke oder jede kaputte Straße nicht mehr aus eigener Kraft repariert wurde, sondern man sagt, das macht die UNO oder die GTZ oder wer auch immer. Und dieser Teufelskreis von Unterentwicklung und Hilfe, die nicht zu den erhofften Resultaten führt, kombiniert mit einer Regierung, die die meiste Zeit abwesend ist, die nichts tut, deren Minister sich selbst bereichern auf Teufel komm raus – all das führt zu dieser Abwärtsspirale, wie sie auch in ganz anderer Weise in Somalia oder Liberia zu beobachten war, also ein "Failed State", ein gescheiterter Staat, und das ist leider kein Einzelfall in der Welt.

Kassel: Welche Zukunft hat jetzt Haiti, wenn irgendwann die Folgen des Erdbebens beseitigt sind? Sie haben die GTZ und all die anderen erwähnt, die sind natürlich völlig zu Recht in dieser Lage jetzt auch wieder unterwegs nach Haiti. Der Botschafter in Deutschland hat eine Art Marschallplan für das Land gefordert, ja, gut, das heißt, wieder Geld, das wird sicherlich auch fließen, aber welche Zukunft hat Haiti jetzt?

Buch: Ich fürchte, es wird noch schlimmer kommen. Zunächst mal müssen wir abwarten die Folgen des Bebens, die Todesziffern, die man nie genau kennen wird, aber zunächst mal geht das Sterben weiter. Selbst kleine Wunden können sich und werden sich infizieren, wenn es keine medizinische Behandlung und keine Medikamente gibt, und dazu Wasser- und Nahrungsmangel, ich sagte es schon. Wenn dann das Schlimmste überstanden ist, könnte es sein, dass man im Volk einen Schuldigen sucht, denn das Volk in Haiti ist heute sehr politisiert. Und dann könnte der Ruf erschallen: Aristide muss wiederkommen, der hat alles besser gemacht! Denn sein Nachfolger Préval ist nicht beliebt. Und das wiederum könnte zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führen, denn Aristide hat nicht nur die Oberschicht, sondern auch die Intellektuellen, die Studenten und so weiter heute gegen sich, weil er als Demagoge und Populist gescheitert ist.

Also, ich sehe auch mit einem Marschallplan keine Rettung für Haiti im Moment, trotzdem, das Einzige, was mir Hoffnung macht, ist das Improvisationstalent, die Kreativität, der Überlebenswillen der Bevölkerung, die auch unter unmöglichen Bedingungen weiterzuleben gelernt hat und zurechtkommen wird. Das Land ist ja überbevölkert und unterentwickelt, aber trotzdem sind die Menschen in Haiti nicht traurig oder verzweifelt, sondern lachen normalerweise. Dass ihnen jetzt das Lachen abhanden gekommen ist, zeigt, wie ernst dieses Erdbeben, dieser Schicksalsschlag ist.

Kassel: Hans Christoph Buch, Schriftsteller und sein Leben lang Haiti-Kenner in Deutschlandradio Kultur, Haiti spielt auch in Ihrem letzten Buch "Reise um die Welt in acht Nächten" eine Rolle, erschienen in der Frankfurter Verlagsanstalt. Ich danke Ihnen, dass Sie zu uns gekommen sind!