"Ich bin kein Künstler"

Ivan Nagel im Gespräch mit Joachim Scholl · 28.06.2011
Am 28. Juni feiert der langjährige Intendant und Theaterkritiker seinen 80. Geburtstag. In einem Gespräch mit Deutschlandradio Kultur erinnerte er an die großen Zeiten in den 70er und 80er Jahren - und zeigte sich skeptisch angesicht der aktuellen Theater-Entwicklung.
Joachim Scholl: Geboren 1931 in Budapest, ist Ivan Nagel als jüdisches Kind der Verhaftung und Ermordung durch die Nationalsozialisten nur knapp entronnen. Als Staatenloser kam er in die Bundesrepublik, und seit Ende der 50er-Jahre hat Ivan Nagel das deutsche Theater mit geprägt, beeinflusst, kommentiert, mit bedacht wie kaum ein Zweiter und das in einer bewundernswerten Kontinuität als Dramaturg, Intendant, Kritiker, Professor und enorm produktiver Publizist mit zahlreichen Büchern zum Theater. Längst trägt er das Bundesverdienstkreuz, heute wird er 80 Jahre alt. Willkommen zum "Radiofeuilleton", Ivan Nagel, und natürlich zuerst unseren herzlichsten Glückwunsch zum Geburtstag!

Ivan Nagel: Danke!

Scholl: Sie sind nach wie vor ein fleißiger Theatergänger, man sieht Sie regelmäßig auf Premieren, auf Theaterfestivals. Was haben Sie zuletzt gesehen?

Nagel: Jetzt bin ich etwas sparsamer geworden. Ich war zuletzt in einigen Aufführungen von Alain Platel, in einigem, was mein Freund Robert Lepage produzierte, in Tanzstücken von Sasha Waltz – also eigentlich auffallend wenig in dem deutschen Theater, mit dem man meinen Namen oder meine Arbeit verbindet.

Scholl: Viele Ihrer berühmten Altersgenossen vom Theater verziehen ja oft das Gesicht, wenn über das junge zeitgenössische deutsche Theater gesprochen wird – Sie auch?

Nagel: Nein, aus zwei Gründen: Erstens glaube ich, dass es einige sehr vernünftige und gute jüngere Regisseure gibt, die sind selber schon um die 40, zum Beispiel Jossi Wieler, von dem ich einige sehr, sehr schöne Aufführungen gesehen habe, Nicolas Stemann, von dem ich einige sehr intelligente Aufführungen gesehen habe. Meine Liste ist leider nicht sehr, sehr lang. Ich hab auch einige unbegreiflich dämliche Aufführungen auch von Klassikern gesehen, aber ich kann natürlich die große Zeit nicht in meiner Jugend, sondern später, nach der Vereinigung mit den aufregendsten Inszenierungen von Frank Castorf oder mit der Entdeckung der Schönheit, der Menschlichkeit von Christoph Marthaler nicht vergessen.

Scholl: Dass wir Sie heute überhaupt sprechen können, Ivan Nagel, dass das deutsche Theater in Ihnen solch einen engagierten Verteidiger und Förderer bekommen konnte, das soll sich einem Kindermädchen verdanken, das Sie damals in Budapest während der Nazibesetzung gerettet haben soll. Ist das wahr und wie ging das zu?

Nagel: Das kann man so sagen, ja. Das Kindermädchen, mit dem ich ja aufgewachsen bin, das mir wahrscheinlich etwas näher stand sogar als meine Mutter, hat mich dann auch in den Zeiten, wo ich dann eben unter falschem Namen in einem Kinderheim versteckt war, besucht, und irgendeine bösartige Schwester da, so eine Krankenschwester hat da gefragt: Was redet ihr euch immer so mit vertrauten Namen an? Sie sagt Patja und du sagst Muzko zu ihr, das sagt man doch nicht zu seiner Großmutter. Ich sagte, so haben wir immer miteinander gesprochen. Und das war auch wahr. Der ging nur nicht in den Kopf, dass man so ohne Ehrerbietung aus Liebe miteinander reden kann, und sie hat vermutet, dass ich ein Judenkind bin, nur hat sie halt keinen Beweis dafür gefunden. Und so habe ich es dank ihr, die auch Lebensmittel und gefälschte Lebensmittelkarten auch meinen Eltern gebracht hat, also dank ihr haben wir diese grässliche Zeit überlebt – leider anders als einige unserer engsten Verwandten, die ausgerottet wurden, die nach Auschwitz kamen.

Scholl: 1948 kamen Sie nach Deutschland, haben in Frankfurt am Main studiert, Germanistik, Philosophie und Soziologe, auch bei Theodor W. Adorno, und der war auch wiederum wichtig, dass Sie Deutschland erhalten blieben, denn Sie waren staatenlos damals. Wie hat denn Theodor W. Adorno Sie zum Deutschen machen können?

Nagel: Nein, er hat mich nicht zum Deutschen machen wollen und es auch nicht in diesem beengenden Sinn getan, sondern ich hatte französische Staatenlosenpapiere und war deshalb in Deutschland halt ein unbeliebter junger Asylant – zwar also aufgenommen sehr früh in die Studienstiftung des Deutschen Volkes, aber das hätte mir nichts geholfen, es war schon ausgemacht, an welchem Tag ich abgeschoben werde nach Frankreich, freundliches Drittland. Und da ich aber in Deutschland leben wollte, da ich bei Adorno studieren wollte – ich hab gar nicht den Mut gehabt, es ihm selbst zu sagen, aber jemand zu meinem Glück hat es ihm gesagt, und der hatte selber seine Emigrations- und Vertriebenenerfahrung ja hinter sich und hat sofort den Polizeipräsidenten in Frankfurt angerufen und so. Und die sehr unerfreulichen beiden Detektive, die immer mit einem riesigen Schäferhund mich da zu sich bestellt haben und bei denen ich wirklich nicht wissen wollte, was die also zehn oder 15 Jahre vorher gemacht haben, die sagten: Ach, da kommt unser Sorgenkind. Und damit, mit dieser Heuchelei, war also mein Bleiben in Deutschland doch positiv entschieden.

Scholl: Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit dem Kritiker, früheren Intendanten und Schriftsteller Ivan Nagel, er wird heute 80 Jahre alt. Ab 1958 beginnt Ihr Weg am und mit dem Theater, zunächst als Kritiker, dann als Dramaturg an den Münchner Kammerspielen bei Fritz Kortner. 1971 wurden Sie Intendant des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg, heute spricht man von dieser Zeit ja so als Beginn einer großartigen und großen Bühnenepoche, in der spektakuläre Karrieren auch begannen von Regisseuren, von Peter Stein, Peter Zadek, Luc Bondy und Claus Peymann. War die gesellschaftliche Bedeutung des Theaters in jener ja heute legendären Zeit der 70er-, der 80er-Jahre eigentlich größer oder sieht man das nur so in der Rückschau?

Nagel: Nein, es war, die Bedeutung von Theater war größer, zum Teil sozusagen aus traditionellen Gründen. Man hat sich daran gewöhnt, schon seit dem Kriegsende, dass Theater halt eben der wiederhergestellte Treffpunkt der bürgerlichen Eliten ist. Man hat vom Theater schon aus diesen Routinegründen, als dem angenehmsten Treffpunkt halt, ziemlich viel erwartet, aber es kam eben mit den späten 60er-Jahren und mit einigen großen Figuren – unter dem alten Fritz Kortner unter den jungen Peter Stein – ein neuer Wille und eine neue Forderung rein, und das Publikum, das heißt, die Menschen, die sich für Kunst und Kultur interessierten, haben das erstaunlich schnell aufgenommen. Das heißt, man ging wirklich mit der Erwartung ins Theater, dass man als ein anderer, als ein Belehrter, als ein Reicherer rauskommen wird als der, der drei Stunden vorher reingegangen ist. Und das ist eine große Erwartung. Allerdings, ohne die große Erwartung ist das Theater nichtig, wird das Theater leer und uninteressant und ein Getändel, das eigentlich keinen wirklich richtig interessiert. Zum Glück – und da bin ich sehr stolz darauf, auch wirklich etwas beigetragen zu haben – gab es noch nach der Wiedervereinigung eine Periode von außerordentlichem Willen und neuen Farben und neuem Leben im Theater, in der Volksbühne von Frank Castorf und Christoph Marthaler. In der Wildheit von Castorf und in der unsäglichen wunderbaren Menschlichkeit von Christoph Marthaler hat man da tatsächlich, was man gar nicht mehr geahnt, was man gar nicht gehofft hatte, wirklich Menschliches neu gelernt. Diese Welle scheint auch zum großen Teil vorbei zu sein. Trotzdem, es gibt eben zwei oder drei jüngere Regisseure um die 40, denen ich wirklich traue – Jossi Wieler, Nicolas Stemann –, die zum Beispiel mit der großen und seltsamen Autorin Elfriede Jelinek herrliche Aufführungen zustande gebracht haben.

Scholl: In Ihrem Buch "Drama und Theater" schreiben Sie bescheiden, Herr Nagel: "Ich spielte nicht, inszenierte nicht, dichtete kein Stück. Nie maßte ich mir an, Künstler zu sein." Warum eigentlich nicht?

Nagel: Ich bin ein völlig unbegabter Schauspieler, das habe ich mit fünf schon entdeckt. Da wurde ich auf die Bühne rausgestoßen und konnte kein einziges Wort, und die wenigen Worte, die mir da einfielen von meiner Rolle, die habe ich schlecht dargestellt. Diese Versuchung ist nie auf mich zugekommen. Ich bin kein Künstler, was Theater betrifft, ich habe, glaube ich – und darüber bin ich sehr glücklich –, die Gabe, Künstler, deren Größe, das heißt deren Eindringen ins Menschliche wahrzunehmen, sowohl bei Schauspielern als auch bei Regisseuren, und ich war zu meinem Glück in der Lage, einige der Besten zu fördern, für die etwas zu tun, denen zu dienen, denen zu danken, sagen wir es mal ganz geradeaus. Die haben nicht mir was zu verdanken, sondern umgekehrt. Mein ganzes Schreiben über Theater, aber auch meine Theaterarbeit ist nichts anderes als Danken denen, von denen ich erfahren habe, wie groß und wie entscheidend Theaterleben sein kann, Theater, das mir etwas von Menschen lehrt, das ich vorher nicht wusste.

Scholl: Alles Gute Ihnen, Ivan Nagel, zu Ihrem Geburtstag und für Ihren weiteren Lebensweg, und Ihnen jetzt erst mal einen wunderschönen Tag und herzlichen Dank für das Gespräch auch!

Nagel: Ich danke Ihnen.
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