Ibsens Nationalepos

Von Eberhard Spreng · 24.02.2006
Henrik Ibsens Einblicke in die verlogene Welt des Bürgertums haben eine ungebrochene Anziehungskraft für Theaterregisseure. Seinem Nationalepos "Peer Gynt" kommt hierbei eine besondere Rolle zu. Erst Jahre nach der Veröffentlichung des Gedichts wurde die Theaterversion im Christiania-Theater in Oslo uraufgeführt, am 24. Februar 1876.
In Rom hatte Ibsen den ersten Teil des "Peer Gynt" abgeschlossen; und nun war er im Frühjahr 1867 mit seiner Familie nach Casamícciola auf der Insel Ischia gefahren und hatte sich in der Villa Písani einquartiert, von wo er in die Weinberge blicken konnte, die zum Meer hin abfielen. Hier schrieb er weiter an seinem Opus Magnum, machte Wanderungen und dachte an seine Heimat im Norden.

"Wie das Leben dort oben vor mir steht, hat es etwas unbeschreiblich Drückendes, es lähmt den Geist und den Willen; das ist der Fluch der kleinen Verhältnisse, dass sie die Seelen klein machen."

Es ist diese Welt des Nordens, der die Hauptfigur des Textes, an dem Ibsen arbeitete, entfloh. Ebenso wie sein Autor. Peer Gynt sollte zur Figur des weltlichen Abenteurers werden. Erst kurz vorher hatte Ibsen, der Sohn eines verarmten Kaufmanns, am Theater in Bergen und in Cgistiania, dem heutigen Oslo gearbeitet, als Autor aber mit "Brand" einen ersten großen literarischen Erfolg erzielt und nun ein staatliches Autoren-Stipendium erhalten.

Mit "Peer Gynt" schrieb er quasi die weltliche Entsprechung zur spirituellen, zur inneren Seelenreise in "Brand". Seinem Verleger Frederik Hegel hatte er versprochen:

"Schließlich muss ich Ihnen berichten, dass meine neue Arbeit voll im Gange ist und, wenn alles gut geht, früh im Sommer fertig sein wird. Daraus entsteht ein großes, dramatisches Gedicht, dessen Hauptfigur eine halb mythische, halb abenteuerliche Gestalt des norwegischen Volkes der neueren Zeit ist."

Peer Gynt wird ein Verkaufserfolg. Nur die Kritik des einflussreichen Dänen Clemens Petersen, der Ibsen "Gedankenschwindelei" und Poesielosigkeit vorwirft, traf den Autor hart. Er klagte in einem Brief vom 9. Dezember 1867.

"Halte mich nicht für einen blinden, eitlen Narren! Glaub mir, dass ich in stillen Stunden ganz artig in meinen Eingeweiden herumwühle, sondiere und analysiere. Mein Buch ist Poesie; und wenn nicht, so wird es das werden. In unserem Land, in Norwegen, soll der Begriff Poesie sich nach dem Buch richten."

Erst nach der Veröffentlichung des dramatischen Gedichts, das in der Wahrnehmung schnell zum panskandinavischen Epos über den negativen Helden, Fantasten und Illusionisten werden sollte, reifte in Ibsen auch der Gedanke an eine Theaterversion. Mit "Peer, Du lügst", dem Ausspruch der Mutter, beginnt das Stück. Peer Gynt ist ein wankelmütiger Liebhaber verschuldet so den Tod einer jungen Frau, und flieht vor seiner Verantwortung in eine Traumwelt. Der egoistische Hasardeur und Afrikareisende macht sogar Karriere als Sklavenhändler, bevor er schließlich, nach einem Aufenthalt in einer Kairoer Irrenanstalt, als armer alter Mann in den engen Norden zurückkehrt, wo ihm der "Knopfgießer", eine allegorische Figur für die höhere Gerechtigkeit, die Nutzlosigkeit seines Leben vorführt.

Knopfgießer: "Du warst nun gedacht als ein blinkender Knopf auf der Weste der Welt; doch die Öse misslang. So musst du denn Freund in den Ausschusstopf - und nimmst wieder in der Masse deinen Gang."

Peer: "Du planst doch nicht etwa aus mir zum Schluss samt Peter und Paul einen neuen Guss?"

Was heute aus den Spielplänen der großen europäischen Theater nicht mehr wegzudenken ist, sollte nach dem Willen des Autor allerdings eigentlich Musiktheater werden: Aus Dresden hatte Ibsen Edward Grieg in einem Brief vom Anfang 1874 darum gebeten, die "nötige Musik" zu einem "musikalischen Drama" zu komponieren.

Eine eklatante Nicht-Verständigung belastete allerdings die Arbeit, die der bekannte norwegische Autor dem berühmtesten norwegischen Komponisten antrug. Grieg arbeitete eher widerwillig und mehr aus finanzieller Not an dem Projekt, irgendwie wollten Musik und Drama nicht so recht zusammenpassen. Und doch: Die Uraufführung im Christiania-Theater im heutigen Oslo, die am 24. Februar 1876 stattfand, wurde ein Erfolg.

Von nun an aber machten die von Grieg wenig später umgearbeitete Schauspielmusik und das Drama getrennte Karrieren: Erstere als Orchestersuiten im Konzertsaal, letztere auf den Sprechbühnen. Eine Oper von Werner Egk von 1938 bediente sich recht frei der literarischen Vorlage; Choreografien wie zum Beispiel das Handlungsballett von Richard Wherlock aus dem Jahr 2003 zeigen die ungebrochene Wirkung des Stoffes. Dass mit "Peer Gynt" eine ironische Abrechnung mit dem national-romantischen Pathos der Norweger gemeint war, verlor dabei rasch an Bedeutung. Man sah vor allem die Lebensgeschichte eines unsteten Abenteurers. Ibsens Peer Gynt hat Regisseure immer wieder interessiert. Als theatermächtigen Bilderbogen oder als düsteren Raum eines mit Wirklichkeiten spielerisch zappenden Gehirns hat man das Stück gesehen, und von Mal zu Mal wurde die Titelgestalt immer mehr zu einem nordischen Verwandten von Shakespeares Hamlet und Goethes Faust.