Ian Buruma: "Ihr gelobtes Land"

Nazideutschland hassen - aber nicht die Deutschen

Der niederländisch-britische Journalist, Autor und Dozent Ian Buruma
Der niederländisch-britische Journalist, Autor und Dozent Ian Buruma © Imago/ ZUMA Press
Moderation: Dieter Kassel · 22.03.2017
Der Journalist und Autor Ian Buruma hat ein Buch über seine Großeltern geschrieben, die als Kinder deutsch-jüdischer Eltern in England aufwuchsen. Buruma erzählt, wie es ihnen gelang, Nazideutschland abzulehnen, ohne ihre europäische Identität zu verleugnen.
Was ist eine nationale Identität, wie nimmt man sie als Individuum an? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der niederländisch-britische Journalist, Autor und Dozent Ian Buruma in seinem neuesten Buch auf sehr persönliche und familiäre Art und Weise.
In "Gelobtes Land" erzählt er die Geschichte seiner Großeltern, Winifred und Bernhard Schlesinger, die beide als Kinder deutsch-jüdischer Eltern in England aufwuchsen und sich erfolgreich bemühten, britischer zu sein als die meisten Briten.
Zugleich hatten sie aber auch eine europäische Identität - und liebten Wagner. Die Nazi-Gräuel hielten sie nicht davon ab, nach dem Zweiten Weltkrieg nach Bayreuth zu fahren.
Seine Großeltern hätten Anfang der 1940er Jahre Nazideutschland sicherlich als Land gehasst, sagte Buruma im Deutschlandradio Kultur - aber diesen Hass niemals "auf die persönliche Ebene ausgedehnt". Weihnachten 1945 luden sie zwei deutsche Kriegsgefangene aus einem Lager ein, mit ihnen zu feiern. Seine Großeltern hätten sich auf ihrem Weg zu überzeugten Europäern nicht vom Zweiten Weltkrieg abbringen lassen, so der Autor.
Buruma selbst wurde 1951 in Den Haag als Sohn eines niederländischen Vaters und einer britischen Mutter geboren. Er ist in Holland aufgewachsen, lebt zur Zeit in New York und hat viel Zeit in Ost-Asien verbracht, vor allem in Japan. Er hat jede Menge Bücher geschrieben: Als Autor hat er sich vor allem mit Asien, dem Zweiten Weltkrieg und den Niederlande beschäftigt. (ahe)


Das Gespräch im Wortlaut:

Dieter Kassel: Ian Buruma wurde 1951 in Den Haag geboren in den Niederlanden als Sohn eines holländischen Vaters und einer britischen Mutter, ist dort aufgewachsen, hat dann lange in Japan gelebt und lebt jetzt in New York. Er unterrichtet dort an einer Hochschule, und er hat Bücher geschrieben über ganz unterschiedliche Themen, über Ostasien, über das Weiterleben nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, zuletzt auch ein relativ spektakuläres Buch über die Ablehnung und den Hass gegenüber westlicher Lebensweise und westlichen Gesellschaften, wie er in weiten Teilen der Welt inzwischen existiert.
Das neueste Buch von Ian Buruma, das aber beschäftigt sich mit einem anderen Thema. Er beschreibt da nämlich das Leben seiner Großeltern, einer Frau und einem Mann, die beide Väter hatten, jüdische Väter, die aus Deutschland kamen, die aber in Großbritannien geboren und aufgewachsen sind. Und Ian Buruma beschreibt, wie er selber als kleiner Junge in den 50er- und 60er-Jahren immer ins ländliche England fuhr, um dort mit diesen Großeltern Weihnachten zu feiern, und ich hab ihn deshalb als Erstes gefragt, ob ihm diese beiden damals so als die archetypischen Briten vorgekommen seien.
Ian Buruma: Nun, es erschien mir natürlich damals so, als seien sie ganz typisch Englisch. Und hätte ich sie noch in den 1910er-Jahren oder 1920er-Jahren vielleicht sehen können oder hätte man sie damals gesehen, wären sie einem vielleicht typisch deutsch vorgekommen in der Art und Weise, wie sie Weihnachten feiern. Aber auf mich wirkte das sehr britisch.

Fontane sagte: Meine Lieblingsleser sind alle jüdisch

Was ich damit eigentlich nur ausdrücken möchte, ist, dass meine Großeltern sich sehr britisch benahmen, aber vielleicht dann so britisch waren wie Walter Rathenau deutsch und deutsche Juden, die in Deutschland lebten, fühlten sich genauso deutsch vor dem Zweiten Weltkrieg, wie sich dann meine Großeltern in England britisch gefühlt haben. Es gibt ja diesen Ausspruch beispielsweise von Fontane, dass er gesagt hat, meine Lieblingsleser sind alle jüdisch, und genauso war es auch so, dass Wagner unter deutschen Juden sehr viele Anhänger hatte, die seine Musik sehr goutierten.
Kassel: Unter anderem auch Ihre Großeltern, das beschreiben Sie ja in dem Roman. Aber kommen wir vielleicht zur Frage der Kultur und der Musik in diesem Leben, in dieser Ehe später. Sie haben gerade, Herr Buruma, ein Wort relativ beiläufig sogar benutzt, das heute sehr umstritten ist, Assimilierung nämlich. Wir haben ja heute diesen großen Unterschied. Viele sagen, Integration ja, wenn jemand in ein neues Land kommt, Assimilierung, Assimilation nicht. Hätten Ihre Großeltern dem vermutlich widersprochen? War für die Assimilierung gar kein negativer Begriff?
Buruma: Also das glaube ich eigentlich nicht, weil zu integrieren bedeutet ja, dass man eigentlich noch eine andere Kultur in sich trägt, die man bewahrt hat, aber trotzdem der neuen Heimat gegenüber loyal geblieben ist. Sicher hatten meine Großeltern noch deutsche Einflüsse, beispielsweise ihre Liebe zur klassischen Musik, das war ihnen sehr wichtig. Aber sie haben sich in erster Linie als britisch angesehen, genauso wie sich deutsche Juden vor dem Zweiten Weltkrieg, wohlgemerkt, eben in erster Linie als Deutsche gesehen haben.
Kassel: Wissen Sie, was mich an dem Leben Ihrer Großeltern, so, wie Sie es in Ihrem Buch beschreiben, fast gleichzeitig glücklich gemacht hat, aber auch sehr irritiert: Ich habe das Gefühl gehabt, dass diese beiden Menschen es geschafft haben, obwohl sie in einer Zeit gelebt haben, in der sie selber sehr viel Hass erlebt haben müssen, weil es sehr viel Hass gab zu ihrer Zeit, sie haben beide als junge Menschen den Ersten Weltkrieg erlebt und später dann schon als Ehepaar den Zweiten Weltkrieg.
Ich habe das Gefühl gehabt, dass es Ihre Großeltern geschafft haben, ihr Leben lang selber nicht zu hassen. Sie haben niemanden gehasst. Es gibt auch ein paar Geschichten, die Sie in Ihrem Buch beschreiben, auf die wir vielleicht noch kommen können, woran man das deutlich merkt, aber ist das auch ein Gefühl, das Sie haben, auch bei den Briefen, die Sie später lesen konnten, dass diese Menschen bei diesem Leben es geschafft haben, selber niemals Hass in ihr Leben zu lassen?

Weihnachten 1945 mit zwei deutschen Kriegsgefangenen

Buruma: Das ist wahrscheinlich wahr, Ihre Beobachtung. Allerdings glaube ich, dass während des Zweiten Weltkriegs, dass sie da schon sehr starke antideutsche Gefühle hatten in Bezug auf Deutschland als Land, nicht auf die Menschen. Und ich habe das ja auch beschrieben, beim ersten Weihnachten nach Ende des Zweiten Weltkriegs haben sie ja zwei deutsche Kriegsgefangene, die sich damals noch in einem Lager befanden, eingeladen, um mit ihnen zu feiern. Das heißt, Sie haben diesen Hass niemals auf eine persönliche Ebene ausgedehnt, aber ich denke schon, dass sie in den 40er-Jahren also Nazi-Deutschland als Land durchaus gehasst haben. Aber wie gesagt, persönlich haben Sie Recht, da haben sie nicht gehasst.
Kassel: Wie ging es dann eigentlich weiter? Ihre Großeltern haben ja noch eine Weile gelebt nach dem Zweiten Weltkrieg. Was für ein Verhältnis hatten die beiden dann eigentlich später zu Deutschland, zu Europa, zu diesem Kontinent, der es ja immerhin bis heute geschafft hat, dann in Frieden zusammenzuleben? Was für eine Einstellung hatten Ihre Großeltern dazu?
Buruma: Meine Großeltern waren überzeugte Briten, und trotzdem waren sie auch Europäer. Sie sind sehr viel gereist, sie waren in Belgien, in Frankreich, in den Niederlanden, auch in Deutschland, und sie haben es nicht zugelassen, dass das, was durch den Zweiten Weltkrieg passiert ist, sie auf ihrem Weg, Europäer zu sein, irgendwie von diesem Weg abgebracht hätte. Und es gibt auch wieder eine höchst interessante Geschichte, die ich, wie gesagt, den Briefen entnommen habe, aber die mir durchaus noch bewusst war, das hatte ich als Kind sehr wohl wahrgenommen: Meine Großeltern liebten Wagner, und diese Liebe zu Wagner ging sogar so weit, dass sie nach dem Zweiten Weltkrieg, bei den ersten Bayreuther Festspielen, da ist die gesamte Familie hingefahren, obwohl Winifred Wagner eigentlich überzeugte Nazi war. Trotzdem hat sie das nicht daran gehindert, eben Wagner zu lieben und dann auch wirklich in Bayreuth vor Ort zu sein.
Kassel: Es ist interessant, was man vielleicht aus dieser Geschichte Ihrer Großeltern, auch aus dem, was Sie gerade jetzt gesagt haben, lernen kann, denn es gibt ja in Europa, in den Niederlanden zum Beispiel, in Deutschland, in Großbritannien nicht zuletzt auch eine große Diskussion darüber, ob das eigentlich geht, ob man gleichzeitig im positiven Sinne eine Art Nationalist sein kann, also jemand, der wirklich stolz ist auf sein Heimatland, der da gerne lebt, gleichzeitig aber auch ein Europäer und ein Weltbürger. Immer mehr Leute in Europa sagen ja, das geht eigentlich nicht. Deshalb auch die große Krise der Europäischen Union. Haben in Ihren Augen schon Ihre Großeltern bewiesen, doch, das geht, man kann überzeugter Brite sein und trotzdem Europäer und Weltbürger.

Briten, Europäer und Weltbürger zugleich

Buruma: Also ich glaube durchaus, dass das möglich ist. Es hängt aber doch auch wieder sehr stark von dem Grad von Bildung und auch von der sozialen Klasse ab, in der man aufgewachsen ist. Also alle, die sich sehr für die europäische Einheit eingesetzt haben, waren natürlich sehr gebildete Menschen und haben natürlich auch von dieser Kosmopolität profitiert. Und man kann natürlich sagen, dass heutzutage die, die sich allein gelassen fühlen, die, die sich als Verlierer fühlen, dass die sehr viel empfänglicher für Nationalismus sind oder eben für Populisten, aber meine Großeltern waren eben überzeugte Europäer und haben von dieser Kosmopolität eben auch sehr profitiert.
Kassel: Wir können leider wirklich nicht alles besprechen, was mir noch beim Lesen dieses Buches durch den Kopf gegangen ist. Ich kann nur allen empfehlen, es selbst zu lesen. Ich würde Ihnen aber gern zum Schluss auch eine Frage stellen, die gar nichts mit Ihren Großeltern zu tun hat, eher eine persönliche Frage: Sie sind selbst in den Niederlanden geboren und aufgewachsen, mit von Anfang an engen familiären Bindungen an Großbritannien. Sie haben dann selber eine ganze Weile in Ostasien gelebt, in Japan. Sie leben jetzt in New York. Wie sehen Sie sich eigentlich selbst? Als Niederländer, als so eine Art Anglo-Niederländer, als Europäer oder doch eher als Weltbürger?
Buruma: Vielleicht all diese Dinge zusammen. Ich sehe darin auch keinen wirklichen Widerspruch, auch wenn ich mich vielleicht zurzeit nicht so wohl fühle, was mein Mutterland oder das Land meiner Mutter angeht, nämlich Großbritannien. Aber ich denke, dass all diese Einflüsse, die ich da gehabt habe, das hat schon dazu beigetragen, dass ich das als ein großes Ganzes sehe. So ist es.
Kassel: So ist es, da hat er jetzt kurz auch noch mal Deutsch gesprochen am Schluss, Ian Buruma. Was er eigentlich auch sehr gut kann, aber das Interview hat er lieber in englischer Sprache geführt, und übersetzt hat es für uns Jörg Taszman. Das Buch von Ian Buruma, "Ihr gelobtes Land", die Geschichte seiner Großeltern, ist in deutscher Übersetzung gerade im Hanser-Verlag erschienen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Ian Buruma: Ihr gelobtes Land. Die Geschichte meiner Großeltern
Carl Hanser Verlag, München 2017
272 Seiten, 24,00 Euro

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