Hybrid-Roman "54"

Sehr originell und sehr komisch

Ende der 50er Jahre in New York: Eine Veranstaltung gegen den Kommunismus weltweit
Während der McCarthy-Ära in den 50er-Jahren in New York: eine Veranstaltung gegen den Kommunismus weltweit © AFP
Von Thomas Wörtche · 19.06.2015
Aus dem, was 1954 passiert ist und was vielleicht hätte passieren können, baut das italienische Autoren-Kollektiv Wu Ming den extrem spannenden Hybrid-Roman "54": eine hoch vergnügliche, teilweise robuste Mischung aus Spionage-, Kriminal- und Abenteuer-Roman.
Viele Dinge sind im Jahr 1954 passiert: Die Franzosen kassieren im Indochina-Krieg ihre entscheidende militärische Niederlage bei Dien Bien Phu, Jugoslawien bricht mit der Sowjetunion, aus der stalinistischen Tscheka wird der KGB, Triest wird endgültig Italien zugeschlagen, der "Kommunistenjäger" Joseph McCarthy wird entmachtet, Alfred Hitchcock dreht "Über den Dächern von Nizza" mit Cary Grant und Grace Kelly. Der in Italien exilierte US-Mafioso Lucky Luciano beginnt – Stichwort "French Connection" – neue Heroin-Routen via Marseille aufzubauen. Italien erlebt einen Rechtsruck, der Einfluss der Kommunisten wird erheblich beschnitten. Deutschland wird Fußballweltmeister.
Viele Dinge hätten 1954 passieren können. Zum Beispiel: Cary Grant wird vom britischen Geheimdienst in einer Nacht- und Nebelaktion angeworben, um in einem Propaganda-Film über Tito mitzuspielen, der damit dem Westen gewogen gestimmt werden soll. Er trifft mit Tito zusammen, die beiden versichern sich stolz ihrer proletarischen Wurzeln und stimmen herzinniglich überein, dass Eleganz und Stil zu den Essentials für soziale Aufsteiger gehören.
Der Sohn macht sich illegal nach Jugoslawien auf
Wenig später irrt Grant an einem verlassenen Strand in Dalmatien umher und entgeht knapp einem Entführungsversuch des KGB. Dieser Geheimdienst implantiert zwei Schwachköpfe in der Nähe des vietnamesischen Kaisers Bao Dai, der im Casino von Nizza Unsummen verzockt. Lucky Luciano hat Ärger mit seiner rechten Hand, Steve Cemento, einem Spezialisten für "Zementschuhe", der Heroin für sich selbst abzweigt, das in einem Fernseher namens McGuffin gebunkert ist und in der Bar Aurora in Bologna landet. Diese Bar wird von zwei Brüdern betrieben, deren Vater als Partisan auf der jugoslawischen Seite gekämpft und in die Tito'schen Säuberungen geraten ist. Der eine Sohn macht sich illegal nach Jugoslawien auf, um den Vater zu suchen.
Aus dem, was 1954 passiert ist und was vielleicht hätte passieren können, baut das italienische Autoren-Kollektiv Wu Ming den extrem spannenden Hybrid-Roman "54": eine hoch vergnügliche, teilweise robuste Mischung aus Spionage-, Kriminal- und Abenteuer-Roman mit einem Schuss "alternative history". Wu Ming ist ein Projekt der "Kommunikationsguerilla", übersetzbar als "fünf Namen". Fünf Autoren mit unterschiedlichen Stimmen, die in dem Roman zu einem Riesenpanorama zusammenfließen, wobei man nie sicher sein kann, wer gerade spricht. Die Perspektiven wechseln, Ich-Erzähler, Montage, politisches Pamphlet (vor allem über die Geschichte der "undogmatischen Linken", wie man später sagen würde.
Action, Anekdotisches, Groteskes und Bizarres fügen sich zu einem originellen, sehr komischen mit Verweisen und Anspielungen, Zitaten und Bezügen gespickten Roman. Das hört sich sperriger und widerborstiger an als es dann bei der Lektüre tatsächlich ist. Ein intelligenter und blendender Beweis dafür, dass vermeintliche Erzählkonventionen nicht das Maß aller Dinge sind. Denn genauso spannend, wie die verschiedenen Handlungsstränge im Einzelnen sind, so sehr macht es Freude und Spaß, wie Wu Ming Realitäten und Fiktionen verzwirbeln. Geschichte und Narrative geraten in Bewegung, ihre gegenseitige Durchdringung schafft kreative Unsicherheit. Der Verlag Assoziation A verspricht eine Wu- Ming-Werkausgabe, ein Großprojekt, auf das man sich freuen darf.

Wu Ming: "54"
Aus dem Italienischen von Klaus-Peter Arnold
Assoziation A, Berlin / Hamburg 2015.
528 Seiten, 24,80 Euro