Horror-Roman

Gedankenwelt eines Ungeheuers

Eine Häuserfassade in München
In "Haus der Stummen" experimentiert Hobby-Forscher Luke an lebenden Menschen und wird dabei zum Mörder. © dpa / picture alliance / Peter Kneffel
Von Sigrid Löffler · 09.09.2014
Mit 17-jähriger Verspätung ist jetzt der Debütroman des schottischen Autors John Burnside auf Deutsch erschienen. In "Haus der Stummen" zeigt sich Burnside bereits ganz auf der Höhe seiner morbiden Kunst.
Dank der merkwürdig unchronologischen Publikationspolitik seines deutschen Verlages erscheint "Haus der Stummen", der Debütroman des schottischen Erzählers und Lyrikers John Burnside aus dem Jahr 1997, erst jetzt, nachdem der Autor als ein Meister des Unheimlichen und Abgründigen mit seinen späteren Romanen ("Glister", "In hellen Sommernächten") und vor allem mit seiner Autobiografie "Lügen über meinen Vater" beim deutschsprachigen Publikum längst durchgesetzt ist. Jetzt begegnen wir also, mit 17-jähriger Verspätung, an Hand von Burnsides Erstling dem Anfang einer großen Erzähler-Karriere, deren weitere Entwicklung wir bereits kennen.
In "Haus der Stummen" zeigt sich Burnside bereits ganz auf der Höhe seiner kühlen morbiden Kunst. Vom ersten Satz an zieht er den Leser in einen unguten Bann, indem er einen Psychopathen namens Luke zu seiner Erzählerstimme macht und ihn im sachlichen Ton des Naturforschers von seinen mörderischen Tier- und Menschenexperimenten berichten lässt.
Luke ist ein offenbar autodidaktisch gebildeter philosophischer Kopf, der vom Forscherdrang eines Renaissance-Menschen getrieben ist und dessen geistige Landschaft sich zwischen den Polen Leonardo da Vinci und Norman Bates verorten lässt. Von Kindesbeinen an ist Luke - "Psycho" lässt grüßen - in ungesunder Weise auf seine dominante Mutter fixiert. Nach ihrem Tod beginnt der allein lebende Sonderling in seinem einsamen Haus im ländlichen England die Ideen und Theorien seiner Mutter über den Sitz der Seele und der Zusammenhang von Seele und Sprache in Experimenten an lebenden Menschen zu überprüfen, als wären sie Labortiere.
Inspiriert hat ihn Mutters Erzählung über den Mogulherrscher Akbar, der Neugeborene von jedem Kontakt mit sprechenden Menschen isolierte und sie von stummen Ammen aufziehen ließ, um herauszufinden, ob Sprache angeboren oder erlernt ist. Dieses Experiment will der Hobby-Forscher Luke nun im häuslichen Rahmen wiederholen. Dass er dabei zum mehrfachen Mörder wird, beunruhigt ihn kaum.
Wahnsinn im Gestus kühler Rationalität
Eine obdachlose junge Streunerin, die Luke bei sich aufgenommen und geschwängert hat, bringt Zwillinge zur Welt und stirbt an der Geburt. Luke isoliert die Babies in einem Kellerraum, fern dem Klang jeder menschlichen Stimme, und beobachtet als schweigender und maskierter Wärter ihr Verhalten. Im Lauf der Monate muss er die Zweischneidigkeit dieses Experiments erkennen. Er kommt zur "Einsicht, dass ich es war, den man ins Haus der Stummen gesperrt hatte". Dies umso mehr, als die Zwillinge einen eigentümlichen Singsang entwickeln, in dem sie miteinander kommunizieren. In seiner Gegenwart verstummen sie.
Luke versteht ihre Sprache jenseits der Sprache nicht, fühlt sich ausgeschlossen und verhöhnt. Er kann "in ihre Klangfestung nicht eindringen". Er fantasiert, sie hätten sich bösartig gegen ihn verschworen, und beschließt, ihre Macht zu brechen: Er durchschneidet ihnen die Stimmbänder. Das Experiment ist gescheitert, doch Luke macht bereits Anstalten, es mit einer anderen Frau und einem anderen Baby zu wiederholen.
John Burnside lässt Luke seine Untaten im klinisch distanzierten Tonfall eines umsichtig und erfindungsreich vorgehenden Naturwissenschaftlers berichten. Der Schock für den Leser besteht darin, dass Lukes Wahnsinn im Gestus kühler Rationalität vorgetragen wird. Seine Leitbegriffe lauten: Ordnung. Ritual. Eleganz. Seine Grausamkeiten wirken umso beklemmender, als ihre Amoral innerhalb der Handlungslogik eines durchdachten Laborversuchs nur als folgerichtig erscheint.
Gegen seinen Willen fühlt sich der Leser in die monströse Gedankenwelt eines Ungeheuers hineingezogen, das beredsam von den mysteriösen Schönheiten des Leibesinneren schwärmen kann, die sein Skalpell freilegt, und jederzeit auf die Ordnung und Eleganz seiner blutigen Rituale achtet. Das macht John Burnsides Horror-Roman zu einer schrecklich bezwingenden Lektüre.

John Burnside: "Haus der Stummen"
Aus dem Englischen von Bernhard Robben
Knaus Verlag, München 2014
253 Seiten, 19,99 Euro

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