Horror der großen Zahl

Von Hilal Sezgin · 20.08.2010
Ein bisschen sah es aus wie auf einem Abenteuerspielplatz: Die Aktivisten hatten Holzhütten errichtet und zehn Meter hohe Gerüste, an denen Plakate hingen mit Sprüchen wie "Fleisch ist Mord" oder "Weil Menschen denken, dass Tiere nicht fühlen, müssen Tiere fühlen, dass Menschen nicht denken." Die meisten dieser jungen Leute sind Veganer, sie essen also keinerlei Produkte vom Tier, und jeden Sonntag luden sie die Bewohner von Wietze zum veganen Kuchenessen ein.
An diesem Kuchen wird es nicht gelegen haben – aber als vor Kurzem zwei Hundertschaften Polizei anrückten, um das Protestcamp zu räumen, versammelten sich etliche Bewohner von Wietze an der Absperrung und schauten mit Tränen in den Augen hinüber. Diese Anwohner haben längst eine Bürgerinitiative gegen den Bau des Schlachthofs gegründet. Auf ihrer Website zeigen sie Bilder von kleinen Gruppen glücklicher Hühner; sie rechnen vor, wie viel Abwasser ein solcher Schlachthof produziert; wie viele Lkws täglich die Hähnchen anliefern und die Luft verpesten würden. 400 zusätzliche Hähnchenmastanlagen müssten gebaut werden, um die künftigen Schlachttiere überhaupt erst zu produzieren. Pro Jahr könnten in Wietze dann mehr als 130 Millionen Tiere geschlachtet werden. Auch was das bedeutet, haben die Gegner ausgerechnet: 2.592000 Tiere in der Woche; 432.000 am Tag; 27.000 in einer Stunde.

Kann man sich das vorstellen: 27.000 Schlachtungen in einer Stunde? 27.000 Tiere kommen in eine Kohlendioxidkammer hinein und auf Bändern wieder heraus, werden an den Beinen aufgehängt und fahren in den industriellen Tod. Außer den veganen Besetzern essen die meisten Mitglieder der Bürgerinitiative in Wietze Fleisch. Es ist nicht der Tod an sich, der sie entsetzt, sondern das Industrielle, die großen Zahlen. Das Bewusstsein, dass, wo so viele Tiere im Akkord verarbeitet werden, auch viele Fehler gemacht werden und es zu schrecklichen Grausamkeiten kommt.

Auch wenn man gänzlich Unbeteiligten von diesem Mega-Schlachthof erzählt, reagieren sie mit Entsetzen. Die Millionenzahlen führen einem vor Augen, dass etwas falsch ist an dieser industriellen Züchtung, Aufzucht und Schlachtung von Tieren. Auch wer selbst Fleisch isst, findet doch meist die Art, wie es produziert wird, nicht akzeptabel. Wer an einem Schweinetransporter vorbeifährt und sieht, wie sich die Rüssel der Tiere gegen die Lüftungsschlitze pressen, empfindet oft Bedauern. Doch später empfindet er kaum Bedauern angesichts der daraus hergestellten Wurst ...

Letztlich hängen die meisten Menschen, insgeheim, immer noch einer sehr romantischen Vorstellung ihrer tierischen Nahrungsmittel an. Fleisch ist ein Stück Lebenskraft. Kein Tag ohne Milch, denn: Die Milch macht's! Auf der Eierpackung ein Dutzend Hühner mit krähendem Hahn und Morgensonne im Hintergrund. Wenn ein Reporterteam einmal einen Skandal in einer Hähnchenmast aufdeckt und filmt, wie Arbeiter lebende Tiere gegen die Wand schleudern, wie schwerverletzte Tiere hilflos um sich selbst kreiseln, werden halt ein paar Wochen lang weniger Hähnchen von dieser, sondern von einer anderen Firma gekauft.

Aus dieser Illusion müssen wir aufwachen, endgültig. Es ist eben nicht so, dass das, was wir nicht direkt sehen, auch in Ordnung ist. Viel wahrscheinlicher ist, dass es vor unseren Augen verborgen wird, weil wir es nicht in Ordnung fänden. Hinter genau der tierischen Nahrung, die wir zu uns nehmen, stehen all diese Gräuel, von denen wir hin und wieder aus den Medien erfahren: Qualzuchten, Euterentzündung der Milchkühe, abgebissene Schwänze, Enge in den Ställen, Panik im Tiertransporter, Fließbandschlachten. Unmengen von Gülle, Antibiotika im Dauereinsatz, Futtermittel, die von Menschen in anderen Teilen der Welt dringend benötigt würden.

Der Mensch hat die erstaunliche Fähigkeit, Dinge, von denen er weiß und die ihm unangenehm sind, wieder in den Hintergrund zu schieben und zu vergessen. Er hat aber auch die Möglichkeit, sie im Bewusstsein wach zu halten. Er kann die Entscheidung treffen, sich nicht zum tausendsten Mal wider besseres Wissen von den Bildern auf der Milchpackung und dem grinsenden Schwein an der Wursttheke veralbern zu lassen. Wir haben die Freiheit, Konsequenzen zu ziehen.


Hilal Sezgin, Schriftstellerin und Journalistin, studierte Philosophie in Frankfurt am Main und arbeitete danach mehrere Jahre in der Feuilletonredaktion der "Frankfurter Rundschau". Seit 2007 lebt sie als freie Schriftstellerin und Journalistin in der Lüneburger Heide, wo sie auch einen Gnadenhof für Schafe und Hühner unterhält. In Buchform erschien von ihr zuletzt der Roman "Mihriban pfeift auf Gott", DuMont Buchverlag 2010.
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