Honoré de Balzac

Ein düsteres Bild gezeichnet

Bleilettern stehen im Museum für Druckkunst Leipzig (Sachsen) in einem Setzkasten
Das Zeitungsgewerbe ist bei Balzac stark im Wandel - ein bisschen wie heute, was die erneute Lektüre des Klassikers so wertvoll macht. © dpa / picture alliance / Hendrik Schmidt
Von Maike Albath · 15.12.2014
Balzacs "Verlorene Illusionen" ist ein Klassiker, den man jetzt aber in einer neuen Übersetzung ganz neu entdecken kann. Und das lohnt sich - das Buch erweist sich als überraschend aktuell.
Er ist der Mann der Stunde, dieser junge, begabte, hübsche Lucien! Sein Provinzlertum und die übertriebene Sehnsucht nach Geistestiefe und einem großen literarischen Werk legt er genau im richtigen Moment ab, und im Handumdrehen wird er zum gefragtesten Feuilletonisten von ganz Paris. Hier eine Theaterkritik, dort eine geschliffene Polemik, Lob und Tadel, Artikel um Artikel, im Eiltempo produziert. Es ist eine Wonne und außerdem gut bezahlt.
"Das Geld!, so lautete die Lösung jedes Rätsels", begreift Lucien plötzlich. Der ehemalige Dichter macht sich die neuen Gesetze der Industriegesellschaft zu Eigen, verrät seine alten Grundsätze für eine gute Pointe und wird zum Lohnschreiber. Sogar eine Schauspielerin kann er erobern, aber am Ende geht natürlich alles schief, und Lucien de Rubempré, der eigentlich viel schlichter Lucien Chardon heißt, ist zur Rückkehr nach Angoulême gezwungen.
Das Verlagswesen entpuppt sich als brutales Unterfangen
Sogar seinen Schwager, den aufrechten Drucker David, hat er ruiniert. Als Erfinder einer neuen Methode zur Papierherstellung muss sich David gegen das skrupellose Unternehmergespann Cointet, ein Brüderpaar, behaupten, was misslingt. Dem Geschäftssinn und der juristischen Spitzfindigkeit dieser Brüder weiß er nichts entgegen zu setzen. Lucien wird noch einmal von einem falschen Priester nach Paris gelockt – die Möglichkeit eines erneuten Aufstiegs wirkt immer noch verführerisch.
Zwischen 1837 und 1844 in drei Teilen erschienen und angesiedelt im Frankreich der Restauration nach 1819, zeichnet Balzac in seinem atemberaubenden Roman "Verlorene Illusionen" ein düsteres Bild der zeitgenössischen Gesellschaft. Das liegt zum einen an einer neuen Spezies: der des Journalisten, der seine Umgebung nur nach dem Nutzen und sämtliche Geschehnisse auf ihre Verwertbarkeit hin abklopft. Der Markt bestimmt, was geschrieben wird. Auch das Verlagswesen, dessen Produkte ja eigentlich mit geistiger Tiefe zu tun haben, entpuppt sich als brutales Unterfangen (Balzac hatte mit seinen verlegerischen Projekten selbst Schiffbruch erlitten und wusste, wovon er sprach).
Balzac zeigt sich als glänzender Satiriker
Die Druckindustrie ist im Wandel begriffen und das Zeitungsgewerbe noch jung. Dass wir uns derzeit an einem ähnlichen Wendepunkt befinden, macht die Lektüre dieses Klassikers besonders aufregend. Balzacs Held übt sich in einer hochaktuellen Praxis: Er bewertet seine Beziehungen wie Kapital und ökonomisiert sein Sozialleben. Der Kreislauf des Geldes gewinnt an Fahrt, immer rascher eignet sich Lucien die Gesetze der Korruption und der Intrige an, bis er genau diesen Regeln selbst zum Opfer fällt.
Natürlich zeigt sich Honoré de Balzac, selbst von täglich ansteigenden Schulden zum Schreiben gezwungen und genussvoller Geldverschwender, auch als glänzender Satiriker. Nicht nur die Salons der Provinz und die Gepflogenheiten unter den Damen waren ihm vertraut, er kannte die befeuernde Wirkung von Redaktionsschluss und einem erklecklichen Zeilenhonorar.
Verlorene Illusionen, Gravitationspunkt seiner Comédie humaine und einer der großen Romane der Weltliteratur, liegt jetzt in einer leicht dahinfließenden Neuübersetzung von Melanie Walz vor. Syntaktisch stärker am Original orientiert, ergänzt durch einen philologischen Apparat mit Zeittafeln, Anmerkungen und Nachwort ist der Roman neu zu entdecken. Wer die Gegenwart verstehen will, muss Balzac lesen!

Honoré de Balzac: Verlorene Illusionen
Aus dem Französischen von Melanie Walz
Hanser Verlag München 2014
960 Seiten, 39, 90 Euro