Hongkong

"Demokratie ist hier mit Identität verbunden"

Demonstranten in Hongkong.
Demonstranten in Hongkong. © AFP / Philippe Lopez
Moderation: Liane von Billerbeck  · 02.10.2014
"Das Kämpfen für die Demokratie ist eine wichtige Sache für Hongkong und für die Zukunft der Stadt", sagt der Politologe Stephan Ortmann. Er erwartet, dass die Proteste sich noch ausweiten werden. Wie die Behörden reagieren werden, sei völlig unklar.
Liane von Billerbeck: Demonstranten, zehntausende, die sich mit ihren Schirmen zuerst gegen das Tränengas der Polizei wehrten und dann gegen den tropischen Regen, Demonstranten, die für freie Wahlen und Demokratie kämpfen, Demonstranten, die den Behörden ein Ultimatum stellen – das alles erleben wir jetzt in Hongkong, wo China auch China ist, aber eben doch ganz anders. Und von dort am Telefon zugeschaltet ist jetzt Stephan Ortmann, er ist Professor für politische Ökonomie in Hongkong und hat sich den Protesten angeschlossen. Herr Ortmann, ich grüße Sie!
Stephan Ortmann: Guten Morgen!
von Billerbeck: Zuerst die Frage nach der Lage derzeit: Es gab ja ein Ultimatum der Demonstranten an die Behörden. Bisher wurde darauf nicht reagiert, wahrscheinlich auch wegen des Feiertags. Wie ist die Stimmung jetzt in Hongkong?
Ortmann: Also es ist immer noch gelassen, aber es werden sehr viele Diskussionen im Augenblick geführt über, wie man es weiter machen soll, wie die Studenten weiter vorgehen sollen, vor allem die Studenten ... Und außerdem ist die Bewegung ein bisschen führerlos zurzeit, so sind die Diskussionen auch, wie wer und wie die Führerschaft übernehmen kann. Das Besondere: Also die Studenten wollen das Ganze jetzt eskalieren, und die haben dem Regierungschef in Hongkong das Ultimatum gestellt, und wenn das nicht eingehalten wird, sollen Regierungsgebäude besetzt werden. Das ist im Augenblick die Stimmung hier.
von Billerbeck: Das ist ja für Sie auch eine ungewöhnliche Lage. Man fragt sich: Warum schließt sich ein deutscher Professor für politische Ökonomie diesen Protesten in Hongkong an?
Kämpfen für die Demokratie ist wichtig für die Zukunft der Stadt
Ortmann: Mein Forschungsgebiet ist eigentlich die vergleichende Politikwissenschaft, und ich habe Hongkong mit Singapur verglichen im Hinblick auf die Demokratisierung. Ich unterrichte auch zurzeit einen Kurs zum Thema Hongkong hier in Hongkong. Das hilft den Studenten auch, ein bisschen Außenperspektive zu bekommen auf den Fall. Ich finde die Bewegung der Studenten sehr interessant und auch sehr wichtig, das Kämpfen für die Demokratie ist eine wichtige Sache für Hongkong und für die Zukunft der Stadt, weil ohne die Demokratie wird es hier kaum weitergehen.
von Billerbeck: Das heißt, diese Demonstrationen sind quasi für Sie als Forscher auch wie eine Art Labor?
Ortmann: Ja. Also es ist ja nicht das erste Mal, dass Hongkonger auf die Straße gehen. Das ist ja eigentlich schon mindestens seit 2003 ein jährliches Ereignis, am 1. Juli zum großen Demonstrieren zu gehen. Damals sind ja laut manchen Schätzungen eine halbe Million Leute auf der Straße gewesen, und jedes Jahr sind dann Zehntausende auf der Straße zu dem Tag. Diese Proteste sind aber im Gegensatz zu den jetzigen Protesten immer angemeldet und der Regierung mehr oder weniger ... zumindest legitimiert. Aber jetzt ist ja ziviler Ungehorsam angesagt und die Straßen werden blockiert, und insofern ist es schon ein großer Unterschied zu dem, was früher gemacht worden ist, wo man ja eigentlich hier in Hongkong sehr bewusst ist, den Gesetzen zu folgen, und das ist ja jetzt ... das Gegenteil davon.
von Billerbeck: Was treibt diese Generation Ihrer Studenten nun an, von der man ja vermuten kann, dass sie vielleicht eher britisch als chinesisch geprägt ist?
Ortmann: Ja.
von Billerbeck: Hat die ein anderes Bewusstsein für ihre demokratischen Rechte?
Studenten berufen sich auf die 1984er Erklärung
Ortmann: Auf jeden Fall. Die Demokratie hier ist mit Identität verbunden und die Hongkonger sehen Demokratie als etwas, was Hongkonger Eigenschaft ist und sie vom Festland-China unterscheidet. Jetzt ist da ein bisschen auch dieser zunehmende Druck der chinesischen Regierung auf Hongkong und hat dazu geführt, dass die Hongkonger hier sich sehr stärker auf ihre Identität bezogen fühlen und damit sich abgrenzen wollen vom Festland. Hinzu kommt natürlich die Geschichte, dass Hongkong schon immer zivile Freiheiten verfolgt hat und auch das Versprechen der Demokratie schon festgelegt worden ist und auch mit den Chinesen abgesprochen worden ist damals in der 1984er-Erklärung zwischen Großbritannien und China. Und darauf berufen sich eigentlich die Studenten. Das ist das Ziel.
von Billerbeck: Das ist das Ziel. Nun haben Sie gesagt, die Studenten wollen es eskalieren lassen.
Ortmann: Ja.
von Billerbeck: Das ist natürlich eine Situation, die kann gefährlich werden. Da denken wir natürlich sofort an die berüchtigte, "chinesische Lösung" und an das Niederwalzen, an das blutige Niederwalzen der Proteste auf dem Platz des Himmlischen Friedens vor 25 Jahren. Befürchten Sie solche Reaktionen der Behörden?
Ortmann: Ich meine, die Angst ist hier auf jeden Fall vorhanden und ganz auszuschließen ist es auf keinen Fall. Aber ich denke mal, der chinesischen Regierung ist bewusst, dass dieser Schritt mit sehr hohen Kosten verbunden ist. Zum einen hat es ja dazu geführt, dass erst das Einsetzen des Tränengases wirklich die Leute auf die Straße gebracht hat. Die Studenten hatten ja den Protest am Samstag begonnen, und als am Sonntag Tränengas eingesetzt worden ist, sind die Leute erst richtig auf die Straße gegangen. Und danach wurden erst die ganzen Blockaden aufgebaut und es hat sich wahnsinnig erweitert, das Ganze. Insofern – Gewalt hat hier zum Gegenteil geführt, bis jetzt zumindest, als das, was erwünscht ist.
Auf der anderen Seite auch, wenn in Hongkong ein Niederschlag wie 1989 stattfinden wird, würde das wirtschaftlich sehr große Konsequenzen haben, zumindest für Hongkong, was ja ein wichtiges Finanzzentrum in der Welt ist. Und ich denke, die chinesische Regierung möchte das auf jeden Fall vermeiden und hofft, dass man das Ganze jetzt auswarten kann, und auch wenn sie jetzt eskalieren, dass sie dann irgendwann aufgeben werden, dass sie nicht zu weit gehen werden. Aber ja, wir können nicht ganz sicher sein, was passieren wird, das ist absolut nicht abzuschätzen.
von Billerbeck: Stephan Ortmann war das, in Hongkong unterrichtet er politische Ökonomie und hat sich auch den Protesten für freie Wahlen und Demokratie angeschlossen. Danke Ihnen und alles Gute!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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