Holocaust

Die Fallstricke der Erinnerung

Auschwitz-Birkenau war das größte der deutschen Vernichtungslager.
Philip Meinholds Mutter wünschte sich kurz nach ihrem 70. Geburtstag, mit ihren Kindern und Enkeln Auschwitz zu besuchen. © dpa / picture alliance / Simon Daval
Von Marko Martin · 27.01.2015
Mit "Erben der Erinnerung" spürt Philip Meinhold seiner deutsch-jüdischen Familiengeschichte nach. In seiner stillen und präzisen Reportage vermeidet der Autor jegliche gedankenlose Betroffenheitsroutine.
Es ist ein ungewöhnlicher Wunsch, den die Mutter des Schriftstellers und Journalisten Philip Meinhold kurz nach ihrem 70. Geburtstag äußert: Sie wolle mit ihren drei Kindern und den Enkeln Auschwitz besuchen. Einfach so? Keineswegs, denn die Familiengeschichte ist komplex.
Inge Meinholds Vater war nach NS-Begriffen "Halbjude". Die Ehe mit einer "arischen" Frau rettete ihm das Leben, sie bewahrte ihn vor dem KZ, im Unterschied zu seinen nahen Verwandten, die nach Theresienstadt und später nach Auschwitz deportiert wurden.
Grundehrlicher präziser Bericht
Sein Enkel, Jahrgang 1971, konstatiert angesichts dieser aus Dokumenten, Briefen und halb verschütteten Erinnerungen geborgenen Biografie vorerst sogar eine Art Erleichterung. Doch die Reaktion kommt ihm bald unangemessen vor. Er fürchtet jene Schummelei, welche die vermeintlich allzeit gedenkwilligen Deutschen häufig dazu verleitet, sich vor allem mit den damaligen Opfern zu identifizieren und dabei den Täteranteil der eigenen Familie zu verdrängen. Also begibt sich Philip Meinhold auch auf die Suche nach den Vorfahren des Vaters, die keine Juden waren. SS-Schergen findet er dort nicht vor, aber auch keine Widerständler.
Vor allem aber, und das hebt sein Buch aus der inzwischen nahezu unüberschaubaren Masse der sogenannten Aufarbeitungsliteratur heraus: Der Autor macht sich nicht wichtig, kreist nicht zerknirscht-selbstverliebt um das eigene Identitäts-Ego, verliert sich nicht in stilistischen Kapricen. Es ist dies ein grundehrlicher Bericht über Erinnerung und deren Fallstricke, über Erwartungen und stets andersgeartete Realität. Denn in Auschwitz, das ja nun ein Museum ist, fühlt die versammelte Familie fast nichts, ist beinahe wortlos angesichts der ausgestellten Dingwelt.
Inge Meinholds Enkel aber beginnen später in einem Krakauer Restaurant Fragen zu stellen – wenn auch nicht im Sinne jener längst konventionellen Holocaust-Didaktik mit ihren moralistischen Formeln und einer letztendlich abstumpfenden Instant-Betroffenheit.
Paradigmenwechsel der Erinnerungskultur
"Vielleicht", schreibt Philip Meinhold, "mutieren wir beim Versuch, des Holocaust zu gedenken, alle ein wenig zu Politikern, denen die Außenwirkung ihres Auftritts bewusst ist ... Geschichtsvergessenheit aber lässt sich nicht am Maß der Betroffenheit in Auschwitz bemessen."
Historiker und Soziologen wie Dan Diner, Aleida Assmann oder Harald Welzer haben diesen Paradigmenwechsel der Erinnerungskultur bereits beschrieben. Meinhold, der sie in dieser essayistischen Reportage ab und an zitiert, aber gebührt das Verdienst, solche Erkenntnisse nun auch im Lebensweltlichen sinnlich erfahrbar gemacht zu haben.
"Wo bringt mich das hin? Also, welche Konsequenzen ziehe ich aus dem Auschwitz-Besuch? Und nicht: Wie betroffen bin ich?"
In jeder Zeile vermeidet dieses stille und präzise Buch jenen "Leerlauf der kreisrunden Phrasen", den die Auschwitz-Überlebende Ruth Klüger der deutschen Betroffenheitsrhetorik attestiert. Man sollte deshalb unbedingt lesen, was der 44-jährige Philip Meinhold hier derart unprätentiös aufgeschrieben hat.

Philip Meinhold: Erben der Erinnerung. Ein Familienausflug nach Auschwitz
Verbrecher Verlag, Berlin 2015
192 Seiten, 14 Euro

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