Holocaust-Comic als Einstiegshilfe

Moderation: Liane von Billerbeck · 15.04.2008
Nach Einschätzung des Erziehungswissenschaftlers Micha Brumlik ist der Comic "Die Suche", der den Holocaust thematisiert und derzeit an Berliner Schulen getestet wird, nur als Einstieg in das Thema geeignet. Hinzukommen sollten aber vertiefende Lektüre, Filme oder Besuche von Gedenkstätten. Generell sollte man das Thema mit Jugendlichen nicht vor ihrem zwölften Lebensjahr besprechen, da sie es sonst nicht verarbeiten könnten.
Liane von Billerbeck: Im Studio ist jetzt Professor Micha Brumlik. Er ist Erziehungswissenschaftler an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main und hat bis 2005 das Fritz-Bauer-Institut geleitet. Guten Tag!

Micha Brumlik: Guten Tag!

von Billerbeck: Wie finden Sie denn den Holocaust-Comic "Die Suche"?

Brumlik: Das ist an und für sich ein sehr ansprechendes Produkt, und das ist auch genau das Problem. Ich hege die Befürchtung, dass die außerordentlich ansprechende, sehr jugendgemäße Form dieses Comics letzten Endes das, worum es geht, nämlich das Grauen und das Leiden der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik zu vermitteln, durch diese ansprechende Form wieder verdeckt.

von Billerbeck: Was gefällt Ihnen da konkret nicht?

Brumlik: Nun, mir gefällt zunächst nicht, dass mir schon beim ersten Blick aufgefallen ist, dass ich diese Bilder, die Kolorierung und auch den Strich der Comics irgendwoher kenne. Das ist mir dann auch schnell eingefallen. Es ist derselbe Stil, den man bei diesem bei Jugendlichen sehr bekannten und beliebten Comicstrip "Tim und Struppi" findet. Und ich fürchte einfach, dass diese Vorprägung die nötige Ernsthaftigkeit der Auseinandersetzung außerordentlich behindert.

Darüber hinaus ist die Form etwas zu konventionell. Wenn man das mit einem anderen Comic über den Holocaust vergleicht, vor allem mit Art Spiegelmans "Maus", dann sieht man, dass es hier überhaupt keine Spannung zwischen der künstlerischen Form und dem dargestellten Inhalt gibt. Wenn Sie wollen, es ist dasselbe Problem wie mit Spielbergs "Schindlers Liste", bei dem man ja auch einiges sehen und verstehen konnte und der dennoch hinter dem Film von Claude Landsmann "Shoa" meilenweit zurückbleibt, weil er in der Darstellung so konventionell ist. Die große Frage ist: Sind Jugendliche für diese Thematik nur auf konventionellem Weg ansprechbar?

von Billerbeck: Sie haben den berühmten Comic von Art Spiegelman erwähnt, den "Maus"-Comic, der ist 1992 erschienen, er hat da auch den Pulitzer Preis dafür bekommen, aber er war auch, als er erschienen ist, nicht unumstritten. Es hat damals viel Kritik gegeben, inzwischen gilt er als Klassiker. Was unterscheidet denn Spiegelmans Comic von diesem neuen, von Ihnen als sehr konventionell bezeichneten?

Brumlik: Spiegelman arbeitet einerseits mit einer Verfremdung. Täter, Opfer und Zuschauer erscheinen ja nicht als quasi realistische Menschen, sondern werden in Tiergestalt gezeigt, von Katzen, von Mäusen und von Schweinen. Auf der anderen Seite finden sich bei Spiegelman immer wieder Szenen, da sieht man nun Menschen zwischen sich und seinem Vater, wo gewissermaßen die Spannung, diese Geschichte zu erzählen, und das Leiden, die auch das Erzählen provoziert, noch einmal verdeutlicht werden. Das finde ich in diesem Comic-Buch nicht. Ganz zum Schluss gibt es dann fast so einen Happyend-artigen Abschluss, wenn, ich glaube, es ist die Großmutter, sich dann an diese Zeit im Vernichtungslager erinnert.

von Billerbeck: Comic ist ja Provokation und Beleidigung, das hat Art Spiegelman im Deutschlandradio-Interview auch gesagt. Der Comic "Die Suche", von dem wir heute sprechen, der ist vom Anne-Frank-Haus in Amsterdam entwickelt worden und jetzt für den deutschen Geschichtsunterricht angepasst worden. Und da war eine internationale Expertenkommission dabei, also Leute vom Haus der Wannsee-Konferenz, vom Auschwitz-Komitee etc. Das klingt sehr nach politischer Korrektheit, als ob man also eingebunden hat und sich so ein bisschen auf den Mittelweg verständigt hat. Wird damit das Genre konterkariert, wenn man sozusagen die Widerhaken, die in so einem Comic liegen, rausnimmt?

Brumlik: Ich glaube, dass das der Fall ist, es ist aber auch Ausdruck des Umstandes, dass man weiß, dass die Zeitzeugen selbst, weil sie einfach immer älter werden und nicht alle noch sehr lange leben werden, in kurzer Zeit in Schulen nicht mehr werden auftreten können. Ich habe fast den Eindruck, dass in der Community, die sich mit diesen Fragen beschäftigt, deshalb fast eine gewisse Panik ausbricht und man jetzt sehr krampfhaft auf der Suche ist, wie kann es denn nach den Zeitzeugen weitergehen.

Und da ist natürlich dieser erste Ansatz, es muss jugendgerecht sein, es muss die Jugend der heutigen Zeit in ihrer Sprache ansprechen, etwas Vielversprechendes, dem dann sicher auch ältere Überlebende aus diesen Komitees gerne zustimmen. Also das Zauberwort ist da, glaube ich, wirklich jugendgerecht. Die Frage ist, ob das ganze Thema überhaupt jugendgerecht zuzubereiten ist.

von Billerbeck: Sie sind ja selbst Erziehungswissenschaftler. Von welchem Zeitpunkt an, von welchem Alter her, meinen Sie denn, kann man Kindern oder Jugendlichen das Thema Holocaust nahebringen?

Brumlik: Ich habe da eine ganz extreme Meinung. Ich glaube, man sollte das Kindern und Jugendlichen nicht, bevor sie zwölf oder 14 Jahre alt sind, nahebringen. Es gibt innerhalb der Pädagogik eine sehr breite Diskussion, es gibt sogar Versuche, das schon Grundschulkindern im Alter von fünf und sechs beizubringen. Es gibt entsprechende Bilderbücher. Ich vertrete die entwicklungspsychologische Meinung, dass man das mit zehn, zwölf nicht wirklich begreifen und auch schon überhaupt nicht verarbeiten kann. Ich fand erzählende Literatur, etwa von Judith Kerr, "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl", und anderes, was kindgemäß ist, angemessen. Ich glaube nicht, dass die Erfahrungen der Vernichtungslager kindgemäß darstellbar sind.

von Billerbeck: Der Comic, den jetzt das Anne-Frank-Haus Amsterdam aufbereitet hat und der jetzt in Berliner Schulen getestet wird, der ist ja für Realschüler, für Hauptschüler und für Gymnasiasten vorgesehen. Das sind ja sehr unterschiedliche Zielgruppen. Meinen Sie, das geht auf?

Brumlik: Also ich glaube nicht, denn bei aller Kritik an diesem Comic muss man doch sagen, dass Comics unter bestimmten Umständen auch eine sehr anspruchsvolle Kunstform sein können. Und das ist hier der Fall. Da sind ja nicht nur plakative Bilder, sondern da wird in den Sprechblasen auch immer ziemlich Schwieriges besprochen und relativ anspruchsvoll geredet. Deswegen würde ich vermuten, dass es vielleicht mit Realschülern klappt, sicher auch mit Gymnasiasten. Bei Hauptschülern wäre ich mir da nicht so sicher, weil wir auch leider wissen, dass bei Hauptschülern die Lesekompetenz generell zu niedrig entwickelt ist. Also so, wie Hauptschüler heute gebildet sind, und man kann ja nur hoffen, dass sich das ändern wird, wären vermutlich Filme ein angemesseneres Mittel.

von Billerbeck: Offenbar, so war es auch in unserem Beitrag zu hören, kommt der Comic bei den Schülern aber an. Frage an Sie: Ist es nicht trotz möglicherweise auch eklatanter Mängel an diesem Comic besser, dass sich die Jugendlichen überhaupt mit dem Thema Holocaust beschäftigen, als dass sie gar nichts erfahren?

Brumlik: Also das ist mit Sicherheit der Fall. Allerdings ein Anreißen des Themas, ohne es dann entsprechend weiter zu vertiefen, ist etwas ganz Fatales. Und mein Eindruck ist, dass das noch zu oft geschieht. Also wenn man sich dazu entscheidet, in der Mittelstufe oder etwas früher dieses Thema zu behandeln, dann kann man mit so einem Comic einsteigen, man muss das Thema aber dann durch Filme, durch Zeitzeugenberichte und danach, nach Vorbereitung durch Besuche auch in entsprechenden KZ-Gedenkstätten, vertiefen und nachbereiten.

von Billerbeck: "Die Suche" heißt ein Comic, entwickelt vom Amsterdamer Anne-Frank-Haus, der den Holocaust thematisiert und gerade an Berliner Schulen getestet wird. Wir sprachen mit dem Erziehungswissenschaftler Micha Brumlik. Ich danke Ihnen!