Hoffnung für Afrika?

R. Neudeck und U. Eid im Gespräch mit M. Albath · 14.02.2010
Die Fußballweltmeisterschaft, die diesen Sommer in Südafrika stattfindet, wird die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf den Kontinent lenken, meint "Cap Anamur"-Gründer Rupert Neudeck. "Das scheint mir einen großen Sprung zu versprechen, den Afrika damit machen wird."
Maike Albath: Am Mikrofon begrüßt Sie Maike Albath, herzlich willkommen heute zu Lesart Spezial aus dem Grillo-Theater in Essen, in Kooperation mit dem Kulturwissenschaftlichen Institut und der Buchhandlung "Proust". Medienpartner sind die Westdeutsche Allgemeine Zeitung und das Schauspiel Essen.

Großartige Landschaften, Bodenschätze, ein starker Familienzusammenhalt, aber auch korrupte Eliten, Bürgerkriege und Heerscharen von Illegalen, die für eine Schiffsreise nach Europa ihr Leben aufs Spiel setzen, all das ist Afrika.

"Hoffnung für Afrika? Ein Kontinent zwischen Aufbruch und Flucht" lautet heute das Thema unserer Sendung. Wir wollen uns über zwei neue Bücher unterhalten, die sich mit Afrika beschäftigen, und haben dazu zwei Gäste eingeladen – Uschi Eid und Rupert Neudeck. Uschi Eid ist Politikerin der Grünen. Sie hat sich in ihrer Arbeit als Staatssekretärin immer wieder mit Welternährung und Entwicklungshilfe beschäftigt und kennt Afrika aus vielen Reisen. Zum Beispiel war sie in Ruanda während des Bürgerkriegs. Unter Gerhard Schröder war sie Afrikabeauftragte und hat einen G8-Aktionsplan für den Kontinent ausgearbeitet. Guten Tag, Frau Eid.

Uschi Eid: Guten Tag.

Maike Albath: Rupert Neudeck, Journalist von Beruf, hat vor über 30 Jahren die Hilfsorganisation "Cap Anamur" gegründet. Er ist ein Afrika-Kenner, wovon sein neuestes Buch zeugt: "Die Kraft Afrikas" heißt es, "Warum der Kontinent noch nicht verloren ist". Guten Tag, Herr Neudeck.

Rupert Neudeck: Guten Tag.

Maike Albath: Im Titel Ihres Buches, Herr Neudeck, beschwören Sie ja das Positive. Aber der Untertitel lautet dann gleich, "warum der Kontinent noch nicht verloren ist". Welches ist denn die größte Gefahr, die Afrika droht?

Rupert Neudeck: Die größte Gefahr ist, dass der Kontinent die Globalisierung, die Realität des globalisierten Weltmarkts nicht so schnell erreicht, wie dieser Markt es zwingend erfordert. Fast alle Länder, mit Ausnahme von Südafrika und den nordafrikanischen Ländern, haben keinen Anschluss an diesen globalisierten Weltmarkt. Und sie müssen den aber bekommen. Ich bin letztendlich optimistisch, wenn wir unsere Zeitvorstellungen in Europa ein bisschen korrigieren, die natürlich immer ganz hektisch sind. Das ist ja unser europäisches Erbteil, dass wir ungeduldig sind. Wir verlangen von den afrikanischen Nationen, dass sie innerhalb eines Jahres, eines Haushaltsjahres, dann verlangen wir, dass die endlich bereit und in der Lage sind, unsere Vorstellungen zu entwickeln, unseren Vorstellungen zu folgen. Aber das geht nicht so schnell. Wenn man das über die nächsten Jahrzehnte sieht, wird es ganz sicher so sein, dass wir in Afrika eine ganz andere Realität haben. Wir haben ja jetzt schon eine ganz andere Realität.

Wir hatten diese ganz lange Phase des Kalten Krieges, in der Afrika für uns ja aufgeteilt war in die Länder, die in die richtige Richtung geguckt haben, die richtige war natürlich unsere, und die in die falsche Richtung geguckt haben. Und die wurden dann belohnt oder bestraft. Das alles ist Gott sei Dank vorbei, ist ganz vorbei. Wir haben auch nicht mehr die große Phase der Befreiungskriege, der großen Bürgerkriege. Also, wir haben längst nicht mehr so viel militärische Auseinandersetzung, was auch segensreich ist für diese Bevölkerungen. Und ich denke, der dritte Punkt wird auch geschafft werden. Es werden auch die Märkte, die globalisierten Weltmärkte und die globalisierte Realität wird auch von afrikanischen Nationen erreicht werden. Zumindest werden wir das alle, meine Damen und Herren, erleben. Wir haben nämlich die Fußballweltmeisterschaft. Und da werden wir nun erleben, dass Afrika im Mittelpunkt der Welt-Aufmerksamkeit, auch im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Deutschen steht. Das scheint mir einen großen Sprung zu versprechen, den Afrika damit machen wird.

Maike Albath: Es ist auch höchste Zeit, Uschi Eid, dass Afrika einmal im Mittelpunkt steht. Denn oft wird es ja auf politischer Bühne auch vernachlässigt. Rupert Neudeck versucht in seinem Buch, eine historische Lücke zu schließen und uns viel zu erklären von Afrika, von der Phase der Kolonien und der Missionen, was dort auch für unsere Wahrnehmung eine Rolle gespielt hat. Wie kommt es denn dazu, dass Afrika traditionell so falsch oder unterbewertet wird? Haben Sie dafür eine Erklärung? Und was lernen wir aus dem Buch von Rupert Neudeck dazu?

Uschi Eid: Also, erst mal glaube ich, dass Afrika nicht vernachlässigt wird. Es ist der Kontinent, der die größte Zuwendung immer wieder erfährt, auch wenn sich bei uns dieses fest in unserem Kopf eingraviert hat, dass Afrika der vergessene Kontinent ist. Das ist nicht richtig. 80 Prozent der Themen, mit denen sich der UN-Sicherheitsrat beschäftigt in New York, sind Afrika. Der größte Teil der Entwicklungshilfe geht nach Afrika. Was falsch läuft, ist, dass – wenn wir über Afrika reden oder wenn wir etwas über Afrika hören – wir dann immer nur die negativen Seiten hören. Und deswegen finde ich ja das Buch von Rupert Neudeck so erfrischend, dass er sagt, trotz all dieser negativen Dinge, die passieren, die ja auch woanders passieren, ist aber eine Kraft in Afrika, die uns optimistisch stimmt.

Ich habe das Wort "Kraft" nie benutzt. Ich hab immer von "Potenzial" gesprochen. Ich habe immer gesagt: Hört auf, die Defizite in den Vordergrund zu stellen! – Wir hatten eine Entwicklungsministerin, die immer gesagt hat: "Das überwölbende Ziel der Entwicklungskooperation ist Armutsbekämpfung". Nein! Ist Potenzial-Entwicklung, nicht Armutsbekämpfung! Gucken wir doch auf das Potenzial und nicht auf die Defizite. Das ist eigentlich auch an uns die Aufgabe, dass wir unsere Haltung gegenüber Afrika, auch unsere Sichtweise verändern müssen und dass, wenn wir mit afrikanischen Staaten oder mit der Afrikanischen Union kooperieren, wir dann nicht sagen, wir helfen euch die Armut zu bekämpfen. Nein! Wir helfen euch zum Beispiel, eure Wirtschaft zu entwickeln, damit sozioökonomische Entwicklung möglich wird.

Maike Albath: Aber genau das – erklären Sie, Rupert Neudeck, in Ihrem Buch – ist oft schief gelaufen. Gerade die Entwicklungshilfe hat manchmal dazu geführt, dass die Eliten sich zurückgezogen haben und dass es zu einer Art Alimentierung gekommen ist. Erklären Sie uns da den Zusammenhang.

Rupert Neudeck: Ich hab gemerkt, dass es doch diesen heimlichen alten Europäer in mir gibt, der immer meint, wir müssten diese Völker dazu bringen, dass sie es so machen, wie wir. Anders geht’s ja gar nicht. Wie soll das universale Rezept Europas nicht in Afrika angewendet werden können? – Ich habe aber nun in Ländern, die mittlerweile fast kaputt sind, wie Somalia, das ist ja ein Land, das es gar nicht mehr gibt als Staat, ich habe aber da erlebt, dass wir alte große Lebenskulturen haben. Wir haben auch in gewisser Weise demokratische Kulturen, die ganz anders sind. Das wichtigste, schönste Buch, was es über Somalia gegeben hat, hat ein britischer Ethnologe geschrieben. Das heißt englisch: "The pastoral democracy", "Die pastorale Hirtendemokratie". Das gab es in diesen Völkern. Wir haben immer wieder gemeint, wir Europäer müssten denen zeigen, wo es lang geht und wo der Hammer hängt. Und ich glaube das mittlerweile nicht mehr, sondern ich bin der festen Überzeugung, dass wir uns ein bisschen zurücknehmen sollen, wie Uschi Eid gesagt hat. Wir sollen versuchen, ein bisschen Öl auf die Lampe zu gießen, aber brennen aus eigener Kraft muss sie dann selbst. Und das wird sie auch. Wir haben das unterschätzt, dass die Potenziale so groß sind.

Mein Ur-Erlebnis war damals beim ersten Mal Somalia und darauf dann Äthiopien vor 25 Jahren. Da habe ich dann in meiner Familie mal erklärt, wie diese Menschen in Adgeba, das ist so ein ganz kleines Dorf in Gonder, in der Wüste, wovon die leben. Und da meinten meine deutschen Mitbürger: Dann müssen die doch alle sterben. – Und nach den deutschen Tarif- und Versicherungs- und Vollkasko-Ordnungen müssen die auch alle sterben. Also, eigentlich müssen die alle sterben. – Nur die denken gar nicht daran zu sterben, weil da ist eine Kraft des Überlebens. Eine Dinka-Mutter, die im Süd-Sudan mit sieben Kindern rausgeht morgens, um das Wasser zu holen, das dauert schon eine Stunde, dann sucht sie das Holz, um die einzige Nahrung am Tage zu bereiten, die abends todmüde in ihren Tukul fällt, die niemals in ihrem Leben das Wort "Mutterschaftsurlaub", geschweige denn "Urlaub" überhaupt hören wird, die schafft es, diese Familie durchzubringen. Das ist eine unglaubliche Unternehmerin, ein Potenzial, was man sich gar nicht größer vorstellen kann.

Das haben wir, glaube ich, ein bisschen vernachlässigt. Wir müssen unseren Kopf ändern, um diese Menschen wahrzunehmen in ihrer Kraft, in ihrer Herrlichkeit. Ich muss einfach noch mal sagen: Der größte Mensch, der größte Politiker, der größte Führer in unserer Lebenszeit war Nelson Mandela. Schauen Sie mal, also, 27 Jahre im Gefängnis zu sein, dann rauszukommen und die weiße Minderheit in diesem Lande zu umarmen, um sie aufzunehmen in diese gemeinsame Welt und Gesellschaft von Südafrika, das ist eine so großartige Leistung. Das hat keiner in der Politik der letzten 30 Jahre, zu meiner Lebenszeit hab ich das nicht erlebt, dass jemand so groß war als Politiker.

Maike Albath: Mandela ist sicherlich ein positives Beispiel, auch für den gesamten Kontinent. Dennoch bringen Sie in Ihrem Buch auch viele Geschichten über ehemals charismatische Führer, die sich dann zu Despoten gewandelt haben. Was kann man da beobachten, Uschi Eid?

Uschi Eid: Das Problem ist ja, dass nach dem Ende der Kolonialzeit in vielen Staaten Ein-Parteien-Staatlichkeit etabliert wurde und es den meisten politischen Führungspersönlichkeiten sehr schwer fiel, von der Macht zu lassen. Ich glaube, das hat ganz unterschiedliche Gründe. Natürlich einmal, dass man – wenn man an der Macht ist – eben seine Ideen meint, allen Anderen nahe bringen zu müssen. Und die müssen die Ideen dann auch übernehmen. Aber das andere ist natürlich auch eine rein ökonomisch und existenzielle Frage. Denn bei uns als Politiker oder Politikerin ist man gewohnt, man hat seinen normalen Beruf. Man kann ja auch aus dem Bundestag heraus gewählt werden. Man kann auch in die Opposition zurück müssen. Das ist bei uns erst mal normal. Und wenn man dann aus dem Bundestag rausgeht, wie ich, dann kann man wieder in seinen normalen Beruf zurückgehen, wenn man noch jung genug ist. Das kann aber ein afrikanischer Politiker oder eine afrikanische Politikerin nur in den wenigsten Fällen. Also, das heißt, die Frage, was passiert danach, ist eine nicht zu unterschätzende Frage. Und ich glaube, da muss man sich auch mit beschäftigen, wie man solchen Leuten auch das Zurücktreten dann auch erleichtert. Bei uns hat der Bundespräsident oder der Bundeskanzler noch das Anrecht auf ein Büro, auf eine Schreibkraft, auch auf ein Auto. Das soll man gerade in den Regionen nicht unterschätzen. Also, ich glaube, dass das auch mit eine Rolle spielt.

Maike Albath: Man muss vermeiden, dass diese politischen Führer dann wie Stammeshäuptlinge nur noch ihre Familien begünstigen und dass diese Strukturen ausgehebelt werden und modernere demokratische Strukturen sich etablieren.

In Ihrem Buch kommt vor, Rupert Neudeck, dass China sehr engagiert ist in Afrika. China bezieht inzwischen 31 Prozent des Öls aus Angola. Und sie haben im Sudan 15 Milliarden Dollar investiert. Ist das positiv oder ist das negativ?

Rupert Neudeck: Also, zunächst mal tritt uns das in den Bauch als Europäer. Das finde ich immer erst mal gut, weil, wir halten ja den Kontinent für unseren Kontinent. Das war so ein Gefühl, als das so rum kam, dass die Chinesen da anfangen, in Afrika rumzuwildern: Was suchen die in unserem Kontinent? Da haben die gar nichts verloren. Das ist unser, da ist nur das kleine Mittelmeer, dieser kleine Bodensee dazwischen, das gehört zu Europa. – Ja, darum kümmern sich die Chinesen nicht. Und sie sind wahrscheinlich auf eine sehr effektive Weise dabei, zumindest erst mal Wirtschaft dort anzuregen. Sie zahlen ja für die Bodenschätze. Oder es ist auch eine Form von Barter Trade. Solche Verträge werden da gemacht, wie zum Beispiel jetzt im Süd-Kongo, wo also 1000 Hospitäler gebaut werden und Schulen noch und noch für Konzessionen in Bezug auf die Minen, also auf Gold, Kupfer, Diamanten und so weiter. Das dürfen wir auf Dauer nicht so lassen.

Dann müssen wir auf die Afrikaner hören. Wir sagen ja immer ganz stolz, ja, diese Menschenrechts-Vorbehalte und die Demokratie-Vorbehalte und Good-Governance-Vorbehalte. Good Governance, das ist eben gute Regierungsführung. Also, wir haben das alles natürlich betrieben, aber wir haben es ja auch nicht geleistet. Es ist ja nicht so, dass das alles durchgesetzt worden ist.

Also, ich meine, die Chinesen sind dabei uns zu lehren, dass man mit diesem Kontinent etwas beherzter in der Förderung und der Durchsetzung von wirtschaftlichen Zielen sich bemüht. Der Präsident des Senegal – ich halte diese Präsidenten meistens für ziemliche Verächter ihrer Völker und ihrer Gesellschaften -, aber er hat etwas gesagt in Berlin, was mir zu Denken gegeben hat. Er hat gesagt zu der Bundeskanzlerin: "Wenn die Chinesen kommen und sagen mir, wir bauen den Hafen Dakar aus in einem Jahr, dann weiß ich, dass nach einem Jahr der Hafen da ist. Wenn die EU kommt, die Europäische Union, dann habe ich in sieben Jahren eine Studie. Und ob dann im achten Jahr mit irgendeiner Arbeit was beginnt, das ist auch noch fraglich." – Also, das zeigt uns auch, wir sind nicht mehr die Schnellsten. Wir sind nicht die Agilsten. Wir sind nicht die Risikofreudigsten, was wir ja vom Kapitalismus her immer angenommen haben. Wir sind das nicht mehr. Und deshalb müssen wir uns an die Decke strecken. Wir sollten sehr wohl unsere Werte bewahren, die wir immer wieder weltweit durchdekliniert haben. Wir sollten nicht davon Abstriche machen, das meine ich nun überhaupt nicht, aber wir sollten diese Herausforderung positiv, produktiv für die Afrikaner, nicht für uns, für die Afrikaner wahrnehmen. Das wäre meine Devise.

Maike Albath: Das alles legt Rupert Neudeck auch in seinem Buch nahe und erklärt es uns noch. "Die Kraft Afrikas" heißt es, "Warum der Kontinent noch nicht verloren ist", erschienen bei C.H. Beck.

Uschi Eid, jetzt war schon die Rede von der Verachtung, die manche politischen Führer in Afrika ihrem Volk gegenüber haben. Jemand, der sich damit sehr intensiv beschäftigt hat, ist der italienische Journalist Fabrizio Gatti, dessen Buch wir jetzt noch besprechen möchten. "Bilal" heißt es "Als Illegaler auf dem Weg nach Europa". Und da geht es ja darum, dass jemand aus Europa sich auf diesen Weg begibt. Was erlebt dieser Mann unterwegs durch die Wüste mit den Afrikanern?

Uschi Eid: Also, wenn man das Buch angefangen hat zu lesen, dann legt man es nicht weg. Man braucht also ein freies Wochenende, denn es packt, und zwar auch deswegen, weil es sehr authentisch ist, weil er nicht über Flüchtlinge schreibt, sondern er nimmt ja die Gestalt des Flüchtlings an und erlebt damit ganz authentisch Erniedrigungen, Qualen. Wirklich, er sieht, wie andere sterben in der Wüste. Er sieht, wie die illegalen Auswanderer malträtiert werden. Er sieht die Kumpanei zwischen den Menschenhändlern und den nigrischen Sicherheitsbehörden und den libyschen Sicherheitsbehörden. Also, es ist wirklich ein Buch, wo er das Seziermesser anlegt und uns tiefe und unheimliche Einblicke gibt in dieses Menschenhändler- und Sklaventum.

Was er erlebt: Er fährt vom Senegal mit dem Zug nach Bamako, der Hauptstadt Malis, von dort aus mit dem Lkw durch Niger nach Niamey und Adagez und dann in die Sklavenoase Dirkou. Und da begibt er sich auf diese riesigen Lkws. Er kann natürlich nicht verheimlichen, dass er eine weiße Haut hat, sodass er dann vorne im Fahrerhaus sitzt und oben die Leute, also, auf seinem Lkw sitzen 180 Leute oben drauf. Und er gibt einem auch gleich noch die statistischen Werte, weil er sagt: Statistisch werden etwa 12 Prozent dieser Menschen nicht Europa erreichen, sodass von seinen Weggefährten eben auch eine Reihe nicht Europa erreichen werden. Er will dann nach Libyen natürlich, und zwar auf der alten Sklavenroute nach Europa. Aber die Libyer geben ihm keine Einreisegenehmigung, weil die wollen ja nicht, dass es einen Zeugen gibt von diesen Machenschaften.

Weil er nicht nach Libyen kommt, korrespondiert er mit zwei seiner Weggefährten, nämlich Joseph und James, die Einzigen, die namentlich bei ihm eine Rolle spielen, die überlebt haben. Seine anderen Weggefährten, die findet er nicht wieder. Und die schreiben ihm E-Mails und per Blogs Informationen über die Situation in Libyen.

Die EU-Ratspräsidentschaft liegt in Italien und er gibt uns da eine besondere Note zwischen der Kumpanei des italienischen Ministerpräsidenten Berlusconi und Gaddafis. Und der allerletzte Sprung, den er macht, ist: Er geht vor Lampedusa ins Wasser, lässt sich dort als kurdischer Flüchtling retten. Und es gelingt ihm so, in die Festung Lampedusa reinzugehen und erlebt dann auch dort noch mal die furchtbare Situation, der Flüchtlinge ausgesetzt sind in diesem italienischen Auffanglager.

Maike Albath: Das Beeindruckende an Gatti ist, dass man diese Menschen kennen lernt, mit denen er reist, und dass das moderne Helden sind. Er sagt es auch ganz deutlich: "Das sind die mutigsten Männer. Das sind die Klügsten. Das sind die, die etwas wagen, die etwas auf Spiel setzen. Und fast immer sind es Akademiker." – Was ist in deren Ländern los? Warum versuchen die Regierungen nicht, diese Menschen dort zu halten?

Rupert Neudeck: Ja, da sind wir wieder bei dem Thema: Warum sind Regierungen dort in den meisten afrikanischen Gesellschaften, die sind manchmal ganz froh, dass sie Leute loswerden. Die senegalesische Regierung ist nachweislich in der Schlepperindustrie mit beteiligt, ganz einfach, und verlangt von uns die Anerkennung eines Rechts auf Migration, was natürlich ein Hohn ist. Weil, eine Regierung hat zunächst mal für ihre eigene Bevölkerung zu sorgen und alles zu tun, damit es der besser geht. Und das tun diese Regierungen zum Teil überhaupt nicht. Die denken gar nicht daran.

Deshalb machen sich junge Menschen, die Besten Afrikas, das muss man genau wissen, das sind die Besten Afrikas. Das sind Migranten. Das sind nicht unbedingt Flüchtlinge – das macht das Problem noch größer. Wenn sie Flüchtlinge wären nach der Genfer Flüchtlingskonvention, so ganz einfach, dann hätten sie schon mal einen Titel, einen weltweit anerkannten Titel. Aber sie sind Migranten. Deshalb sind sie nicht schlechtere Menschen, aber es ist schwieriger, ihren Wunsch auf eine Perspektive, das ist ein Menschenrecht, dass Menschen, junge Menschen rausgehen aus ihren Ländern, um ein gelobtes Land zu finden, in dem sie für sich, ihre Zukunft, ihre Kinder, ihre Familien, ihr Dorf etwas Besseres erreichen können. Das ist ein Menschenrecht, nur ist das schwierig durchzusetzen.

Und er fragt ja auch immer wieder, der Fabrizio Gatti, in seinem wunderbaren Buch, er fragt ja auch immer: Warum geht nicht mal einer zurück in seine Heimat, in seinen Heimatkral oder in seine Heimatgemeinde und sein Heimatdorf? – Und das ist ganz schwierig. Das macht das Buch auch deutlich. Die haben zum Teil – ja, man müsste sagen – einen Kredit bekommen von ihrer Großfamilie oder von ihrem Dorf. Und diesen Kredit, da können sie nicht einfach sagen, ich bin bis an die Küste von Tunesien oder von Libyen gekommen und hab gesehen, das ist alles viel zu gefährlich. Das können die nicht sagen, denn sie haben die Hälfte des Geldes schon verbraucht. Die müssen für dieses Geld, wie man als Kreditnehmer, auch in ordentlichen Verhältnissen muss man etwas bringen. Und deshalb ist es so wahnsinnig schwierig. Dies ist das größte politische Problem, das auf Europa zukommt.

Nach Schätzungen der UNO sollen es 18 Millionen junge Afrikaner sein. Alles junge Menschen. Es sind alles junge Menschen, es gibt keinen Älteren dabei. In Mauretanien, da ist ein anderer Weg – es gibt ja mehrere Schlupflöcher. Diese jungen Menschen aus 15 afrikanischen Ländern kommen in Nouadhibou, in der Hafenstadt von Mauretanien, junge Menschen, 70.000 sind da im Untergrund, und warten auf den Tag, wo das Wetter so gut ist, dass sie im Hafen von Nouadhibou eine Piroge kriegen, um auf – das ist auch interessant, sie nennen den Kontinent dort in Nouadhibou nicht "Europa", sondern "Schengen". Also, dieses Kuhdorf, das zwischen Deutschland und Luxemburg, das ist so ein ganz wichtiger Ort. Ich hab den mal besucht. Sie nennen den "Schengen", weil Schengen ist diese Hoffnung, dass man seinen Fuß setzt auf den Kontinent. Und der beginnt in Gran Canaria, Lanzarote und in Lampedusa.

Das Einzige, was ich noch schnell sagen möchte: Das Buch ist von 2007. Eine Sache hat sich ganz geändert: Berlusconi ist in Kumpanei mit Gaddafi schon dabei gewesen und hat es erreicht, dass Lampedusa total leer ist. Ich bin da gewesen Ende Dezember und hab keinen mehr in dem Lager getroffen, von dem er noch berichtet. Das heißt aber nicht, dass diese Bewegung und dass dieses Riesenproblem zu Ende ist – im Gegenteil.

Maike Albath: Es mindert auch nicht die Qualität des Buches und die Brisanz, denn die Lage hat sich ja verschärft. Und das wird schon deutlich im letzten Teil, Uschi Eid. Rupert Neudeck hat es auch schon angedeutet. Libyen ist jetzt nämlich eigentlich der Staat, der zu kämpfen hat mit diesen ganzen illegalen Flüchtlingen. Und dort werden diese Menschen interniert. Was passiert da genau? Und wie schildert er das? Deutet er auch Lösungen an?

Uschi Eid: Das Problem ist ja, dass er selber eben nicht rein kann, aber dass eben James und Joseph ihn sehr detailliert informieren. Also, der Rassismus, der in Libyen herrscht, die Unmenschlichkeit, mit der nachts die illegalen Einwanderer vertrieben werden, in Internierungslager kommen, das ist wirklich empörend. Und ich finde, da darf man nicht zuschauen. Die Leute werden dann auf Lkws gepackt und einfach nach Süden, wieder nach Niger einfach ausgefahren und werden dort zum Teil einfach in der Wüste abgesetzt. Andere werden mit dem Lkw runter gefahren und nach der Berlusconi-Gaddafi-Einigung war das nämlich ein doppelt gutes Geschäft. Man hat nämlich die aus Libyen Ausgewiesenen in den Süden gefahren, hat die, die dort gewartet haben, aufgeladen und hat bei denen auch noch mal kassiert. Das heißt, die Schlepperbanden und eben staatliche Institutionen, die eben mit im Geschäft sind, die haben nach dieser Ausweisung aus Libyen doppelt Geld verdient. Und das ist eigentlich wirklich empörend.

An sich hat mich sofort empört, dass die Staaten, aus denen diese Menschen kommen, die sozusagen gehen lassen, nicht in dem Sinn, dass man sie festhält, aber dass man keine Bedingungen schafft, dass sie dort all ihre Fähigkeiten dort investieren können, um zum guten Entwickeln des eigenen Landes beizutragen. Es hat mich auf unserer Seite empört, dass wir die Leute, wenn die hier ankommen, dann sind es die Durchsetzungsfähigsten, die Innovativsten, diejenigen, die am mobilsten sind. Die müssen wir doch eigentlich willkommen heißen. Also, beide Seiten, finde ich, ist empörend, dass die eine sie gehen lassen und die andere sie nicht wollen.

Maike Albath: Brauchten wir da nicht einfach eine gute Migrationsregelung, Rupert Neudeck? Denn die Einwanderung, diese illegale Einwanderung hat sich jetzt vermindert um 46 Prozent, sagt man, in Spanien. Das heißt, das ist jetzt gar nicht mehr möglich, dass so viele durchkommen. Wie gehen wir mit dieser Frage um? Deutet Gatti da eine Lösung an, eine Perspektive?

Rupert Neudeck: Nein, die EU wird mit dem Problem ganz offenbar nicht fertig. Das wird das größte Problem sein für eine Europäische Union, die ja jetzt sich langsam auch staatliche Strukturen gibt. Wir werden mit diesem Problem nicht alleine fertig mit den alten klassischen konventionellen Methoden der Task Force auf dem Mittelmehr, der Hubschrauber, der Flugzeuge, der Erhöhung der Zäune, der laserbewehrten Zäune und Mauern. Das alles ist Humbug. Denn wir wissen ja, solche elementaren Bewegungen von jungen Menschen, die schaffen das. Das heißt, wir können nicht davon ausgehen, dass dieser Prozess nicht weitergeht.

Lösungen bieten sich an dadurch, dass wir versuchen, einen Teil dieser massiven explosiven Bewegung vielleicht aufzufangen mit einzelnen Ländern, die bereit sind, mit uns auch das staatlicherweise zu verhandeln, dass man einige von dieser Bewegung "abschöpft" – in Anführungszeichen. Das könnte mit Ghana so sein oder mit anderen Ländern, in denen das Bewusstsein wächst bei Regierungen, dass sie sich um ihre Leute kümmern müssen.

Das Zweite ist: Selbst wenn wir eine ganz vorzügliche Politik hätten, wir schaffen es in europäischen Gesellschaften nicht, 18 Millionen junger Menschen aufzunehmen. Und das Dritte ist, das ist ein großer Verlust für diese Länder, ein Riesenverlust. Wir haben in Ouadibou ein kleines erstes Projekt, wo es möglicherweise einen Fingerzeig geben könnte, wie man es machen kann, wie man einen Teil davon vielleicht auch schafft. Wir haben junge Leute, die dort Berufsausbildung machen. Die kriegen ein Zertifikat. Das ist etwas, womit sie dann in ihren Ländern auch was bieten können ihren Familien und ihren Dorfgemeinschaften. Und wenn sie dann mit einem Mikrokredit zur Eröffnung eines Unternehmens ausgestattet werden, dann könnte ein Teil dieser jungen Leute dann doch den Mut haben, wieder zurückzugehen und in ihre alte Dorf- oder städtische Struktur einzukehren. Das wäre eine Möglichkeit, die man sehen könnte.

Maike Albath: Wir sprachen mit Rupert Neudeck und Uschi Eid über Fabrizio Gatti: "Bilal – Als Illegaler auf dem Weg nach Europa", aus dem Italienischen übersetzt von Friederike Hausmann und Rita Seuß, erschienen im Antje Kunstmann Verlag.

Wir haben jetzt noch Zeit für einen Buchtipp. Uschi Eid, was möchten Sie empfehlen?

Uschi Eid: Ich habe ein Buch mitgebracht, einen Roman von Rainer Wochele, "Der General und der Clown". Der General ist John F. Geisreiter, eigentlich die Figur des UNO-Generals Dallaire, der damals während des Völkermords in Ruanda war und mit zuschauen musste, wie fast eine Million Menschen umgebracht wurden. Aber der Roman spielt im Markgräfler Land, also im Südbadischen und im Schwarzwald, wo sich General Geisreiter erholen möchte und eigentlich ja den Drang verspürt, aus dem Leben zu scheiden, weil er mit dem Erlebten nicht zurande kommt.

Und da kommt Lissy Brändle, eine sehr lebensfreudige junge Frau aus der Friedensbewegung, mit dem Vater Tornado-Pilot, aber Mitglied bei Amnesty sie, und verliebt sich nun in diesen General, ohne zu wissen, dass er General ist, und holt ihn sozusagen wieder ins Leben zurück. Und das Buch ist voller Spannung auch, von Anfang bis zum Ende.

Maike Albath: Erschienen ist es bei Klöpfer & Meyer. Rupert Neudeck, Ihre Empfehlung?

Rupert Neudeck: Meine Empfehlung geht auf den größten Tausendsassa der deutschen Solarindustrie. Der heißt Frank Asbeck. Das ist ein Kerl, der hat seine Firma Solarworld so weit getrieben, dass er auch bereit ist und in der Lage ist, in Afrika zu investieren. Ich hoffe jedenfalls darauf, dass er das tut. Und sein Buch heißt "Sonne, was sonst?" und ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.

Maike Albath: Vielen Dank. Lesart Spezial aus dem Grillo-Theater in Essen geht für heute zu Ende. Ich bedanke mich bei dem Kulturwissenschaftlichen Institut, der Buchhandlung "Proust", der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung und dem Schauspiel Essen für die Zusammenarbeit und bei meinen Gästen Uschi Eid und Rupert Neudeck für ihre engagierte Teilnahme.

Am Mikrofon verabschiedet sich Maike Albath. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Rupert Neudecks Buch: "Die Kraft Afrikas – Warum der Kontinent noch nicht verloren ist" erscheint am 23.3.2010. Vorab-Besprechung mit freundlicher Genehmigung des Verlags C.H. Beck.