Hörbuch "Manhattan Transfer"

Panorama quälender Identitätssuche

Die Lower East Side von Manhattan
Die Lower East Side von Manhattan © AFP / Stan Honda
Von Andi Hörmann · 25.05.2016
John Dos Passos' 1925 erschienener Klassiker "Manhattan Transfer" verwebt kaleidoskopartig die Biografien verschiedener Personen mit der Topographie der Metropole. Leonard Koppelmanns Hörspielfassung nimmt kongenial cineastische Erzählmomente auf.
"Drei Möwen kreisen über den zerbrochenen Kisten, den Orangenschalen und verfaulten Kohlköpfen, die sich zwischen den rissigen Planken heben und senken..."
New York, Anfang des 20. Jahrhunderts. Beschrieben in poetisch-schönen Bildern, getragen von Tristesse und Melancholie, wird der Hafen zur Sehnsuchtsschwelle in eine bessere Welt. Dazu ein Potpourri aus Schicksalen und Nationalitäten.
"...Bist du einer von uns?"
"Ich bin nicht katholisch und nicht protestantisch. Ich habe kein Geld und keine Arbeit. Ach Scheiße, ich fahre nach Senegal und werde ein Nigger."
"Du siehst ja auch schon wie einer aus."
"Darum nennen mich alle Kongo."
"Ach, das ist doch Quatsch. Die Menschen sind alle gleich, nur dass manche es zu etwas bringen und andere nicht. Darum bin ich nach New York gekommen."
"Vor 25 Jahren habe ich auch so gedacht. Wenn du mal so alt bist wie ich, weißt du es besser."
"Draußen strömte zitronengelbe Morgenröte durch die leeren Straßen, tropfte von Simsen, Feuertreppengeländern und Mülltonnendeckeln, und zerschlug die Schattenblöcke zwischen den Gebäuden."
In "Manhattan Transfer", diesem 1925 erschienenen Klassiker, verwebt John Dos Passos kaleidoskopartig die Biografien eines Einwanderers, eines Gewerkschafters, eines Mörders und einer jungen Frau mit der Topographie der Metropole. Entstanden ist so ein voyeuristisches Wimmelbild aus Vergnügen und Vergänglichkeit, sozialem Abstieg und prassendem Reichtum, aus Lust und Laster. Ein Panorama quälender Identitätssuche und das, als der Jazz seine Hochzeit erlebte.
"Gleitende Sohlen. Helle Lichter. Diffuse, rosige Gesichter. Zupackende Arme, angespannte Oberschenkel, hüpfende Füße. Gleitende Sohlen, das lockende Schnurren des Saxofons. Sohlen gleiten im Takt des Schlagzeugs, der Posaune, der Klarinette. Füße, Beine, Wange an Wang. Sohlen gleiten..."

Verschachteltes Puzzle verschiedener Stimmen

Leonard Koppelmann hat den über 300 Seiten dicken Roman "Manhattan Transfer" aufwändig als sechsstündiges Hörspiel inszeniert. Gesprochen von 50 namhaften Schauspielern. Großartig verwoben zu einem verschachtelten Puzzle aus gebrochenen Biographien, Stadtbeschreibungen und verhackstückten Jazz-Kompositionen.
Diese akustische Umsetzung funktioniert wie ein Film. Die Jazz-Variationen des Komponisten Hermann Kretzschmar untermalen die Bilder. Geben ihnen eine eigene, mitreißende Dynamik.
Schon der Roman lebt von den cineastischen Erzählmomenten, doch in diesem Hörspiel entstehen durch die vielen Sprecherinnen und Sprecher, durch die unterschiedlichen Lebensgeschichten und die Musik lebendige Bilderwelten. Getragen von Vielstimmigkeit und großen Gefühlen:
"'Ich bin sie leid, die Feilchen. So nehmt sie doch endlich weg...'
Er beschleunigte seine Schritte. Die Straße führte einen Hügel hinauf.
Mutter hatte einen Schlaganfall gehabt. Und jetzt ist sie beerdigt.
Er wusste gar nicht mehr, wie sie ausgesehen hatte.
Sie ist tot. Das ist alles..."
Leben trifft auf Tod. Liebe trifft auf Trennung.
"Wenn Du mein Lieb und ich uns trennen müssen, dann will zum letzten Mal ich Dich küssen..."
Letztendlich erzählt "Manhattan Transfer" von der Schwierigkeit der Selbstfindung in einer sich rasant verändernden Welt. Zeitlos, aus der Zeit gefallen, überzeugt diese Hörspielfassung auf ganzer Linie. Echtes Kino für die Ohren eben! Besser kann es nicht gelingen.
"Es gäbe so viele Leben zu leben, wenn es dir nur egal wäre. Was müsste dir egal sein? Die Meinung der anderen, Geld, Erfolg, Gesundheit."

John Dos Passos: "Manhattan Transfer"
Regie: Leonard Koppelmann
Komposition: Hermann Kretzschmar
Sprecher: Stefan Konarske, Max von Pufendorf, Maren Eggert, Marc Hosemann, Ulrich Matthes, Ulrich Noethen, Axel Prahl
Hörbuch, Hamburg 2016
6 CDs Seiten, 20,- EUR

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