Hörbuch

Das ewige Wundern

Von Andreas Schäfer  · 08.07.2014
Franz Hessel war einer der besten Kenner Berlins und einer seiner liebevollsten Beschreiber. Erstmals erscheint nun ein Hörspiel, das auf den Texten seines berühmtesten Buches basiert. "Spazieren in Berlin" ist ein Kleinod, bei dem man mit jedem neuen Hören auch immer wieder Neues entdeckt.
"Langsam durch belebte Straßen zu gehen, ist ein besonderes Vergnügen. Man wird überspült von der Eile der anderen. Ein Bad in der Brandung. Hierzulande muss man müssen, sonst darf man nicht. Hier geht man nicht wo, sondern wohin."
So spricht Franz Hessel, der in Deutschland weltberühmte Flaneur aus den Zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts – über Berlin. Das heißt, es staunt der Schauspieler Sebastian Weber über die Texte von Franz Hessel und aus den Texten heraus.
"Flanieren ist eine Art Lektüre der Straße. Wobei Menschengesichter, Auslagen, Schaufenster, Café-Terrassen, Bahnen, Autos, Bäume zu lauter gleichberechtigten Buchstaben werden, die zusammen Wörter, Sätze und Seiten eines immer neuen Buches ergeben ..."
Das erste Hörspiel nach Texten von Franz Hessel
Und der Hörer staunt auch. Nicht nur über die Frische und ausgeruhte Brillanz dieser Miniaturen. Sondern vor allem darüber, dass dies tatsächlich das erste Hörspiel nach Texten von Franz Hessel sein soll, 2014, fast 100 Jahre nachdem der Schriftsteller, Übersetzer und Lektor Berlin 1929 als rätselhafte Landschaft erkundete. Erst der Dramaturg und Regisseur Moritz von Rappard kam auf die Idee zum Hörspiel. Seine Methode ist dabei so einfach wie wirkungsvoll.
Von Rappard bat zehn Mitglieder des Composers' Orchestra Berlin um Stücke oder Improvisationen zu den Texten und lud sie und den Sebastian Weber zu einer Session ein. Erst zur Aufnahme im Studio trafen Musiker und Schauspieler zusammen, was dem Hörspiel atmosphärische Dichte und Lebendigkeit verleiht. Mal treffen die Jazz-Kompositionen den Ton der 20er-Jahre, mal bilden sie das Tempo der Großstadt oder die Dynamik der Verwandlung ab.
Hessel war ein inniger Berlin-Liebender, aber auch ein dezenter. Er war in Berlin zwar aufgewachsen, hatte aber lange in Künstlerkreisen in München und Paris gelebt. Als er in den 20er Jahren mit seiner Frau Helen in die Berliner Friedrich Wilhelm Straße zog und als Lektor beim Rowohlt-Verlag zu arbeiten begann, fühlte er sich für die Stadt geradezu verantwortlich.
"Ich muss eine Art Heimatkunde treiben, mich um die Vergangenheit und Zukunft dieser Stadt kümmern. Dieser Stadt Berlin, die immer unterwegs ist, immer im Begriff, anders zu werden."
Hessel erkundet das Sechstagerennen, wandert den Landwehrkanal entlang, besucht Obdachlosenasyle, alte Flohmärkte. Er sucht vor allem die unscheinbaren Zwischenorte und Nischen.
"Wo das Alte verschwindet und Neues entsteht, siedelt sich in den Ruinen die Übergangswelt aus Zufall, Unrast und Not an. Wer hier die Schlupfwinkel kennt, kann in seltsame Wohnstätten finden und führen, schaurige Zwischendinge von Nest und Höhle."
Sprecher lässt Hessel schlicht kapriziös wirken
Neugier, analytische Prägnanz, aber auch spöttische Distanz zeichnen Hessels Blick aus. Im größten Rummel behält er die Ruhe des Melancholikers. "Es ist eine Art Mannesschwäche in diesem Mann...es ist etwas Lebensuntüchtiges", befand Tucholsky, mehr fasziniert als irritiert, und Sebastian Weber scheint sich diese Einschätzung sehr zu Herzen genommen zu haben. Er spricht Hessel gedämpft, tastend – mit forciertem Wundern und künstlicher Kindlichkeit. Das passt einerseits zu Hessels Wahrnehmungsweise, die das Rätselhafte und Bestaunenswerte an den Phänomen hervor streicht. Es verleiht den Texten aber auch mitunter eine eintönige Gleichförmigkeit oder wirkt schlicht kapriziös.
"Rings an den Tischen wird geflüstert wie im besten Europa. Man spricht nämlich im neuen Europa nicht mehr wie im alten. Man ist hier wie bei einem Empfang."
Trotz der Einwände: "Spazieren in Berlin" ist ein Kleinod, bei dem man mit jedem neuen Hören auch immer wieder Neues entdeckt. Auch wenn Schupos und Leierkastenmänner ausgestorben sind. Das Berliner Lebensgefühl scheint erstaunlich zeitlos. Es ist diese Mischung aus rauschhaftem Zukunftsversprechen ...
"Der künftige Potsdamer Platz wird von 12-geschossigen Hochhäusern umgeben sein. Das Scheunenviertel verschwindet. Um den Bülowplatz, um den Alexanderplatz entsteht in gewaltigen Baublöcken eine NEUE Welt ..."
... und die Trauer darüber, dass jedes neue Berlin nach kurzer Zeit schon wieder das alte ist.
"Friedrichstraße. Das war mal das Berlinische Zentrum der Sündhaftigkeit. Das schmale Trottoir war mit einem Teppich aus Licht belegt, auf dem sich die gefährlichen Mädchen wie auf Seide bewegten... Bild und Begriff von all dem ist nun längst historisch geworden. Und in der heutigen Friedrichstraße gespenstert wenig von dieser Vergangenheit. Ihr Nachtleben ist ja längst von den westlichen Boulevards überboten."
Der nervöse Stolz, dabei zu sein, vermischt mit schnoddriger Gleichgültigkeit und einer unterschwelligen Enttäuschung: Es ist dieses Innere "Ach, Berlin", das Franz Hessel wie kaum jemand in Worte fassen konnte - und das uns aus dieser gelungenen Adaption ur-vertraut und wie von heute entgegenkommt.