Höhenflug für alte Diät

28.05.2005
Die Deutschen Gesellschaft für Ernährung greift ihre alte Klage im neuesten Bericht wieder auf und stellt fest: die Deutschen essen "zu viel und zu fett". In ihrer Empfehlung werden ausgerechnet jene Produkte empfohlen wie Brot, Kartoffeln und Nudeln, die nach der bekannten und wieder auflebenden Atkins-Diät als Kohlenhydratlieferanten die klassischen Dickmacher sind. Was soll der ernährungsabhängige, figurbemühte Mensch mit diesen Informationen machen?
Low Carb - High Profit

Die Deutschen essen "zu viel und zu fett”, ist im aktuellen Ernährungsbericht der DGE zu lesen. Inzwischen dürfte diese Rüge nicht nur auf taube Ohren stoßen, sondern auch Zweifel wecken und Widerwillen provozieren. Denn seitdem neue Varianten der altbekannten Atkins-Diät ungeahnte Höhenflüge feiern, sind viele Bürger davon überzeugt, dass ausgerechnet die von der DGE empfohlenen Sättigungsbeilagen wie Kartoffeln, Brot und Nudeln dick machen. Laut "Low Carb”, "Glyx-Diät” oder "LO-GI-Methode” sollen die Kohlenhydratlieferanten für allerlei Zivilisationskrankheiten verantwortlich sein. Sie in sich hineinzuschaufeln, so der Tenor, bedeutet ein Schaufeln am eigenen Grab.

Die Zauberformel der neuen Diät-Gurus ist eigentlich uralt. Sie wurde 1862 vom Hals-Nasen-Ohren-Arzt William Harvey ersonnen und ein Jahr später unter dem Titel Letter on Corpulence als Buch veröffentlicht. Schon Harvey forderte auf dem Weg zu Schlankheit und Gesundheit den Verzicht auf Kohlenhydrate. Bei Low Carb ist lediglich ein biochemisches Detail hinzugekommen: Die kohlenhydratarme Kost soll den Blutzuckerspiegel niedrig halten.

Kalorienbremse Tageszeitung

Ein heftiger Streit der Fachwelt fördert das Revival der Idee. Immer mehr Experten sind davon überzeugt, dass die langjährigen Kampagnen gegen das Fett zur Übergewichts- und Diabeteswelle unserer Zeit geführt und damit das Gegenteil von dem erreicht haben, was sie einst versprachen. Dennoch werben treue Low-Fat-Eiferer weiter für die Fettrestriktion und liefern sich in Internetforen so manchen Schlagabtausch mit Low-Carb-Verfechtern. Wenn es darum geht, die Heerscharen von Diätwilligen um ihr Geld bringen, schenken sich beide Lager anscheinend nicht das Geringste.

Dass Low Carb derzeit die Nase vorn hat, zeigen Bücher wie Glyx-Diät oder Low-Carb-Kost, die in den Bestsellerlisten Spitzenplätze belegen. In ihnen präsentiert sich mancher Autor als personifiziertes Erfolgsprodukt seiner Diät und verrät dem geneigten Leser Geheimtipps wie: "Zu Hause trinke ich nach dem Aufstehen meist Kaffee mit Milch und begehre dazu nur eines - eine Tageszeitung. Sobald der Hunger einsetzt, esse ich saisonbedingt entsprechendes frisches Obst und dazu einen Becher Buttermilch. Das sättigt und befriedigt mich...” Diese Worte stammen nicht etwa von einer essgestörten Ernährungsberaterin, sondern aus der Feder von Nicolai Worm, dem einstigen honorigen Verfechter von Diätlos glücklich und Nie wieder Diät. Nun aber werden ihm nach eigenem Bekunden alle Hosen zu weit - dank Buttermilch und Zeitung!

Wunderwaffe Sponsoring

Doch wie steht es um die vermeintlichen Erfolge der wiederbelebten Atkins-Diät? Ob der millionenfach verkaufte Buchklassiker den Speck der Leser wirklich schmelzen ließ, wurde nie sauber dokumentiert. Sicher ist hingegen, dass Atkins als cleverer Geschäftsmann 1989 eine Firma gründete, die seither all jenen Produkte und Dienstleistungen anbietet, die der brotlosen Kost frönen wollen. Zum Unternehmen Atkins Nutritionals gehört auch eine Stiftung, die gezielt Ernährungsforscher sponsert. Immerhin erhielt die Harvard University im März 2001 aus diesem Topf 250 000 Dollar. Laut Homepage der Atkins Foundation gehören auch die Duke University und die University of Connecticut zu den Mittelempfängern. Wen wundert es also, dass Low Carb in den Studien, die an diesen Hochschulen durchgeführt wurden, besser abschneidet als andere Diäten?

Inzwischen wurde Atkins erheblich "modernisiert”. Die neuen Diäten sind nicht nur kohlenhydratreduziert, sondern geizen den Lippenbekenntnissen ihrer Protagonisten zum Trotz auch mit Fett. Italienische Salami ist nur scheibchenweise erlaubt, das magere Fischfilet ersetzt den Schweinsbraten und die Rezepte der diversen Kochbücher sind vor allem eins: kalorienarm. Berge an Grünfutter in Form von Salaten und Gemüse, sparsam beträufelt mit Öl, und Obst, möglichst zuckerarm, bilden beispielsweise die Basis der Low-Carb-Pyramide von Nicolai Worm. Was folgern wir daraus? Auch Worm glaubt nicht an den alleinigen Verzicht auf Kohlenhydrate. Damit ist es einerlei, ob er Zeitung liest oder gleich Fettaugen zählt.

In den USA hat Low Carb nach einem fulminanten Erfolg in den Jahren 2003/2004, als die Steakhäuser boomten und die Pizzerien eingingen, mittlerweile große Akzeptanzprobleme. Atkins Nutritionals kündigte bereits einen Stellenabbau an. Offensichtlich ist der Hamburger zwischen zwei Brötchenhälften langfristig doch beliebter als zwischen zwei Salatblättern.


Entnommen aus: EU.L.E.n-Spiegel 2005; Heft 1; S.1-2