Hochkultur unter dem Spardiktat

Moderation: Claus Leggewie · 16.12.2012
Wie steht es um das Theater in Deutschland? Und warum verödet die Musikkultur? Darüber debattieren der Intendant der Ruhrtriennale, der Komponist Heiner Goebbels, und der Journalist Holger Noltze.
Claus Leggewie: Guten Tag zu einer neuen Ausgabe von Lesart Spezial, der politischen Buchsendung von Deutschlandradio Kultur, aus dem Café Central im Schauspiel Essen, gemeinsam mit der Buchhandlung proust und unserem Medienpartner, der Westdeutschen Allgemeinen. Ich bin Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts.

Wir werden heute fünf Jahre alt und freuen uns über unser treues Publikum hier im Schauspiel Essen und in ganz Deutschland. Deswegen wollen wir auch heute wieder zum Thema "Kulturland Deutschland. Eine Ermunterung" eine spannende Buchpräsentation mit zwei hochinteressanten Gästen machen.

Im Theater reden wir übers Theater, speziell über das Musiktheater, und die Bedeutung, die Musik und darstellende Künste, vielleicht auch die Künste und Kultur generell in unserer Gesellschaft haben oder vielleicht nicht mehr haben, welche Rolle also ästhetische Erziehung, wie Friedrich Schiller das mal genannt hat, spielen sollen in einem reichen Land wie Deutschland, das so viele Spielstätten, Verlage, Feuilletons hat wie kaum ein anderes.

Zwei Gäste können da bestens Auskunft geben. Bei uns ist der Intendant der Ruhrtriennale Heiner Goebbels, Musiker, Komponist, Tondichter, hätte ich fast gesagt, Soundinstallateur, Regisseur, Professor der angewandten Theaterwissenschaft in Gießen, Leiter der Hessischen Theaterakademie, die dieses Jahr mit dem hoch renommierten Ibsen-Preis ausgezeichnet. Und zu einem runden Geburtstag, den wir jetzt nicht verraten, sind gesammelte Texte zum Theater von ihm erschienen unter dem Titel "Ästhetik der Abwesenheit". Auf dem Umschlag sieht man einen freundlich lachenden Theatermann, aber man sieht ihn auch wieder nicht, weil er sich die Hand vor Augen hält. Heute ist er leibhaftig da. Einen schönen guten Tag in Essen.

Auch das zweite Buch, das wir heute vorstellen und über das wir reden wollen, hat einen etwas geheimnisvolles Umschlagbild, die Hand, die von hinten den roten Vorhang aufzieht vor einer dunklen Bühne. Es stammt von Holger Noltze, Journalist, Moderator beim Westdeutschen Rundfunk, Professor für Musik und Medien an der Technischen Universität Dortmund und Autor von Büchern über Wagner, Goethe und die, wie er es nennt, "Leichtigkeitslüge", die der moderne Musikbetrieb auftischt, was er jetzt dann in einer Streitschrift über das "Musikland Deutschland.", Fragezeichen, "Eine Verteidigung" noch mal pointiert zusammengefasst hat. Auch Ihnen herzlich willkommen in Ihrer Geburtsstadt Essen.

Holger Noltze: Ja, das ist schön. Dankeschön.

Claus Leggewie: Beide Gäste lehren auch das Fach, das sie beherrschen. Herr Goebbels: "Wenn vom Baum schon die Rede ist, muss man ihn auf der Bühne nicht mehr zeigen." – Warum nicht?

Heiner Goebbels: Weil ich glaube, dass eine der wichtigsten menschlichen Eigenschaften die Imagination ist. Und ich glaube, dass man gerade im Unterschied zu den Medien, die uns doch oft mit Bildern zustellen, gerade das Theater sich darauf besinnen könnte, uns nicht die Dinge so zu zeigen, wie sie sind, sondern uns Spielräume zu eröffnen.

Deswegen ist auch das Cover von Ihrem Buch, Herr Noltze, natürlich wunderbar. Man sieht eigentlich fast nichts, einen Vorhang mit der Hand. Und alles andere spielt sich im Kopf ab. Von daher glaube ich, der wesentliche Impuls für das Buch von mir war, dass das Theater sich eigentlich reduzieren kann in seinen Mitteln. Es kommt nicht mehr darauf an, dass die Theatermacher Phantasie haben und die Bühnenbildner Phantasie haben, sondern dass sie die erzeugen können, dass sie Räume eröffnen, die zum Beispiel für die Imagination, aber auch für Widersprüche, für andere eigene Erlebnisse, die man mit einbringt als Zuschauer, die geöffnet werden für die Betrachter. Und das ist eigentlich der Impuls.

Wenn Sie sagen, ich würde mein Fach beherrschen und deswegen lehren, dann ist, glaube ich, das Gegenteil der Fall. Also, gerade in der Lehre versuche ich, nicht zu wissen, wie es lang geht, sondern den Studierenden zu helfen, zu einer eigenen Ästhetik zu kommen. Das heißt, dass man immer auch deren künstlerische Arbeiten nicht präfiguriert, sondern dass man eigentlich mit ihnen, wenn die Theatermittel wieder neu ausgehandelt werden, was in der experimentellen Forschung so sein sollte, dass man im Grunde mit ihnen bei Null anfängt und versucht rauszukriegen, was funktioniert.

Claus Leggewie: Das Schöne an Ihrem Buch ist, dass zu den Teilen, die es hat, eben auch Texte zur Ausbildung gehören, wo Sie Ihre Philosophie, die Sie gerade schon kurz skizziert haben, darlegen. Es gibt Texte zu Stücken, die Sie gemacht haben. Jetzt probiere ich mal was. Zum Beispiel zu Ihrer Eraritjaritjaka.

Heiner Goebbels: Ziemlich gut.

Claus Leggewie: … und vor allem zu dem Stück "Stifters Dinge", auf die wir vielleicht noch kommen können, weil sie natürlich zu dem Titel Ihres Buches "Ästhetik der Abwesenheit" ziemlich gut passt, und dann eben zu Künstlern, die Sie beeinflusst haben, die Sie besonders schätzen. Da ist bekanntlich Rimini Protokoll und Bob Wilson spielen da eine Rolle, aber eben auch Jean-Luc Godard oder eben vor allen Dingen das Ensemble Modern, mit dem Sie sehr viele Dinge gemeinsam gemacht haben.

Kann es sein, dass Ihr Theater auch so etwas versucht, wie vom Visuellen, was eigentlich am Theater ja besonders zunächst mal ins Auge springt, hin zum Akustischen, vielleicht von dem, was man die Aufführung eines Stückes nennt, hin zum Performativen?

Heiner Goebbels: Dann haben Sie auf jeden Fall mein Vorwort gelesen, weil ich darin auch bemerke, dass möglicherweise die Idee der Abwesenheit sich vor allen Dingen auf das Visuelle richtet und im Grunde mich in der Arbeit, weil ich auch Komponist bin und Musiktheater mache, eher so etwas wie eine Präsenz des Akustischen ... , weil das Akustische aber auch die Bilder nicht besetzt, weil das Akustische offener ist, weil vor allem Musik offener ist als Sprache. Und das ist, glaube ich, ein wichtiger Impuls, was nicht heißt, dass die Stücke keine Visualität haben, die ich zum Beispiel selber mache, aber dass die Visualität nicht identisch ist mit dem, was wir hören, dass sozusagen das Hören und das Sehen nicht zusammenfallen muss, weil dann in dem Zwischenraum, der sich dazwischen öffnet, möglicherweise das sich ereignet, wovon wir vorhin sprachen, die Imagination.

Claus Leggewie: Herr Noltze, ist das nicht schrecklich für Schauspieler?

Holger Noltze: Ja, ich hab' ja den Satz gefunden: "Sagen Sie mal einem Schauspieler, er soll nix machen." – Das geht gar nicht. Da habe ich ein bisschen drüber nachgedacht.

Heiner Goebbels: Das steht aber gar nicht im Buch.

Holger Noltze: Doch.
Heiner Goebbels: Ja? Ich dachte, da steht drin, der Schauspieler wäre dann gut, wenn man ihn nicht sieht.

Holger Noltze: Der steht auch drin. Also, ein Satz steht dreimal drin, Gertrude Stein: "Everything which is not a story could be a play.” Und wenn man den dreimal zitiert, dann hat der richtig was zu sagen. Und dieses Buch macht uns tatsächlich ein bisschen zu Goebbels-Verstehern. Das leistet es unbedingt. Es sind Aufsätze, Sie haben es ja schon gesagt. Einmal kreist es um das eigene Werk, einmal kreist es um andere, im dritten Teil dann um die Ausbildung, also die Weitergabe des Wissens von Theater.

Ich habe gedacht, "Ästhetik der Abwesenheit"? Entschuldigung, haben Sie es ein bisschen kleiner? Dann habe ich gedacht, bei mir steht ja so was wie eine Landesverteidigung drauf, also halt dich mal zurück. Sie haben ein Missbehagen, was große Gesten angeht. Jetzt kommt es aber so immer wieder, dass ich dachte, ach die ständige Negation der großen Geste ist ja fast selbst schon wieder eine. Also, das ist ein Aspekt, der mich irgendwie an dem auch interessiert – Herstellung von Bedeutung durch Nichtzeigen.

Ich glaube, der Punkt, wo wir möglicherweise nicht so beieinander sind, ist das Verhältnis zu dem anderen. Das ist sehr stark ein Buch auch der Abgrenzung. Sie grenzen sich von Dingen ab, wo ich erstmal sagen würde, ja, es ist doch Theater, es gehört doch dazu, also, Präsenz, Intensität. Es ist sehr lehrreich, da mal drüber nachzudenken, dass man vielleicht Intensität gerade nicht haben möchte, um diese inneren Prozesse in Gang zu setzen. Psychologie, Identifikation, Ausdruck womöglich, Kohärenz, eine Geschichte erzählen oder eben eine Geschichte nicht erzählen.

Claus Leggewie: Die Wirklichkeit repräsentieren.

Holger Noltze: Die Wirklichkeit repräsentieren – alle diese fürchterlichen Dinge …

Heiner Goebbels: Was sowieso nicht geht.

Holger Noltze: .., was nicht geht. Ich dachte, es ist ein bisschen wie die Zauberkünstler. Es gibt Zauberkünstler, die machen die Tricks so, dass man immer merkt, dass Sie wissen, dass wir wissen, dass es ja nur Zauberkunststücke sind. Das finde ich sehr raffiniert. Und das ist für mich eine Raffinesse, die ich zwar nicht an jedem Abend im Stadttheater, auch nicht bei meinen frühen Abenden in diesem Theater erleben kann, aber manchmal dann schon. Und die arbeiten mit all den Dingen, die Sie verschmähen und die Sie auch gut begründet verschmähen.
Also, man kann dadurch, dass es sozusagen jetzt kein Lehrbuch ist, sondern dass es den Gegenstand von verschiedenen Seiten einfasst, reichert sich das wirklich an. Es wird auch wirklich plausibel.

Meine Frage ist: Was ist mit dem anderen? Ist das, was Sie tun, nicht automatisch ein bisschen sozusagen Teil einer – mal böse gesagt – Premiumwelt, wo ich also international tolle Dinge tue, wo ich immer einen Raum abgrenze gegen das andere. Und in diesem Raum passieren wunderbare Dinge. Ich selber war Zeuge wunderbarer Dinge, die ich überhaupt nicht missen möchte, aber ich möchte das andere eben auch nicht missen. Ich möchte auch mal da sitzen und sozusagen mich gerade an der Fadenscheinigkeit, an der Unsauberkeit eines Stadttheaters erfreuen.

Heiner Goebbels: Das ist auch der Moment, wenn ich Fernsehen gucke. Ich gucke gerne bewusst schlechtes Fernsehen zum Beispiel, um mich gut zu fühlen, um souverän zu sein, zu sagen, was für ein Quatsch!, oder um die Dialoge schon vorherzusagen, weil sie so vorhersehbar sind. Das sind durchaus legitime Bedürfnisse, Herr Noltze, aber ich arbeite ja nicht seit 30 Jahren im Premiumbereich, sondern habe in der Batschkapp selber Konzerte veranstaltet und in Frankfurt und sozusagen den Bereich lediglich immer ein bisschen erweitert.

Trotzdem haben Sie völlig Recht. Das Buch ist ungerecht. Es ist polemisch. Und es meint es aber nicht so. Ich will niemandem was wegnehmen, sondern ich will nur meinen Punkt, der mich interessiert. Und deswegen ist der Kern, es sind ja auch die eigenen Arbeiten zunächst mal, die den Punkt stark machen, weil, der Punkt ist unterrepräsentiert. Also, wir sprechen ja über – Sie nennen das – Premiumbereich. Man kann aber auch sagen, das ist eine freie Szene oder eine Art, völlig anders Theater zu produzieren. Und der spielt in Deutschland vielleicht vom Budget her fünf Prozent oder drei Prozent des gesamten kulturellen Subventionsetats.

Meine Stücke werden im Jahr vielleicht ungefähr 100 Mal gespielt. Aber davon sind fünf in Deutschland. Das ist wirklich eine Ausnahme. Deswegen muss ich den Punkt vielleicht polemisch etwas stärker machen, als er gemeint ist.
Claus Leggewie: Machen Sie es doch mal am Beispiel von Stifters Dinge, was ja vielleicht der eine oder andere schon mal gesehen hat, deutlich, wovon Sie sich nicht nur abgrenzen, gewissermaßen das andere polemisch oder auch ironisch zurückweisend, sondern das, was Sie machen im Versuch, jetzt auch den Studierenden in einem Fach, das Sie nicht beherrschen, sondern wo Sie sich beherrschen, den Studierenden etwas aufzuzwingen, was Sie ihnen eigentlich vermitteln dabei, wie Theater sein könnte.

Darauf will ich auch ein bisschen raus heute, dass wir natürlich zeigen, dass wir es hier nicht nur mit Theater zu tun haben, sondern auch mit einer bestimmten Form, man sagt ja heute immer, kultureller Bildung. Ich neige dann zu dem wirklich altmodischen Ausdruck ästhetische Erziehung. Aber, worauf läuft’s raus?

Heiner Goebbels: Stifters Dinge war im Grunde ein gewisser radikaler Endpunkt von einer Entwicklung, die mich bei anderen Stücken selbst überrascht hat. Genau die Punkte, die Sie zitiert haben, wenn ein Schauspieler mal für einen Moment nicht auf der Bühne ist oder hinter irgendeinem Objekt verschwindet oder vielleicht sogar nur noch über eine Videokamera zu sehen ist, dann waren gerade die Momente, das konnte ich bei vielen Aufführungen beobachten, wo das Publikum am meisten involviert war, hoch interessiert vorne auf der Vorderkante der Stühle saß. Und das waren die Momente, wo ich vorher dachte, oh, ob das mal gut geht.

Zum Beispiel auch bei Eisler-Material, das ist ein Stück, wo die Bühne die ganze Zeit leer ist uns selbst Bierbichler nur hinten an der Wand 60 Minuten lang auf einer Bank sitzt. Und da sagt natürlich Peyman zu mir: Ich hätte den vorne an die Rampe gestellt. – Da ist man erstmal, wenn man anfängt Regisseur zu sein, und ich mache das noch nicht so lange, 20 Jahre höchstens, da ist man erst mal unsicher. – Geht das?

Aber da ich mir zum Grundsatz gemacht habe, Theater so zu machen, dass ich nur das mache, was übrig bleibt, wenn ich all das weglasse, was ich hasse, musste ich diesen Weg gehen. Und dann habe ich eben gemerkt, dass es interessant ist, wenn man viel weglässt. Und irgendwann haben wir den Schauspieler weggelassen. Und Stifters Dinge ist ein Stück tatsächlich nur für Klaviere, Wasser, Nebel, Regen, Eis und Metalle und Steine. Und das beschreibe ich auch in einem dieser Texte, am Ende dieser Aufführung, wie die Leute zu einem kommen und sagen: Endlich niemand auf der Bühne, der mir sagen will, was ich denken soll.

Es gibt ein sehr großes Redebedürfnis, gerade nach diesem Stück. Ich habe viele E-Mails, wo mir die Menschen das Stück erklären – und aus gutem Grund, weil, ich hab' das nicht alles, ich hab keine Vision von dem Stück gehabt. Aber offenbar trifft das auf ein Bedürfnis, selbst vorzukommen in dem, was sich da auf der Bühne ereignet und eben nur zu rezipieren. Und dieser Freiraum entsteht einfach erst, wenn kein Körper mehr da ist und kein Schauspieler mehr da ist oder Sänger oder Protagonist, der als Zentrum alle Blicke auf sich zieht.

Das würde ich nicht noch mal machen, ich habe danach wieder Stücke gemacht mit Menschen, aber es war eine wichtige Erfahrung, die auch zu diesem Buch geführt hat.

Holger Noltze: Ich könnte ja jetzt polemisch fragen: Wie viel kann ich denn noch weglassen? Am Ende sage ich, kein Schauspieler mehr, es ist gar nix passiert, ich bin auch gar nicht hingegangen.

Heiner Goebbels: Das beschreiben Sie ja in Ihrem Buch.

Holger Noltze: Das kann auch passieren. Aber das andere ist ja, dass ich glaube, dass das nur deshalb funktioniert, weil man sozusagen auf das andere eingestellt ist.

Heiner Goebbels: Weil man eingestellt wird von unserer Umwelt, von unserer medialen Umstellung und der Totalität dessen. Ich komme jetzt gerade durch die Fußgängerzone hier. Da bin ich natürlich volle Kanne eingestellt.

Holger Noltze: Wir sind total eingestellt. Wo ich mich immer ein bisschen dran abarbeite, ist sozusagen diese Behauptung dieses Raums, der wirklich – und Sie machen es ja auch deutlich – sagt: Ich bin das andere von der Außenwelt. Die Außenwelt ist so, wie Sie gerade sagen. Ich komme hier raus und dann will ich jetzt hier drin einen Raum haben, der wirklich das andere ist.

Und was dann passiert, ist, Sie können jetzt einen Gartenzwerg auf die Bühne stellen. Und der ist aber dann kein Gartenzwerg mehr, sondern da passiert richtig was.

Heiner Goebbels: Der wird aufgeladen.

Holger Noltze: Der wird wahnsinnig aufgeladen. Ich will das gar nicht so pauschal kritisieren…

Heiner Goebbels: Das ist übrigens eine gute Idee, ich werte es mal auf.

Holger Noltze: Ja, Sie können. Wir reden dann nachher noch mal drüber. Aber ich weiß da nicht, ob der Gartenzwerg so aufgeladen sein soll. Also, ich sympathisiere sehr mit der Idee der Dinge und Stifter und so, dass ich also das Ding erstmal anschaue und dass ich in einen Zustand der Anschauung so komme. Ich hab das auch erlebt an einem Goebbels-Abend, dass zwei Damen hinter mir irgendwie angestrengt anfingen zu reden. Die mussten reden. Die standen unter Sprechzwang, weil der Bühne nicht gesprochen wurde.

Also, es funktioniert. Ich frag mich nur, wie weit kann es funktionieren. Und kann ich so weit gehen, jetzt da drüber zu schreiben - "Ästhetik". Ästhetik heißt für mich Lehre und es ist ein System und es wird irgendwie so was Umfassendes sein. Für mich ist das Schöne, das ist nebeneinander. Für mich ist das sehr Schöne, dass es jetzt eine RuhrTrienale gibt, wo ich diese Dinge sehen kann, die ich sonst nicht sehen kann.
Für mich ist aber auch wunderbar, dass es neben diesen – ich sage mal nicht – Premium, neben diesem Festival auch so eine Art von Landschaft drum rum gibt.

Heiner Goebbels: Absolut.

Holger Noltze: Wo die für Sie wahrscheinlich merkwürdigsten …, wie schlechtes Fernsehen. Aber ich meinte das übrigens nicht, schlecht ist gut im Sinne von Trash, sondern ich glaube, dass man mit den Mitteln des traditionellen Theaters auch so umgehen kann, dass man sozusagen durchgucken kann und dass uns diese Geschichten auch schon was erzählen.
Also, schon Sympathie, aber ich möchte es gerne ein bisschen in dieser Offenheit dann auf das ganze System angewendet wissen.

Claus Leggewie: Die Sache wäre ein bisschen anders, wenn man zeigen könnte, dass das Publikum in den Stücken, in denen Abwesenheiten eine Rolle spielen, dass es in der Weise, wie Sie es ja gerade selbst beworben haben, auch mitgeht in einer Weise, wie sie es vielleicht bei dem klassischen Theater nicht mehr unbedingt tun.
Die Frage ist ja sehr genau die, ob das, was Sie, Herr Noltze, als Premiumbereich geschildert haben, ob das in eine Landschaft reingeht, wo eben einige wenige sich eine besondere Form des Genusses, würde man sagen, im Verhältnis zu dem klassischen Theater etwas pervers, einen pervertierten Genuss reinkommen lassen, der Rest aber sozusagen in möglichst das konventionellste Musical-Theater geht und der sonstige Rest eben nicht mehr geht.

Was Ihre Behauptung ist und was Sie in der Ausbildung vermitteln wollen, jedenfalls, wenn ich die Texte richtig verstehe, ist das eigentlich die Möglichkeit, das Publikum zu faszinieren, und es wird spannend, fürs Publikum zu machen.

Heiner Goebbels: Das ist eine Möglichkeit. Ich würde es nicht verabsolutieren. Ich glaube auch nicht, dass es die einzige Art ist, wie man Theater macht. Ich finde auch die Landschaft sehr reich und wichtig. Aber ich glaube, dass tatsächlich solche Tendenzen jetzt eine größere Chance haben, auch Tendenzen solcher wieder Entschleunigung, das Tempo rauszunehmen und nicht das Tempo des Fernsehens zu kopieren auf der Bühne und solche Dinge, dass solche Tendenzen jetzt eine größere Chance haben, dass überhaupt Live-Kunst wieder eine größere Chance hat, dass die direkte Begegnung mit anderen Körpern oder mit anderen Erfahrungen, wie zum Beispiel bei 12 Rooms während der Ruhrtriennale im Museum Folkwang, dass solche Direktbegegnungen eine größere Rolle spielen werden. Das glaube ich. Ich bin kein Kulturpessimist, sondern ich glaube, es gibt immer Gegenbewegungen. Und das könnte zum Beispiel eine solche sein.

Claus Leggewie: Stichwort Kulturpessimist – Herr Noltze. Für ein Musikland Deutschland, und ich zitiere aus Ihrem Buch, gibt es fünf Millionen Laienmusiker. Es wird gesungen, gestrichen, geblasen, gezupft. 55.000 Chöre und fast 40.000 Instrumentalensembles, 84 Opernhäuser in 81 Städten. Das ist einsame Weltspitze. Warum machen Sie sich anheischig, das Musikland Deutschland verteidigen zu müssen?

Holger Noltze: Das mit der Verteidigung bereue ich jetzt schon, dass das da drauf steht. Aber gemeint ist schon, da soll man sich dann auch nicht verstecken, ich glaube, dass etwas in Gang ist, was ich als Verödung bezeichne. Also, das wird nicht abgeschafft, so schnell geht das gar nicht, aber ich erzähle Ihnen mal die Geschichte von Wuppertal.

In Wuppertal muss gespart werden. Die haben 1,8 Milliarden Schulden. Und jetzt müssen sie sparen. Sie müssen natürlich auch an der Kultur sparen. Und dann sagt man, okay, wir sparen jetzt mal gerade zwei Millionen. Das ist exakt der Schauspieletat. Und dann können wir einen Tag die Zinsen bedienen. Und dann sind alle solidarisch. Und in dem Moment kommen die Leute und sagen, wir wollen doch unser Schauspiel behalten. Also wird das Schauspiel behalten und die zwei Millionen werden verteilt auf das Gesamttheater.

Jetzt haben Sie eine Oper, die dann noch mal zwei Millionen weniger hat oder den Anteil. Und das merkt man irgendwann. Irgendwann kann man nicht mehr sparen. Und ich habe das Gefühl, dass es immer mehr Leute gibt, für die das eben nicht mehr normal oder selbstverständlich ist, dass man das hat in der Stadt, dass eine Stadt ein Stadttheater hat, wo eben manchmal fragwürdige Dinge passieren, aber wo eben Dinge passieren. Und dass das heute leichter ist, zu sagen, das ist ja nur noch für ein paar Leute und warum sollen das jetzt alle bezahlen und warum sollen jetzt die Schwimmbäder und die Kitas... – Sie kennen das alles, warum muss die Straßenbeleuchtung ausgehen, aber im Theater ist noch Licht an?

Und jetzt mal daran zu erinnern, dass so ein Theater für eine Stadt natürlich was bedeutet, und wir kennen alle diese Reden, ich will diese Reden irgendwie auch gar nicht noch mal neu machen, sondern ich frage mich: Können wir dieses Thema Kultur im öffentlichen Raum irgendwie noch mal anders buchstabieren, nämlich uns daran erinnern, dass es keine Bespaßung für einen Restbürgertum ist, das noch mal Traviata gucken will, was sie eh schon kennen, sondern dass ist ja in diesen Stücken um etwas geht und dass es tatsächlich ja eine gesellschaftliche Relevanz hat.

Und darum kreist sozusagen die Sorge: Argumentieren eigentlich die Kulturleute gut genug, smart genug gegenüber einer Kulturpolitik, gegenüber wirtschaftlichen Entwicklungen, die sie infrage stellen? Und da habe ich den Eindruck, manchmal so richtig schlau ist das nicht. Es wird nämlich immer nur gesagt, Kultur ist gut, das gehört irgendwie zu unserer Tradition. Oder es ist gut für die Bildung, es macht den Menschen irgendwie komplett.

Claus Leggewie: Kreativwirtschaft.

Holger Noltze: Kreativwirtschaft ist das andere, die Umwegrentabilität. Ich finde, die meisten dieser Argumente, die ich mir in diesem Buch einfach mal so vorknöpfe und dann mal gucke, was überzeugt mich eigentlich davon, und ich finde, diese Argumentation oft sehr schwach. Der Grund ist, glaube ich, der: Auch wir befinden uns hier in einem Theater. Wir sind eine Blase, sind alle Teil einer Blase, in der wir uns ganz wohl fühlen. Unter Musikern – es geht ja hier jetzt ganz viel um Musik – ist diese Blasenbildung besonders eklatant. Und die unangenehme Frage, was eigentlich da draußen passiert, so jenseits dieser Blase, die stellt man sich ungern.

Und dann gibt es ein großes Ding, das heißt Musikvermittlung. Das ist sozusagen der Brückenkopfbau in die Welt da draußen – zum anderen Ufer, zu den Leuten, die keine Musik kennen. Das scheint mir gelegentlich, da gab es auch noch ein anderes Buch davor, etwas unterkomplex, was da passiert. Und es sieht nicht wirklich die Probleme. – Da wollte ich mal nicht nur meckern, sondern auch ein paar Vorschläge machen, wo man denn ansetzen könnte.

Claus Leggewie: Da stehen sieben Thesen, Vorschläge bei Ihnen im Buch. Herr Goebbels, können Sie zustimmen? Machen Sie mit?


Heiner Goebbels: Ich finde das völlig richtig, dass sie argumentationsschwach ist. Ich stoße mich aber eher an einem anderen Punkt noch zusätzlich. Die Argumentation besteht sozusagen immer nur auf dem Status quo, erhalten wollen, erhalten, was ist. Und ich glaube, das ist unrealistisch und ist auch nicht auf der Höhe der Zeit. Man kann auch Theater vielleicht auf eine andere Weise strukturieren. Man kann zum Beispiel sich vom Repertoirebetrieb verabschieden und einen Ensuite-Betrieb machen.

Eine Großstadt wie Essen zum Beispiel würde das auch aushalten, wenn die Stücke dann um so besser wären, weil man sich stärker mit ihnen beschäftigen kann, weil sie besser aufgebaut werden können, weil die Schauspieler voll konzentrierter sind und nicht sieben Stücke gleichzeitig spielen müssen. – All diese Fragen werden überhaupt nicht diskutiert. Das ist etwas, was mich persönlich stört, was ich auch nicht wirklich in dem Buch gefunden habe, muss ich dazu sagen, weil ich glaube, das ist wirklich wichtig, dass wir jetzt mal diese Status-quo-Diskussion beenden, weil, die fährt alle Häuser nur weiter an die Wand. Wir müssen, glaube ich, jetzt auch mal – auch aus den Bühnenvereinen – Stimmen hören, die uns zeigen können, wie es vielleicht stattdessen gehen könnte.

Holger Noltze: Also, gar nicht dagegen. Also, ich hoffe, dass ich am Ende mitgeteilt habe, dass ich das gerne anders möchte. Ich möchte, dass das Theater nicht mehr irgendwie so ein Ort ist, der auch da ist und den man, weil man ihn kennt, gerne weiter behalten möchte, sondern dass man mit dem tatsächlich neu umgeht und gucken sollte, was der noch kann. Da sind wir dann völlig beieinander.

Ich glaube, es ist nur heikel in der Situation, in der das gerade ist, zu sagen, wir machen mal Tabula Rasa und dann gucken wir mal, was noch ist. Da hänge ich dann tatsächlich ein bisschen an der Institution. Ich möchte da gerne, dass die Leute, die da drin arbeiten, das mit einem anderen, sozusagen mit einem gestähltem Bewusstsein tun, was sie da tun.

Claus Leggewie: Ja, da scheint ein Unterschied zu sein, den wir herausarbeiten konnten.

Ich würde von Ihnen beiden gerne noch vielleicht eine zündende Idee am Schluss haben, wie man jetzt mit dem Theater weiterkommt. Die Forderungen liegen auf dem Tisch. Wir müssen es tabula-rasa-artig oder aber durch eine sensiblere Form – ein bisschen zugespitzt, das ist meine Aufgabe hier. Sagen Sie mal. Es gibt jetzt die Leute, die immer sagen, wir haben ein Riesenproblem, weil, wir müssen kürzen, sparen und sonst irgendwas. Das ist doch die Diskussion, die geführt wird. Und die ist ja nun ein unglaubliches Erpressungsargument, in dem sowohl ein Tabula Rase, auch ein modifiziertes Argument natürlich sofort umgedreht würde, ja, dann machen wir es halt zu, dann könnt ihr ja freie Szene machen.

Holger Noltze: Theater der Abwesenheit.

Claus Leggewie: Theater der Abwesenheit in einer ganz seltsamen Ironie. Haben Sie eine Idee? Sie haben ja ohnehin sieben Thesen vorgeschlagen. Sagen Sie Ihre Lieblingsthese, Herr Noltze.

Holger Noltze: Meine Lieblingsthese ist Haltungsänderung. Da kommen wir, glaube ich, auch zusammen. Also, ich bin nicht für die sensible Reform, ich bin für die radikale Reform, nämlich dieses Ding irgendwie noch mal neu zu denken, zu gucken, was wir haben, es ist ein enormer Reichtum, es zu schätzen und aus dem Gefühl heraus, dass wir hier wirklich was Sensationelles haben, was die anderen nicht haben, es sozusagen mit etwas mehr Kreativität und Entschiedenheit irgendwie auszufüllen.

Heiner Goebbels: Ich vermisse in dem Buch, und das wäre dann auch der Punkt, auf den ich setzen würde, dass die Umwandlung weil ich glaube, ich bin Institutionsskeptiker, ich glaube, dass die Häuser, die sozusagen vor 100 Jahren gebaut wurden für eine Ästhetik des 19. Jahrhunderts, für die meisten Theater und Opernhäuser gilt das so, dass die nicht die richtigen Instrumente sind, um die Ästhetik selber zu verändern. Deswegen glaube ich, dass man diese Chance, die wir zurzeit ökonomisch haben, zwangsläufig, dass wir sie nutzen müssen, um vielleicht andere Instrumente zu bauen, vielleicht Häuser umzuwandeln zum Beispiel in Labore. Warum opfert nicht jedes Bundesland ein Opernhaus, um darin Musiktheater neu zu erfinden?

Holger Noltze: Sie meinen, die Chance, kein Geld zu haben?

Heiner Goebbels: Ja.
Claus Leggewie: Wie immer gibt’s am Schluss unserer Sendung noch Literaturtipps von unseren Gästen. Herr Goebbels empfiehlt das schmale Büchlein "Borken" des Pariser Philosophen und Bildtheoretikers Georges Didi-Huberman. Warum?
Heiner Goebbels: Das ist ein befreundeter Kunsthistoriker, der mir das zugeschickt hat. Und ich habe das in einer Zugfahrt gelesen. Es lässt sich auch wirklich sehr schnell, sehr konzentriert lesen. Und es hat mich komplett umgehauen. Es ist eine Reise, die er macht nach Auschwitz-Birkenau. Und er macht dort eigene Fotos und bezieht sich auch auf Fotos, die von einem Sonderkommando 1944 gemacht wurden. Und was hier so elektrisierend und auch sehr verstörend auf ganz engem Platz und sehr poetisch dargelegt ist, ist, wie wichtig es ist, sozusagen mit genauem Blick in die Geschichte, aber auch in die Gegenwart zu gucken – wie aus diesem Ort der Barbarei ein Ort der Kultur wurde, der Erinnerungskultur, der Gedächtnispädagogik und da aber auch wieder Verleugnungen und Lügen stattfinden, wo Dinge plötzlich nicht gezeigt werden, wo Fotos beschnitten werden, in denen eigentlich genau das sichtbar wird, was die Situation so unerträglich gemacht hat. – Und dafür ist dieses Buch wunderbar.

Claus Leggewie: Herr Noltze empfiehlt von Sandra Mitchell "Komplexitäten. Warum wir erst anfangen, die Welt zu verstehen", erschienen 2008 in der Edition Unseld. Das ist auch jetzt ein wichtiger Name, der jetzt im Moment ganz bedeutsam ist. Worum geht’s da, in diesem Buch?

Holger Noltze: Lesen Sie Suhrkamp-Bücher, solange es sie noch gibt. Das war der Band 1 dieser eigentlich ganz guten Reihe. "Komplexitäten", das ist eigentlich überhaupt nicht mein Fachgebiet, das ist Wissenschaftstheorie. Und mich hat das Wort aber irgendwie bezaubert und ich habe tatsächlich was gefunden, was mir geholfen hat etwas zu verstehen, dass nämlich Gesetze, auch naturwissenschaftliche Gesetze immer nur so lange gehen, bis man ein Messinstrument hat, das noch ein bisschen genauer und differenzierter ist. Und dann ist auch klein g in Essen anders als klein g in Berlin.

Das macht aber eigentlich keine schlechte Laune, sondern es macht total gute Laune, weil, ich kann mich mit der Komplexität irgendwie eines Heiner Goebbels abends irgendwie auseinandersetzen. Und da geht auf einmal irgendwie so eine Welt auf. Und dann kann ich irgendwie ins Stadttheater gehen und sehe eine andere Komplexität. – Keiner hat die Wahrheit.

Claus Leggewie: Noch mal der Hinweis auf die beiden anderen Bücher: Heiner Goebbels, "Ästhetik der Abwesenheit", erschienen dieses Jahr im Verlag Theater der Zeit. Holger Noltzes Verteidigungsschrift "Musikland Deutschland" ist erschienen im Verlag der Bertelsmann Stiftung, auch dieses Jahr.

Das war Lesart Spezial, die politische Buchsendung von Deutschlandradio Kultur aus dem Cafe Central im Schauspiel Essen mit der Buchhandlung proust. Es verabschiedet sich Claus Leggewie und wünscht noch einen schönen Sonntag.